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Wie Mikroaggressionen «racial stress» verursachen

Vor zwei Jahren stand Gastautorin Samira El-Maawi in einem Secondhandgeschäft und schaute sich die silbernen Creolen in der Vitrine an. Sie mag es, in Secondhandläden einzukaufen, weil auch Dinge, so wie wir Menschen, eine Geschichte mit sich tragen. Einige Sekunden später sie an einen Teil ihrer Geschichte erinnert, an eine Wunde, die nicht verheilt ist.

Rassismus ist auch in Zürich ein Problem, hier ein Bild der Black Lives Matter Demonstration. (Fotos: Laura Kaufmann)

Samira El-Maawi, freischaffende Autorin, Schreibcoach, bietet Schreib-/Textwerkstätten an und ist Psychosoziale Beraterin i.A.

«Behalte sie im Auge, sie könnte etwas klauen», hörte ich die eine Verkäuferin der anderen zuflüstern. Wie immer in solchen Situationen meinte ich, ich hätte nicht richtig gehört. Doch dieses Mal dachte ich das nur für einen Augenblick. Früher wäre ich mir sicher gewesen, dass ich mich täusche, aber der Klang des Zweifels, dass die Verkäuferin es genau so gemeint hatte, hätte mich tagelang begleitet. Ich hätte mich unsicher gefühlt, kleiner als die anderen, nicht mehr verbunden. Doch mitgeteilt hätte ich es niemanden, denn zu oft habe ich erfahren, wie mir die Menschen in meinem Umfeld solche Erfahrungen absprachen und fanden, dass ich einfach zu sensibel reagiere und Rassismus sehe, wo keiner sei.

Doch hier war ich mir sicher, dass ich richtig gehört hatte, und wie auch immer es die Verkäuferin gemeint hat, meine körperliche Reaktion – ein inneres Zittern und ein Druck auf der Brust – erinnerte mich an all die offensichtlichen und subtilen rassistischen Erfahrungen in meinem Leben. Ich fiel in einen regredierten Zustand, bei dem ich mich wie damals fühlte. Damals, als kleines Schwarzes Mädchen*, das in der Schweiz geboren und aufgewachsen ist, eine braune Hautfarbe und einen Elternteil mit Migrationsgeschichte hat.

Diesem Mädchen wurde dauernd ungefragt in die Haare gegriffen, es wurde gelobt für sein gutes Schweizerdeutsch und gefragt, woher es denn sei. So oft wurde ich das gefragt, dass ich eines Tages selber anfing, mich zu fragen, woher ich denn wirklich bin. Ich begann, meine Identität immer stärker anzuzweifeln, und fühlte mich nicht mehr zugehörig. Je älter ich wurde, desto mehr häuften sich die verstörenden Bemerkungen bis hin zu «Geh dahin zurück, woher du gekommen bist» während einer Polizeikontrolle und dem «N-Wort», mit dem mich einige Jugendliche in der Schule bezeichneten. Mittlerweile weiss ich, dass es für diese Erfahrungen eine Bezeichnung gibt: Mikroaggression.

Ein Begriff für die alltägliche Kommunikation, die als ausgrenzend und übergriffig wahrgenommen wird. Er wurde in den 1970er-Jahren vom US-amerikanischen Psychiater und Harvard-Professor Chester M. Pierce geprägt. Mittlerweile wird er im Zusammenhang mit Menschen verwendet, die zum Beispiel wegen ihrer sexuellen Orientierung, Behinderung oder ihres Geschlechts Diskriminierungen erleben. In diesem Text spreche ich von racial microaggression, von rassistischer Mikroaggression. 

«So oft wurde ich gefragt, woher ich komme, dass ich mich eines Tages selber hinterfragte, woher ich denn wirklich bin.»

Samira El-Maawi

Psychologieprofessor Derald Wing Sue von der Columbia University unterscheidet verschiedene Formen von Mikroaggression:

  1. Mikroangriffe: Ein Mikroangriff ist ein ausdrücklicher und von den Angreifer:innen gewollter verbaler oder nonverbaler Angriff, um die angegriffene Person herabzusetzen oder zu verletzen, er bleibt aber unter der Schwelle offen rassistischer Äusserungen oder Gewalttaten.

  2. Mikrobeleidigungen: Mikrobeleidigungen sind Äusserungen, die sich durch Grobheit und mangelnde Sensibilität gegenüber der Herkunft oder Identität der angegriffenen Person auszeichnen. Es handelt sich dabei um subtile Formen der Herabsetzung, die den Angreifenden nicht einmal bewusst sein müssen, aber deren Vorurteile aufdecken.

  3. Mikroentwertungen: Als Mikroentwertungen werden Ausdrucksformen bezeichnet, die Gedanken, Gefühle oder Wahrnehmungen der dadurch angegriffenen Person ignorieren, ausschliessen oder herabsetzen. 

Beispiele für Mikroangriffe sind etwa die Abwertung oder das Lächerlichmachen von Äusserungen, man wird ignoriert. Eine Mikrobeleidigung liegt vor, wenn zum Beispiel nachgefragt wird, ob «die Eltern überhaupt lesen können». Ein Beispiel für eine Mikroentwertung ist das wiederholte Nachfragen nach der Herkunft einer Person, auch wenn diese bereits gesagt hat, sie sei aus der Schweiz.

