Winterrede Anna-Lina Müller: «Wenn wir anfangen gründlich zu denken, werden wir bewusster und stolpern nicht einfach durchs Leben» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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30. Januar 2023 um 16:20

Winterrede Anna-Lina Müller: «Wenn wir anfangen gründlich zu denken, werden wir bewusster und stolpern nicht einfach durchs Leben»

Es ist wieder soweit: Das Debattierhaus Karl der Grosse lädt zur alljährlichen Ausgabe der «Winterreden» ein. Verstummt der Glockenschlag des Grossmünsters um 18 Uhr, beginnt vom 16. bis 27. Januar 2023 eine Winterrede. Jeweils eine Persönlichkeit aus Politik, Kultur oder Kunst spricht aus dem Erkerfenster des Karls. Du hast die Winterrede verpasst? Bei uns kannst du sie nachlesen!

Die letze Winterrede stammt von Anna-Lina Müller. (Foto: Alexandra Li)

Im neuen Jahr

Grüße ich

Meine nahen und

Die fremden Freunde

Grüße die

Geliebten Toten

Grüße alle

Einsamen

Grüße die Künstler

Die mit

Worten Bildern Tönen

Mich beglücken

Grüße die

Verschollenen Engel

Grüße mich selber

Mit dem Zuruf

Mut

Mit diesem Neujahres-Zuruf und Gedicht von Rose Ausländer begrüsse ich euch alle sehr herzlich zur letzten Winterrede 2023.

Rose Ausländer, jüdisch-österreichische Lyrikerin, ruft sich also Mut zu. Sie hat es gebraucht, können wir sagen, als jüdische Frau in Rumänien während der Nazi-Zeit. Als jemand, die zuerst nach der Verhaftung vom sowjetischen Inlandsgeheimdienst mehrere Monate in Haft war, dann im Ghetto in einem Kellerversteck überlebt hat. Ja, sie brauchte Mut. Dieser Mut scheint vielen von uns wohl fern. Zu weit weg diese grausamen Zeiten für uns heute hier in Zürich, zu wenig nachfühlbar der Mut, den es braucht, um so etwas zu überleben.

Auch heute gibt es aber viele Geschichten von Mut, von enormem Mut. Ich glaube, wir dürfen fast sagen, dass das vergangene Jahr ein Jahr des besonderen Mutes war. Die Frauen in Isfahan und Zahedan, die sich den Schleier vom Kopf reissen und auf den Strassen tanzen. Sie riskieren damit Gefängnis, Folter und Hinrichtung. Die ukrainischen Soldat:innen, die nun seit rund einem Jahr ihr Land, ihre Städte und Dörfer gegen russische Truppen verteidigen. Die Chines:innen, die weisse Blätter Papier hochhalten, ein stummer Protest während einer Nacht. Es lässt sich kaum ahnen, wie viel Mut für die Freiheit zu kämpfen sich in diesen Bildern zeigt, wie viel Empörung, Angst aber auch wie viel Glück trotz Krieg, Kälte, Hunger und aller Verzweiflung.

Seit Jahren sehen wir die Demokratie in einer Phase der Rezession. Insbesondere im Westen, in Ungarn, in Polen, in den Vereinigten Staaten, haben wir den Eindruck, als lebe die Zukunft für das Autoritäre. Und doch sehen sich scheinbar plötzlich drei der schlimmsten autokratischen Staaten der Gegenwart mit einem unerwarteten Widerstand konfrontiert: Menschen, die den Mut haben, für Demokratie und Freiheit aufzustehen, ja sogar ihr Leben aufs Spiel zu setzen.

Wie das alles ausgeht, ist schwer zu sagen, wir sind mittendrin. Und doch scheint eines sicher: «Mut, und sei es der Mut aus purer Verzweiflung, ist eine unerschöpfliche menschliche Ressource. In den Schützengräben des Donbass ebenso wie auf den Strassen von Teheran oder Shanghai.»

