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Von Laura Kaufmann

Redaktorin

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13. April 2020 um 10:30

Wie Corona meine BHs in den Ruhestand schickte

Seit dem ersten Tag des Lockdowns habe ich nie wieder einen BH getragen. Plötzlich merkte ich, dass er für mich mehr als ein Stück Stoff gewesen war. BHs waren für mich stark mit Weiblichkeit verbunden und mit vielen lustigen, aber auch schmerzhaften Erinnerungen aus meiner Jugend.

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Titelbild: Unsplash/HelloImNik

«Ich frage mich gerade, ob sich irgendeiner meiner BHs noch an mich erinnern wird nach all dem Ganzen?» Diesen Satz postete eine Freundin in eine Whatsapp-Gruppe. Darauf folgten lustige Emojis und viele bekannten sich dazu, dass sie seit Beginn des Lockdowns keinen BH mehr getragen haben. Die eine wendete ein, dass ihre Brüste leider zu gross seien, die andere fragte, wie es denn um weisse T-Shirts stehe.

«Das ist ein Ding, darüber muss ich schreiben», denke ich mir. Doch ist das nicht genau dieses pietätlose Privilegierten-Gelaber, dieser Upperclass-Feminismus, dem ich eigentlich keinen Vorschub leisten möchte? Ja, doch alle Phänomene wie häusliche Gewalt und die Stigmatisierung von Sexarbeiterinnen haben ihren Ursprung darin, wie wir Frauen- und Frauenkörper sehen.

Zuletzt hatten vor drei Jahren ein paar JUSO-Frauen* um Tamara Funiciello mit einem «Oben ohne»-Bild schweizweit für Aufsehen gesorgt und ich dachte mir damals «Wow, das würde ich mich nie trauen». Und so wäre auch aus diesem Text fast ein weiterer, langweiliger «So fühlt es sich an, einen Monat lang keinen BH zu tragen»-Artikel geworden. Weil ich mich zunächst schämte, öffentlich über meine Brüste und meine Sozialisierung als Mädchen bzw. Frau zu schreiben. So wie ich mich bis vor drei Wochen für meine Nippel schämte.

Brüste in der Schule

An die Zeiten, als in der Primarschule die ersten Mädchen ein «Top» trugen, erinnere ich mich noch gut. Heute nennt man diese BHs ohne Bügel «Bralettes» und sie sehen um einiges schöner aus. Diese Stoff-Dinger waren für uns Anfang 2000 ein Zeichen von Weiblichkeit. Wer so ein «Top» besass, zeigte es beim Umziehen in der Turnhallengarderobe stolz herum und wurde von den anderen Mädchen darum beneidet. Und so legten wir uns nach und nach alle so ein Ding zu, obwohl unsere Brüste teilweise nicht grösser als die der Buben in unserer Klasse waren. Und objektiv gesehen, keinerlei Halt benötigten.

Ich wuchs in einer Zeit auf, als wir als Popstar-Vorbilder Britney Spears und Christina Aguilera hatten oder im besten Fall Pink oder Avril Lavigne. In einer Zeit, als das «Extra» im Mädchen oder der Bravo-Girl aus billiger Glitzer-Schminke bestand und als Aufklärung aus Dr.Sommer und der Doppelseite mit nackten Menschen in der Bravo bestand. Als ich aufs Gymnasium kam, gab es noch keine Jugendschutz-Blocker und Pornografie-Webseiten waren auf Schulcomputern frei verfügbar. Doch Pornografie, das war etwas für Jungs.

In der Oberstufe hatte ich drei beste Freundinnen. Alle drei entwickelten recht bald eine Oberweite im Bereich C bis Doppel-D. Die Jungs in unserer Klasse hatten sich für die Brüste der Mädchen Codeworte wie «Melonen» und «Orangen» einfallen lassen. Inspiriert von Pornos unterhielten sie sich in den Pausen lautstark darüber, was sie gerne so mit diesen «Früchten» anstellen würden. Und was tat ich? Ich beneidete meine Freundinnen darum, dass immerhin über ihre Brüste gesprochen wurde. Ich hatte damals keine Vorstellung davon, wie es sich anfühlt, auf seine Brüste reduziert zu werden.

Brüste in meinen 20ern

Jahre vergingen und im Alter von ungefähr 20 Jahren fand ich mich mit meiner Körbchengrösse A ab. Abfinden, nicht anfreunden. Zu jener Zeit war mein Selbstbewusstsein etwa gleich gross wie meine Brüste. Und so legte ich mir BHs zu, die meine Oberweite grösser erscheinen liessen.

Dann entwickelte ich einen Tumor in meiner rechten Brust. Ich wartete lange, bis ich mich bei meiner Frauenärztin meldete. Und so musste ich mich bis zum positiven Befund über dessen Gutartigkeit mit dem Thema Brustkrebs auseinandersetzen. Die Frage nach der Attraktivität meiner Brüste wurde von einem Tag auf den anderen so etwas von irrelevant. Der Tumor wuchs. BHs mit Bügeln begannen zu schmerzen, selbst das Schlafen auf der Seite schmerzte. Einmal musste ein älterer Arzt bei einer Untersuchung mit dem Ultraschallgerät kalte, durchsichtige Flüssigkeit auf meine Brüste schmieren. Es war mir unangenehm, auch wenn er seinen Job total vorbildlich und respektvoll ausführte.

