Wie wir nach drei Stunden aus der Sihlpost rausgeworfen wurden - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Benjamin von Wyl

Journalist

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20. Mai 2016 um 14:58

Wie wir nach drei Stunden aus der Sihlpost rausgeworfen wurden



Ich war schon oft in der Sihlpost. Manchmal vergesse ich, dass es in Zürich auch andere Poststellen gibt. Die Sihlpost ist einfach ein sicherer Wert: Man muss keine Öffnungszeiten googeln – eigentlich muss man nicht mal wissen, was für ein Wochentag ist. Wirklich bewusst wahrgenommen habe ich die Sihlpost aber erst an einem Abend Anfang März. Der Fotograf (ein inniger Freund!) und ich trafen uns da, da sie etwa in der Mitte zwischen unseren jeweiligen Wirk-/Vegetierorten liegt. Ich musste noch ein Dossier abschicken. Wir verbrachten dann über eine Stunde in der Schalterhalle: Erst fehlten mir Dokumente, die der Fotograf in sein Atelier ausdrucken ging, dann hab ich meine Nummer verpasst, dann musste alles nochmals neu gelocht werden (zum Glück liegen die dort kaufbar aus und es fällt im Feierabend-Gewusel nicht auf, wenn man sich einen Locher nimmt und ihn wieder zurücklegt).

Als unser Alltagspuls mal unten war, war das eine sehr schöne Stunde: Wir trafen Menschen, die wir kannten, wir sahen Anzugsträger, Leute, die der Heizung wegen kamen und einen überaus kurrligen älteren Herrn, der einen Pamir, einen Militärgehörschutz, aufhatte und einen riesigen Alukoffer mit sich trug. «Gönd emol do wäg, i bruch e chli früschi Luft!» Als Kenner der örtlichen Gegebenheiten wusste er, welche Fenster sich öffnen liessen und welche nicht.
(zvg)
An diesem Abend zeichneten wir uns die Sihlpost als Z.H. Crash, als Clashort zwischen Kreisen und Szenen, Pendlern und Bewohnern – Bewohner der Postfiliale und der Stadt! Was würden wir erleben, wenn wir einen Feiertag hier verbrächten? Wenn alle anderen Poststellen geschlossen sind und die Menschen Zeit haben?

Am Pfingstmontag öffnet die Sihlpost um 10 Uhr. Wir wollen bis 22.30 bleiben, dementsprechend unausgeschlafen sind wir. Vor beiden Eingängen warten um die 15 bis 20 Postkunden darauf, dass die Türen geöffnet werden. Drei Zeugen Jehovas warten auf Gesprächspartner und das jüngste Gericht. Bald warten die 30 bis 40 Postkunden drinnen auf die Erfüllung ihrer Service Public-Bedürfnisse. Junge, Dicke, Alte, Familien mit Rucksäcken und stark geschminkte Blondinen, die aus einem direkt vor dem Eingang geparkten Offroader mit Schwyzer Kennzeichen steigen. Sie ziehen ihre Nümmerchen und die Anzeige mit der Wartezeit kommt fast gar nicht mit, bis sie um 10.21 21 Minuten anzeigt. 21 Minuten, zwischen dem Druck der Nummer und der Anzeige der Nummer in roten Digitalziffern. Putzmaschinen brummen durch die Schalterhalle.