Auch wenn er vermeintlich unerschöpflich daherkommt: Ein solcher Mut scheint vielen unter uns, hier, wohl doch eher fremd. Er berührt uns. Wir bewundern ihn möglicherweise. Verfolgen die Bilder und Geschichten. Aber dennoch ist er irgendwie weit weg von uns heute Abend mit unserem Glas (Glüh-)Wein, hier vor dem «Karl» oder zu Hause in warmen Stuben. In der Schweiz als Insel des Friedens und des Wohlstands. Wofür sollen wir denn Mut aufbringen? Für die Abschaffung der Neutralität? Für einen Schritt auf die EU zu? Dafür, einen veganen Burger statt Rindersteak auszuprobieren?

Die letzte Winterrede vom Freitag im «Karl der Grosse» (Foto: Alexandra Li)

Vielleicht nicht. Aber wir leben in Zeiten einer Krisenkrise: Klimakrise, EU-Krise, Sicherheitskrise, Energiekrise, Wirtschaftskrise, Gesundheitskrise, Flüchtlingskrise, Bankenkrise. Krise um Krise kommt fortlaufend über uns. Gleichzeitig sprechen wir mehr über- als miteinander. Wir verkriechen uns in der eigenen Blase und hinter einem Schweigen über Geld, Löhne und unsere persönlichen Abstimmungsentscheide. Ob insgeheim oder ganz offen: Immer mehr von uns fühlen sich in einem Käfig aus gesellschaftlichen Erwartungen und Selbstoptimierung gefangen. Setzen sich selbst unter Druck, sind unglücklich. Wir sollten Karriere machen, neue Aufgaben schon perfekt beherrschen, immer erreichbar sein, die Gemüsebrühe aber selber kochen, Fitness in den Alltag integrieren und einen Freundeskreis von mindestens 50 Personen haben.

Am besten sollten wir eine Idealform aus Amal Clooneys Aussehen und Tanja Grandits’ Bewusstsein sein. Permanent «sollen» wir etwas um jemand zu sein, um als erfolgreich zu gelten. Die Gegenwart und ihre Ansprüche scheinen uns vollständig zu bestimmen, und die Zukunft wartet als düstere Wolke am Horizont.

Genau deswegen brauchen auch wir Mut – und zwar Mut, unsere Gegenwart und Zukunft als Gesellschaft, als Miteinander und als Individuum aktiv zu gestalten, mitzugestalten, umzugestalten und auch mal «nein» zu sagen zu all den Ansprüchen. Denn auch wenn wir den deprimierenden Eindruck gewinnen könnten, dass die Gegenwart und Zukunft schon festgelegt sind – sie sind es nicht. Ein verändertes Klima, künstliche Intelligenz, eine neue Sicherheitsarchitektur, bestimmte gesellschaftliche Vorstellungen: all dies wird Teil unserer Zukunft sein Aber: Wie wir als Gesellschaft den Umgang damit gestalten, ist offen. «Die Zukunft ist verstellt, verdreht und verrückt.» Aber gemacht? Nein.

Daher brauchen wir Mut, um uns der Zukunft in all ihrer Undefiniertheit und mit Ehrlichkeit zu stellen – als Individuum und als Gesellschaft. Was könnte denn nun, in Angesicht all dessen, «Mut» heissen für uns, die wir hier sind? «Mut» heisst für uns aktuell glücklicherweise nicht, in den Krieg zu ziehen oder in einer Diktatur aufzustehen. Als erstes heisst es aber, selbstständig zu denken.

«Keiner hat das Recht zu gehorchen», sagte Hannah Arendt. Ich glaube, wir können von ihr lernen, was es heisst und was möglich ist, wenn wir mutig denken: (nämlich) Wenn wir uns auf unsere Zeit, auf die Probleme unserer Zeit einlassen, sie zu verstehen versuchen, selbstständig denken, hinschauen und die Dinge beim Namen nennen. Wenn wir uns nicht nur in Träume flüchten und lediglich denken, dass es schön wäre, wenn alles anders wäre, sondern tatsächlich in der Welt anfangen, in der wir leben. Weshalb schaffen wir es als Gesamtgesellschaft nicht, dem Klimawandel entgegenzutreten? Worauf wurzelt unsere Polarisierung? Woher genau kommt der gesellschaftliche Druck eines erfolgreichen Lebens? Dieser Versuch zu verstehen und selbstständig zu denken ist unsere Orientierungskraft und Kompass in der Welt. Wenn wir anfangen gründlich zu denken, werden wir bewusster und stolpern nicht einfach durchs Leben. Wenn ich mich wirklich auf das Denken einlasse, mein eigenes und auch das von anderen, dann kann ich hinterher nicht sagen, dass ich das nicht so gemeint habe oder es anders wollte. Man kann denken und Gedanken nicht im selben Sinne zurücknehmen, wie man sich dafür entschuldigen kann, jemandem aus Versehen angerempelt zu haben. Dem Denken entspringt Verantwortung, und Verantwortung braucht Mut. Mut heisst zweitens auch, anderen zuzuhören.