Am Ende wurde der Tumor operativ entfernt. Noch heute trage ich davon eine Narbe, die man im Bikini gut sieht. Und noch immer ist es mir ein bisschen peinlich, wenn ich danach gefragt werde und ich in der Öffentlichkeit über meine Brüste sprechen muss.

Meinen Freundinnen wurde derweilen in ihren Zwanzigern weiter auf die Brüste geglotzt und manche entwickelten chronische Rückenschmerzen. Als sie mir nach und nach von ihren brustverkleindernden OPs erzählt hatten, begann ich meine kleinen, vernarbten Brüste langsam zu schätzen. Und mit zunehmendem Alter stieg auch mein Selbstbewusstsein. Es wäre jedoch gelogen, wenn ich behaupten würde, dass ich nicht trotzdem einmal über eine Brustvergrösserung nachgedacht habe – nur so als Gedankenspiel, nie mit ernsthafter Absicht. Doch ich würde auch keine Frau dafür verurteilen. Auch ich beneidete ab und zu andere Frauen um ihre grossen, prallen Brüste.

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Bild: Unsplash/CatalinPateo

Free the Nipples in Corona-Zeiten

In letzter Zeit hatte ich begonnen nur noch Sport-BHs zu tragen. Und dann kam Mitte März die sogenannte Corona-Krise. Da ich anfangs sowieso den halben Tag in Trainerhosen und Schlaf-T-Shirt verbrachte, verzichtete ich kurzerhand gänzlich auf das Tragen eines BHs. Es fühlte sich gut an.

Drei Wochen später konstatierte ich, dass es bei mir tatsächlich den Lockdown gebraucht hat, um endlich einmal den Mut zu haben, über längere Zeit ein Leben ohne BH zu führen. Und je länger je mehr schäme ich mich dafür weitaus mehr als für sichtbare Nippel in der Öffentlichkeit.

Manchmal beneide ich die heutigen Teens und Twens. Bei der Recherche für diesen Artikel fand ich auf Youtube ganz viele Videos mit Titeln wie «Ein Monat ohne BH», «Going braless for one week», «BH ja oder nein?». Sie alle erzielen hohe Klickzahlen. Ein im März hochgeladenes Video einer kaum bekannten jungen Bloggerin erzielte über eine halbe Million Klicks.

Mein Post auf Social Media zum Thema #nobra erhielt 25 Likes – 23 von Frauen und zwei von Männern. Doch ich weiss, dass noch viele mehr mitlesen, zustimmen, doch Hemmungen haben, einen solchen Beitrag zu liken.

Eine Frage des Anstands?

Es braucht gemäss Studien mindestens 28 Tage, um sich etwas an- oder abzugewöhnen. Und bis zum 26. April werde ich dies geschafft haben. In meiner WG ohne BH herumzulaufen war easy. Das erste Mal ohne BH einkaufen zu gehen, fühlte sich hingegen etwas seltsam an. Doch gleichzeitig fühlte ich mich ein bisschen wie Wonderwomen (einfach ohne Wonderbra) und ich nahm auch eine solche Haltung ein.

Schon bald stellte sich jedoch die Frage «aber was ist mit weissen oder nicht blickdichten T-Shirts?». Eine kurze Google-Suche brachte mich auf Skims Body Tape von Kim Kardashian. Ich ersetzte es kurzerhand durch das günstigere KinesioTape für Sportler*innen, welches noch zuhause herumlag. Freundinnen, die schon seit längerer Zeit keine BHs tragen, rieten mir zu bauchfreien, weiten Tops zum Drunteranziehen. Eine Bekannte von mir meinte, sie ziehe in diesem Fall aus Anstand einen BH an, damit man ihre Nippel nicht sieht. Aus Anstand zensieren auch Facebook und Instagram Nippel, denke ich mir. Aus Anstand dürften Männer dann auch keine engen Velo- oder Jogginghosen mehr tragen.

Schwierig ist es, sich von den Gedanken zu lösen, dass unsere Brüste etwas über unsere Weiblichkeit aussagen.

Ich ertappe mich beim Gedanken, ob ich nach diesem Artikel jemals wieder einen BH tragen darf. Klar, darf ich das! Denn generell sollte jede Frau jeden Tag genau das tun können, was sie möchte und sich kleiden, wie sie sich wohlfühlt. Doch es wäre schön, müssten wir uns morgens vor dem Spiegel auch nach Corona nicht mehr überlegen, ob es ok ist ungeschminkt und ohne BH das Haus zu verlassen – so wie es Männer schon ihr ganzes Leben lang tun.

Ein BH ist ein Stück Stoff. Sich physisch davon zu befreien, ist nicht schwierig. Schwierig ist es, sich von den Gedanken zu lösen, dass unsere Brüste etwas über unsere Weiblichkeit aussagen. Und uns darüber zu definieren, was andere davon halten. Mir hat noch nie jemand gesagt, dass meine Brüste hässlich seien oder meine Nippel stören. Der BH, die Einengung, sie bestand auch in meinem Kopf.

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