Um 10.17 habe ich bereits eine fremde Bankkarte in der Hand. Ein glatzköpfiger Herr möchte einen Plastiksack voll Münz am Postomat einzahlen. Weder ich noch die danebenstehende Frau um die 50 können was daran ändern, dass der Postomat nur die Option «Einzahlung Noten Schweizer Franken» anbietet. Als der Glatzkopf mit vollem Sack abzieht, entweicht ihr ein «Phöö».
(zvg)
Der Fotograf und ich schleichen durch die Gänge mit den Verkaufsauslagen. Über Handys, Elektrokram und Malbüchlein kleben Magnete mit der Aufschrift «Diese Produkte dürfen wir Ihnen sonntags leider nicht verkaufen». Wartende greifen sich Zehner-Bünde mit Briefumschlägen oder Etiketten-Sachets, reissen sie auf und verwenden sie. In der Post ist üblich, was in der Migros doch eher ein Normbruch ist: Verwenden vor dem Zahlen. Ob auch die Puzzles mit Murmeltier-Motiv, die auf einem Wühltisch liegen, an Feiertagen unverkäuflich sind, bleibt unklar. Sie wären jedenfalls ein toller Zeitvertreib, falls uns später langweilig wird. Doch vorerst – langsam können wir richtig aufnehmen – packt uns die Orchesterpartitur aus brummenden Raumgeräuschen, dem piepsenden Postomat, mehr oder weniger gleichgetakteten Schritten (alle Kunden haben in etwa dieselben Wege), Eltern, die Kleinkindern vorlesen und Kleinkinder, die dazwischenglucksen. Wann immer es zu gleichförmig wird, kommt von irgendwo ein Reggaeton-Klingelton her. «Jo, du me müend e Zug spötr näh, es zeigt grad no 19 Minute Warteziit ah.»
«Erleben und geniessen» steht in Postschrift auf Postgelb über einigen Regalen.
Dieses komplexe Konzert kann man hören und sehen. Draussen verschieben die Zeugen Jehovas jede halbe Stunde ihr Propagandaplätzchen um etwa zehn Meter, ein Mann mit Bierdose und einem Rucksack, an dem Asiafood-Kartons mit einer Schnur befestigt sind, kommt mindestens ebenso oft für ein paar Minuten rein. Und immer schiebt mindestens eine Frau um die 30 einen bis fünf Zalando-Kartons über den frisch geputzten Boden. Eine Gesetzmässigkeit, anscheinend. Es tut direkt weh, dass dieses heteronormative Klischee erfüllt wird und unsere kindliche Freude daran, sorgt auch für die erste Konfrontation mit einer Postbeamten.
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Kurz vor dem Mittagspeak um 11.24 ziehen wir uns eine Nummer. 33 Minuten Wartezeit. Wir lesen die Titel auf den Buchumschlägen der Wartenden «Voll abgefahren! Die krassesten Hobbys der Welt», Krimis von Robert Harris und unser Favorit «Männerpolitur – so möbeln Sie Ihren Partner auf». Die erwartete Wartezeit (höhö) steigt bis 11.33 auf 35 Minuten; bis wir drankommen fällt sie nicht mehr unter 30. Obwohl ich eigentlich mein Wahlcouvert abgeben und meine Krankenkasse bezahlen sollte, fragen wir die Frau am Schalter nur, ob wir Kaugummi kaufen können. Aber Esswaren darf die Post nicht mehr verkaufen. Hinter ihr warten beigenweise Zalando-Kartons auf die Heimreise ins Lager. Der Fotograf fragt, ob er von den Zalando-Türmen ein Foto machen dürfe. «Nei, das isch leider nid erlaubt. Es isch überhaupt nid erlaubt Fotis i de Poscht z mache. Ohni Bewilligung.» Natürlich verstehen wir das. Natürlich bekräftigen wir, dass wir bisher keine Fotos geschossen haben. Zurück an unserem Rastplätzli beim Postomat sind wir aber weiterhin überzeugt, nicht aufzufallen. So viele Wartende. Der Fotograf geht kurz raus, zum Bahnhof, Kaugummis kaufen. Die Zalando-Kartons bewegen sich weiterhin verlässlich durch den Raum und ich tippe gerade auf meinem Handy rum, als mich eine schüchterne Frau im Posttenue fragt, ob ich Fotos geschossen habe. Ich verneine. «Und din Kolleg au nöd?» «Höchschtens mol de Bode zums Objektiv teschte.» «Es isch ebe verbote, Fotis zmache.» Das wisse ich.