Dass wir nicht nur im eigenen Silo denken und uns mit Gleichgesinnten umgeben, sondern Mut zum Unangenehmen haben: Nämlich aufrichtig zuzuhören und andere Perspektiven zuzulassen. Unsere Welt, unsere Demokratie entsteht nur dadurch, dass es unterschiedliche Perspektiven gibt und dass Zwischenräume entstehen, also Räume zwischen den Menschen. Das ist Demokratie. Das heisst, nur weil Menschen verschieden sind, weil es Zwischenräume gibt, kann Demokratie bestehen. Unsere Welt, unsere Demokratie gäbe es nicht, wenn es keine Verschiedenheit der Perspektiven in diesem gemeinsamen Bezugssystem der Zwischenräume gäbe. Wir erleben heute (aber) einen Verlust eines gemeinsamen Bezugssystems, der sich in der Rede von den alternativen Fakten, von Filterblasen und dem Wort «Lügenpresse» manifestiert, mit dem zum Ausdruck gebracht wird, dass man nur denen gedenkt Glauben zu schenken, welche die eigene Weltanschauung auch bestätigen.

Zuhören, andere Perspektiven annehmen, ihnen offen entgegenhalten; aber auch eigene Irrtümer anerkennen, sie reflektieren, die eigene Haltung revidieren, wenn man falsch liegt, schliesslich die Hand reichen:

Das braucht Mut.

Mut heisst drittens denn auch, hoffnungsvoll zu gestalten, ein Stück weit biblische Davids zu werden und Goliaths und vermeintliche Herkulesaufgaben nicht bereits im Vorhinein zu scheuen. Oder in den Worten von Jean Cocteau: “Er wusste nicht, dass es unmöglich war, deshalb tat er es.»

Viel zu oft ruhen wir uns auf der Ausrede aus, dass etwas ohnehin nicht gehe oder nicht veränderbar sei; wie oft haben wir Angst vor der Frustration und davor, dass es weh tut, wenn es nicht funktioniert, der Plan nicht aufgeht. Mut kann weh tun. Menschen etwa, die beispielsweise Teil des Arabischen Frühlings waren, haben das in extremer Art und Weise erlebt. Wir können allen Mut aufbringen, uns rauswagen und trotzdem scheitern.

Aber wie Vaclav Havel einmal sagte: «Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.»

Dieser Mut zu hoffen und diese Hoffnung zu gestalten heisst des Weiteren auch, keine Angst davor zu haben, uns unsere wünschenswerten Zukünfte (überhaupt mal) vorzustellen, uns aus unseren Alltagsschräubchen hinauszuwagen und zu fragen: Wo möchten wir eigentlich hin? Wie möchten wir uns in unserer Gesellschaft begegnen, wie zusammenleben – in der Schweiz und in unserer Welt? Welche Rolle soll die Schweiz in dieser Welt wahrnehmen? Und letztlich: Was wünschen wir zu sehen, wenn wir auf unser eigenes Leben zurückblicken? Ohne Utopien der Zukunft leben wir – als Individuum und als Gesellschaft – in einem Zustand fortwährender Depression. Mut also zur Imagination alternativer Zukünfte!

Mut hört aber nicht beim Denken auf. Die Frage, wie wir diese wünschenswerten Zukünfte erreichen und vermeidenswerte verhindern, ist eine entscheidende. Zukünfte waren noch nie linear und auch noch nie vorherbestimmt. Sie also zu gestalten, gibt uns die Möglichkeit, unsere inneren Leitbilder und Denkweisen erfolgreich in die Welt zu bringen. Denken wir an die vielen Mutigen, die auf hoher See Menschen aus sinkenden Schlepperbooten retten. Die demonstrieren und den Braunkohlebergbau blockieren. Die sich von ihren Computern aus in die Systeme autoritärer Staaten einschleusen und der Öffentlichkeit bisher Verschlossenes sichtbar machen. Aber auch die im Alltag “Nein” sagen zu gesellschaftlichen Konventionen und sich Erwartungen des Umfelds widersetzen. Die Welt und unsere Weiterentwicklung im positiven Sinne leben von mutigen Zeitgenoss:innen.