Wenn einem die Zugehörigkeit abgesprochen wird

Mikroaggressionen hören sich im Einzelnen vielleicht harmlos an. Kumulieren sich diese Aussagen aber, kann dies bei den betroffenen Personen zu anhaltendem Stress bis hin zu Erschöpfungszuständen führen. Das Gefühl, als «anders» wahrgenommen zu werden, Ausgrenzung zu erleben, ist zermürbend und auch kräfteraubend, hat Rassismus doch stark mit dem Absprechen der Zugehörigkeit zu tun. 

Im Gegensatz zu offensichtlichem Rassismus sind Mikroaggressionen subtil, sie sind meistens verdeckt und nicht klar erkennbar. Ich denke, sie werden bewusst oder auch unbewusst gesendet. Dies macht es so schwierig, darüber zu reden. Oftmals werden sie negiert oder abgewehrt, was wiederum zur Folge hat, dass die erlebte Demütigung und Ausgrenzung nicht ernst genommen wird und die Wahrnehmungen der Betroffenen in Frage gestellt werden – der Fachbegriff dafür ist racial gaslighting, eine Form psychischer Gewalt, bei der das Gegenüber gezielt manipuliert und verunsichert wird und seine Wahrnehmung in Frage gestellt wird. Dies bedeutet erneuten psychischen Stress.

«Mikroaggressionen werden bewusst oder auch unbewusst gesendet. Das macht es so schwierig, darüber zu reden.»

Samira El-Maawi

Dr. med. Amma Yeboah, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Trainerin für Empowerment, schreibt in ihrem Essay «Rassismus und psychische Gesundheit in Deutschland»: «Studien haben nachgewiesen, dass wiederkehrende Konfrontationen mit racial microaggressions Stressreaktionen aktivieren und die Entstehung von Depression, Angststörungen und der physischen Desintegration bei Schwarzen und PoC begünstigen.» Und Tupoka Ogette, Expertin für Vielfalt und Anti-Diskriminierung, schreibt in ihrem Bestseller «Exit racism»: «Eine der (Lebens-)Aufgabe für Schwarze Menschen und People of Color* ist – meiner Ansicht nach –, für sich den weissen Blick* zu dekonstruieren. Schwarze Menschen und People of Color werden in eine Welt hineingeboren, die ihnen sagt, wer sie sind, bevor sie selbst eine Möglichkeit hatten, herauszufinden, wer sie sind.»

Seit ich mich mit Rassismus beschäftige, sind meine Reaktionen auf den erlebten offensichtlichen wie auch auf den subtilen Rassismus für mich nachvollziehbar geworden. Meine frühere Bewältigungsstrategie bzw. mein Abwehrmechanismus war, meine Wut und Enttäuschung gegen mich zu richten. Ich schämte mich, machte mich klein, zweifelte an mir und an meiner Wahrnehmung. Jetzt kann ich das langsam auflösen. Dies ist sicherlich auch der zunehmenden gesellschaftlichen Sensibilisierung zu verdanken. Spätestens seit Sommer 2020 wird Rassismus in der Gesellschaft offener thematisiert und es erscheint viel mehr Literatur von Schwarzen, PoC und Menschen mit Migrationsgeschichte. In Filmen sind mehr Schwarze Hauptfiguren zu sehen, Antirassismus-Trainer:innen sensibilisieren mit ihrer Arbeit Firmen und Institutionen. Das Gefühl, nicht allein zu sein, ist stärker geworden. Das Gefühl, wütend und traurig sein zu dürfen, ist für mich legitim geworden.

Nach dem Erlebnis im Secondhandgeschäft wurde mir aufgrund meiner körperlichen Reaktion erstmals die Dimension bzw. die psychische Auswirkung meiner rassistischen Erlebnisse bewusst. Fortan summierten sich Aha-Erlebnisse. Zum Beispiel, als ich auf dem Instagram-Profil von Mäks Roßmöller, systemic therapist und nonbinary fat activist, den folgenden Post las: «Biete Weiterbildungsangebot ‘Geschlecht in der therapeutischen Praxis’ für Berater_innen, Therapeut_innen Sozialarbeiter_innen, denn therapeutische Sitzungen mit Betroffenen sind keine Fortbildungseinheiten für Therapeut_innen!»

Letzterer Satz rief mir schlagartig ins Bewusstsein, was mir vor einigen Jahren als Klientin in einer Therapiesitzung selber geschehen war. Damals erwähnte ich, wie ich als Kind Rassismus erlebt hatte, worauf die weisse Therapeutin das Thema sofort runterspielte und postwendend von eigenen Diskriminierungserfahrungen erzählte. Ausserdem wurde ich mit weissen Kindern verglichen, die gemäss der Therapeutin auch wegen irgendetwas, zum Beispiel wegen ihres Körpergewichts oder wegen ihrer roten Haare, Diskriminierung erleben würden. Ich war getriggert und wurde emotional. Da ich mich damals aber schon mit Rassismus beschäftigte, konnte ich recht schnell aus den Emotionen in die Sachlichkeit kommen und so auch meine Reaktion (er)klären. Dies setzte voraus, dass ich die Klientinnen-Rolle verliess, und so wurde die Therapiestunde eine Aufklärungs-/Diskussionsrunde, in der ich aktiv über Rassismus sprach. Die Therapeutin entschuldigte sich bei mir und reflektierte auch ihre Reaktion. Später schickte ich ihr, auf ihr Interesse hin, das Buch «Exit racism». 