Ich geh raus, eins rauchen, zähle die Schmeissfliegen, die sich in einem verstaubten Spinnennetz am Fenster verfangen haben. Der Typ mit den baumelnden Asiafood-Kartons kommt zurück, der Fotograf ebenso. Die Zeugen Jehovas seh ich nirgends mehr. Drinnen lesen wir uns durch die Grusskartensprüche. In einem davon erkennen wir uns wieder: «Schildkröten können mehr vom Weg erzählen als Hasen – aus China». Deshalb sind wir, deshalb wollen wir zwölf Stunden bleiben.
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Wir finden in einem Trainerhosen-Typen mit zusammengebundenen Haaren, einer schrägen Kopfhaltung und einem gefälschten (?) und zerfetzten Louis Vuitton-Täschchen einen Glaubensbruder: «Unglaublich, die Sihlposcht! Unglaublich, süsch hed hüt nur d Poscht am Flughafe offe. Döt wirds au d Höll sii. Nur vier Schalter, Gott! Und a anderne Täg chasch am halbi 7ni am Morge do härecho, z Schliere maches nid vorem 9ni uf! Z Dietike ischs echli besser.» Er erzählt uns noch alles über den Umbau der Sihlpost und von seinen Erfahrungen in den Postfilialen zwischen hier und Beznau, bevor seine Nummer angezeigt wird und er zum Schalter schlurft.


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Um 12.36 werden zum ersten Mal die Papierbündel in den Nummerzieh-Maschinen ausgewechselt. Zu diesem Zeitpunkt haben schon 376 Leute 376 Nummern gezogen. Zum ersten Mal finden wir zwei freie Stühle und setzen uns. So können wir noch entspannter beobachten und Unterstellungen machen. Wir entscheiden, wer bereits einen Kurs in Naturfotografie belegt hat, wer nur mit Wildkräutern kocht, sehen einer grauhaarigen Frau zu, wie sie sämtliche Gesichtsmuskeln anspannt, um einen Apfelsaft mit grösstmöglichem Vakuum aus dem Tetrapak zu saugen. Überhaupt gibt es relativ viele Menschen, die sich in der Schalterhalle verpflegen: Burger, Sandwichs und so weiter. Obwohl am Pfingstmontag eigentlich niemand durch knappe Mittagspausen getaktet sein sollte und draussen die Sonne scheint. Es kaut und schlürft und schnuddert von überall.
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Wir schauen geistesabwesend an die Decke, ins kalte Licht von oben, unterhalten uns darüber, dass wir die Halle langsam gar nicht mehr als anderen Ort wahrnehmen, sondern als «Aufenthaltsraum» ohne jeden Euphemismus, als unseren Raum. Wir sind langsam echte Schildkröten, konzentriert und gelassen. Eine ältere Postbeamte eilt auf uns zu. Ob wir Fotos gemacht haben? Natürlich nicht. Ob wir auf jemanden warten? Nein, wir möchten einfach mal schauen, wie das so ist, in der Sihlpost. Ob wir Psychologie studieren? Ich verneine und labere was davon, dass wir erforschen, wie sich Menschen an heterotopischen Orten begegnen...äh... für unser performatives Designprojekt. Das überzeugt sie anscheinend, aber: «Ihr schiined jo meganätt z sii und villicht hät au z erscht öpper vo de Schalterhalle mit euch sölle rede, statt grad mich z hole, aber me weiss jo nie, es giht jo au immer Gepäck, wo umeliegt und es sind scho alli ganz ufgwüehlt... Ihr gsähnd jo würkli meganätt us, aber jo zum do sii bruchts e Bewilligung, e Bewilligung im voruus.» Sie gibt uns drei Telefonnummern, bei denen wir uns wegen einer Aufenthaltserlaubnis melden können. Dann klar und förmlich: «Sie müend jtz go.»

Die roten Digitalziffern bilden die Nummer 464. Wir sehen noch den ersten Karton von Voegele Shoes bis dato und verlassen die Sihlpost. Wir sind etwas orientierungslos. Was wollen wir jetzt machen? Wo wollen wir hin? Es ist 13.04. Ich habe nicht mal meine Krankenkasse bezahlt.

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