Wir brauchen die Mutigen.

Und was macht diese Mutigen aus? Nicht unbedingt ein gutes, angepasstes Betragen. Man muss sie nicht mögen. Mutig sein heisst, ein Bewusstsein, eine Idee von sich selbst als Mensch zu haben - was man ist, sein will und sein kann. Wir alle haben Stärken, die wir uns selber vielleicht nicht zutrauen. Und wir alle sind auch noch jemand, wenn wir einmal nicht erfolgreich sind. Wir haben Werte, Ideen und Zukunftsvisionen, die es gilt, in die Politik und Gesellschaft einzubringen. Wenn wir unsere Wahrnehmung und unser Denken über die Welt verändern, verändern wir unsere Welt. Dasselbe gilt für die Zukunft. Und so tragen Menschen mit Mut, wir als mutige Menschen den “Horizont des Morgengrauens in uns: Die positive Zuversicht, dass die Welt zukünftig ein besserer, menschlicherer Ort werden kann, das Sich-selbst-Zutrauen, das Vertrauen in die Idee und das Vertrauen all jener, die sich uns anschliessen” - trotz kleiner Wahrscheinlichkeit und entgegen allen Risikoberechnungen.

Das braucht Mut.

Anna-Lina Müller an ihrer Winterrede im «Karl der Grosse» (Fotot: Alexandra Li)

Wir müssen nicht Selenskyjs in Kiew, Jina Mahsa Aminis im Iran oder Nawalnys in den Kerkern Russlands werden, um mutig zu sein. Mut brüllt nicht immer nur. Mut kann auch eine leise Stimme haben. Mut kann bedeuten, selbstständig zu denken und verstehen zu wollen, sich hinzusetzen und zuzuhören. Mut kann bedeuten, es nicht zu glauben, wenn alle sagen “es geht nun einmal nicht” und es einfach zu probieren. Und Mut kann bedeuten, “Nein” zu sagen, auch gerade wenn es unangenehm ist. Dieser Mut ist kein Luxusgut – wir haben als Individuen und als Gesellschaft eine Verantwortung dazu, wenn wir eine gemeinsame Zukunft gestalten möchten, die wünschenswert ist. Dieser Mut fliegt uns nicht zu, dieser Mut ist Arbeit. Diesen Mut können wir üben und wir können ihn von anderen lernen! Und so wünsche ich uns, dass wir nächstes Jahr an den Winterreden wieder hier stehen und uns Geschichten des grossen und kleinen Mutes erzählen können.

Geschichten, in denen…

Wir fragen, uns hinterfragen

Wir den Mut haben, Dinge nicht zu wissen

Wir uns selber kennenlernen, ohne uns anzulügen

Wir Unangenehmes versuchen zu verstehen

Wir hinschauen und draufzeigen

Wir uns zuhören und aneinander reiben

Wir uns unsere Zukünfte malen

Wir die Schritte gehen, diese umzusetzen

Wir den Mut haben, «Ja» zu sagen zu Dingen, die wir uns nicht zutrauen

Wir anderen etwas zutrauen

Wir versuchen, auch wenn alle sagen “es geht nicht”

Wir den Mut haben, auch enttäuscht und frustriert zu sein

Und die Feinheit dazu spüren, den Zuspruch zum Mut zu bemerken, den wir uns alle geben und indem wir nicht alleine sind

Denn wie Rose Ausländer so schön einst sagte:

Manchmal spricht ein Baum

Durch das Fenster mir Mut zu

Manchmal leuchtet ein Buch

Als Stern auf meinem Himmel

Manchmal ein Mensch

Den ich nicht kenne,

Der meine Worte erkennt.

Ich wünsche uns diese Feinheit heute Abend, morgen und immer wieder. Herzlichen Dank.

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