Weil ich selber in einer Ausbildung zur psychologischen Beraterin bin, treibt mich die Frage um, ob Rassismus nicht fester Bestandteil der psychotherapeutischen Ausbildung sein sollte. Denn, so sagt Lucia Murìel, Psychotherapeutin, in einem Interview: «Psychotherapeutische Praxen sind am Ende nichts anderes als Räume dieser Gesellschaft.» Diese Aussage finde ich sehr treffend.

So gesehen, kommen Berater:innen, Psychotherapeut:innen, Psychiater:innen und Psycholog:innen nicht daran vorbei, sich ein Wissen über gesellschaftsrelevante Themen anzueignen, sei es Rassismus, Migration oder LGBTQIA+ Themen etc. Unterschiedliche Formen von Diskriminierung und Unterdrückung haben klar physische wie psychischen Folgen. Psychotherapeutische Praxen sollten Schutz und Unterstützung bieten und nicht retraumatisieren. 

Dr. med. Amma Yeboah schreibt: «Die Erfahrung, sich als Menschen gegenseitig zu erkennen und anzuerkennen, ist eine absolute Notwendigkeit für das Leben.» Das heisst, geschützte Räume sind für Schwarze Personen und PoC sehr wichtig, um über ihre Erfahrung innerhalb der weissdominierten Gesellschaft reden zu können. Es brauche empathische Gegenüber sowie auch den Austausch innerhalb einer eigenen Gruppe. Dies, damit ihre erlebte Realität von der Gesellschaft anerkannt und nicht als individuelle Einzelerfahrung abgetan wird. 

Dr. med. Amma Yeboah schreibt weiter: «Weisse Therapeut:innen werden in diesem Zusammenhang dringend eingeladen, sich bezüglich ihrer eigenen Prägung im rassistischen System zu sensibilisieren und positionieren.»

Es braucht also Räume, in denen weisse Therapeut:innen und Berater:innen sich bewusst mit Rassismus und auf diese Weise auch mit der eigenen Identität auseinandersetzen. Meiner Meinung nach sind Weiterbildungen oder – besser – fest verankerte Lehreinheiten in der Ausbildung sinnvoll, so dass Therapeut:innen und Berater:innen adäquat und reflektiert beraten können. Und vor allem, damit nicht direktbetroffene Fachpersonen racial stress in der Beratung/Therapie ansprechen können. Ich denke, dass es allgemein Einheiten braucht, wo Therapeut:innen und Berater:innen die Möglichkeit haben, sich bezüglich verschiedener gesellschaftlich relevanter Themen zu sensibilisieren, sich Wissen anzueignen und Fragen zu stellen – ohne Scham oder Schuldgefühle. 

Anmerkung der Autorin:

Meine Erfahrungen sind die einer Schwarzen ‹lightskin Frau, die in der Schweiz aufgewachsen ist. Ähnliche und auch andere Erfahrungen machen darkskin Schwarze Personen, Schwarze Personen, die nicht hier aufgewachsen sind, sowie geflüchtete Personen.

Für eine aktive Auseinandersetzung mit dem Thema «Rassismus» hier einige Literatur-Tipps

  1. Tupoka Ogette: «Exit racism. Rassismuskritisch denken lernen». Unrast Verlag, Münster 2018
  2. Alice Hasters: «Was weisse Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten». Verlag Hanserblau, München 2019
  3. Samira El-Maawi: «In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel». Zytglogge Verlag, Basel 2020

Erstpublikation im KONTEXT #7 – Das Magazin zum mental help club, Schweizerischen Stiftung Pro Mente Sana, www.promentesana.ch

* «Schwarz» wird im Zusammenhang mit der von Rassismus betroffenen sozial-politischen Position grossgeschrieben und bezeichnet die geteilte Rassismuserfahrung Schwarzer Personen. Es ist keine Bezeichnung für die Hautfarbe oder für biologische Eigenschaften.

* People of Color, PoC: Auch dieser Begriff stammt aus dem Selbstbezeichnungsprozess rassistisch unterdrückter Menschen. Er wurde im Laufe der 1960er-Jahre im Kontext der Black-Power-Bewegung als politischer Begriff geprägt.

* weiss wird klein und kursiv geschrieben, wenn es die privilegierte Position innerhalb des Machtverhältnisses Rassismus abbildet. Als weisse Menschen bezeichnet man jene, die nicht von Rassismus betroffen sind. Andere Diskriminierungen etwa aufgrund des Alters, Geschlechts, einer Behinderung etc. können alle Menschen treffen.

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