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Von Benjamin von Wyl

Journalist

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14. Dezember 2016 um 08:24

Was wir von der Entführung der Rütliwiese gelernt haben

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Endlich. Endlich handelt die Guerillagruppe 0. Das Gejammer über fehlende Alternativen und die ewig langen Diskussionen unter den Guerilleros haben ein Ende gefunden. Aktion! Spät in der Nacht fahren wir mit Spaten, Schubkarren und Schleppseilen los. In die Innerschweiz, für uns ein unbekanntes Gebiet, in dem wir uns nur dank Google Maps orientieren können. Wir marschieren durch Waldstücke und Lichtungen zur mythischen Wiese. Wir sind nervös: Ist das ein Notlicht, eine Steckdose, die einfach in die Dunkelheit leuchtet oder sind auch Ende November noch Menschen auf den Bauernhöfen rund ums Rütli? Wir werden paranoid.

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Alles geht gut. Wir stechen einen sauberen Abschnitt Rütliwiese aus. Wir informieren uns, wie man Wiesen pflegt.

Drei Tage lang bleibt die Wiesenentführung unbemerkt. Erst unser Bekennerschreiben mit Forderung an Behörden und Medien löst etwas aus, gibt dem Anliegen der Guerillagruppe 0 Öffentlichkeit. Diese Aktion und die Reaktionen bringen die Guerillagruppe 0 in ihrer Suche weiter:

1. Das Rütli ist wirklich eine Wiese

Ueli Maurer nannte das Rütli 2007 «eine Wiese mit Kuhdreck». Das Rütli ist eine Wiese, den Kuhdreck würde die Gruppe 0 nach ihrem Wissenstand hinterfragen. Zwar gibt es einen Bauernhof in unmittelbarer Nähe – der konzentriert sich aber auf die Ziegenhaltung. Unabhängig davon, welcher Biodünger die Rütliwiese begrünt, bleibt das Rütli eine Wiese am Seeufer. Keine Statue, keine Skulptur, kein Freilichtmuseum. «Das soll der Eiffel-Turm der Schweiz sein!“ meint ein Nicht-Schweizer Mitglied der Guerillagruppe 0 bei unserer Ankunft. Einerseits kann man das den Verwaltern der Rütliwiese anrechnen: Sie lassen die Rütliwiese als Wiese wachsen. Andererseits macht das den Fakt, dass jeder von uns sofort ein Bild im Kopf hat, wenn er an die Rütliwiese denkt, umso absurder. Egal, ob man an einen angeblichen Schwur denkt, ein Theaterstück von Friedrich Schiller, General Guisan, Rechtsextreme am 1. August oder die Schulreise in der 5. Klasse: Wir Schweizer projizieren ganz schön viel auf diese Wiese. Wieso müssen wir sogar auf eine Wiese Versatzstücke von unserem Weltbild projizieren? Warum darf sie nicht Wiese sein?

2. Das Rütli macht auch mit uns was

Das Symbol Rütli wirkt in mir, als wir spätnachts über steile Pfade von Seelisberg zum Rütli wandern. Das Symbol Rütli wirkt in mir jedes Mal, wenn unser Pfad eine Lichtung passiert und wir vom Mond angeleuchtet wurden. Das Rütli wirkt als Schauplatz für Verschworenheit. Wir gehen aus einem verschworenen Anlass da hin: wollen ein Denkmal beschädigen, das seit früher Kindheit in uns wirkt. Ich bin vorher noch nie beim Rütli gewesen. Dann scheint der Mond auch noch so hell, jedes Auto, das die Strasse auf der anderen Seeseite passiert, lässt die Wasseroberfläche glitzern... Rütlimythos-Romantik: Ich bin nicht immun dagegen.

3. Das Rütli ist eben doch noch keine Wiese

Die Entführung der Rütliwiese bleibt drei Tage lang unbemerkt, also hat gar niemand einen realen Bezug dazu. Es geht niemand dahin, um die Schweizer Flagge zu grüssen.

Erst als Watson, Blick und 20 Minuten berichten, die Leute per Push-Notification vom Smartphone darauf aufmerksam gemacht werden, hagelt es Kommentare. Der erste Kommentar bei 20 Minuten erhält 941 Daumen hoch und 44 Daumen runter, insgesamt erscheinen 119 Kommentare bei 20 Minuten, keine Kommentarfunktion beim Blick-Artikel und 35 Kommentare bei watson. 20 Minuten-User AS fordert: «...2 Jahre allgemeinnützliche Arbeit für die Täter, ohne Lohn und mit einer Tafel um den Hals versteht sich.»

Einige Kommentare zeigen Verständnis für die Aktion. Freidenker schreiben uns privat Unterstützernachrichten. Einige Kommentare kritisieren, dass solche Aktionen am Ende systemerhaltend wirken. Natürlich haben die «Das sind Vollidioten.»-Kommentare am meisten Däumchen bekommen, aber insgesamt ist die Debatte reflektiert. Die Debatte gibt es aber nur deshalb, weil die Aktion von uns in die Medien getragen wurde. Die Entführung wäre ohne mediale Verbreiterung vielleicht bis Februar unbemerkt geblieben.

4. Das Rütli ist wieder behoben

Bereits jetzt ist das Rütli schon wieder geflickt, wiederhergestellt, wieder aufgeschüttet worden. Es fällt offenbar schwer, ein Loch zu ertragen.

Die Guerillagruppe 0 wollte die Öffentlichkeit mit diesem Loch darauf aufmerksam machen, wie sehr sich Weltbilder entlang von symbolischen Orten vertiefen. Wie wir unsere Sicht auf die Welt durch solche Symbole prägen lassen und uns damit womöglich die Sicht auf die Welt versperren. Die Leerstelle, die noch länger an dieses Anliegen hätte erinnern können, gibt es nicht mehr. Die Normalisierung setzt schnell ein.

Die Guerillagruppe 0 muss neue Löcher graben.

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