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11. November 2016 um 09:27

Alles, was du über ADHS wissen musst

Laut der Weltgesundheitsorganisation sind über eine Viertelmillion Schweizer von ADHS betroffen, und zwar nicht Kinder, sondern Erwachsene. Grund genug für den Verein ADHS20+, erneut zu einer Infoveranstaltung zu laden.

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Was wurde nicht schon alles über die Aufmerksamkeit-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung geschrieben. Gerne wird sie in einem Atemzug mit Bore- oder Burnout genannt. Meist in reisserischen Artikeln, in deren Kommentarspalten die üblichen Totschlägerargumente herumgereicht werden: «Früher gab’s das auch nicht», heisst es dann. Schuld sei falsche Ernährung, und die Pharmaindustrie wolle bloss ihre Umsätze steigern. Doch in den Achtzigern begegnete man Depressionen ähnlich skeptisch, und heute sagt die WHO voraus, dass Depressionen und Diabetes Typ 2 bis 2030 die weitverbreitetsten Krankheiten der Welt sein werden.

ADHS betrifft nicht nur kleine Kinder, und Medikamente wie Ritalin sind nicht bloss etwas für überforderte Studenten. Nicht zuletzt deshalb gibt es den Verein ADHS20+, der einen Infoabend zum Thema durchführte. Präsidentin Sandra Amman eröffnet den Anlass mit einem Referat über eine «Normabweichung» die «bewegt und herausfordert». Rasch zeichnet sich das Bild von einem Leben zwischen Extremen; zwischen Chaos und Erbsenzählerei, Risikofreude und Rückzug. Manche Betroffene hätten sich derart an kollektive Erwartungen angepasst, dass sie kaum mehr die eigene Identität spürten, während andere sich zur Gesellschaft kaum zugehörig fühlten. Viele von ihnen würden sich Vorwürfe machen, weil sie bereits mit den kleinen Dingen des Alltags haderten, während ihr soziales Umfeld überzeugt sei, dass sie mehr aus ihrem Leben machen könnten. Dies führe bei einigen zu Selbstsabotage, hinein in eine Abwärtsspirale aus Resignation und Verzweiflung.

Alles, nur kein Mittelmass
Womit wir uns aber bestimmt alle identifizieren können, ist das Thema Abgrenzung. Täglich werden wir mit über 30'000 Werbebotschaften bombardiert. News, Textnachrichten, E-Mails und Notifikationen buhlen um unsere Aufmerksamkeit und vermitteln das Gefühl, dass alles gleichzeitig geschieht. Ohne Scheuklappen würden wir uns im Leben gar nicht mehr zurechtfinden, doch führen genau diese zu einer Verkürzung unserer Aufmerksamkeitsspanne, weil stets noch anderes auf unsere Zuwendung wartet. Und das wiederum wirkt sich nachteilig auf unsere Konzentrationsfähigkeit aus, führt zu jener Überforderung, die man ja eigentlich vermeiden will.

Dies könnte den Anstieg von ADHS-Fällen zum Teil erklären. «Je länger ADHS unerkannt bleibt, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit von Folgeerscheinungen», schreibt der Verein. Betroffene hätten aufgrund unzähliger traumatischer Erlebnisse (bspw. in Beziehungen oder im Berufsleben) ein schlechtes Selbstwertgefühl. Sie seien sich bewusst, anders zu sein, ohne jedoch eine Erklärung dafür zu besitzen. Ihr Verhalten stosse oft auf Unverständnis. Erfolgserlebnisse würden sie kaum erleben, dafür Ausgrenzung und Scheitern. Persönlich denke ich, dass ein weiterer Grund für den Anstieg von ADHS-Fällen in der starken Zunahme von sogenannten Bullshit-Jobs liegt. Menschen mit ADHS lassen sich weit weniger in eine Form pressen, weisen oft keinen linearen Lebenslauf auf und tun alles, um dem Mittelmass zu entgehen. Dafür haben sie viel Anderes zu bieten und verfügen über verschiedene - auch beruflich zentrale - Fähigkeiten, wie eine von Ammann präsentierte Grafik zeigt.

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ADHS zwischen Liebenden
Dem Vortrag folgt ein Podiumsgespräch, in welchem Publikumsfragen behandelt werden. Geladen sind Fachpsychologe und Musiker lic. phil. Andreas Braun, ADHS-Coach Miladin Matic, Philosoph und Diskussionsleiter Claude Chemelli, Miss-Schweiz-Finalistin und Architekturstudentin Julia Egli sowie Musiker und Entertainer Miguel Camero. Es dauert nicht lange, bis jemand wissen möchte, wie sich die Störung in Beziehungen äussere. Braun erklärt, man sei praktisch schutzlos ausgeliefert, da man auf fast alles stärker reagiere. Camero erzählt, er habe bei einer früheren Partnerin ADHS vermutet und deshalb zu einem Fachbuch gegriffen – nur um festzustellen, dass die Symptome ebenso auf ihn selbst zutrafen. Diese Partnerschaft zwischen zwei Betroffenen sei die intensivste seines Lebens gewesen. Himmel und Hölle in einem, weswegen er sie irgendwann zum eigenen Schutz beenden musste.

Welche Rolle spielen Medikamente?
Jemand fragt, wie wichtig die Diagnose sei und ob diese überhaupt jemals hundertprozentig korrekt sein könne. Matic erklärt, dass die Feststellung helfe, den Mechanismus zu verstehen. Er sei sich hundertprozentig sicher, dass in seinem Fall ein Problem bestehe und dass ADHS eine der Hauptursachen sei. Braun wirft ein, dass Medikamente helfen können, die Lebensqualität zu erhöhen, eine gute Begleitung aber ebenso wichtig sei. So führt Coach Matic aus, er hätte lange das Gefühl gehabt, zu wenig verantwortungsvoll zu sein, sich zu wenig angestrengt zu haben. Wenn er jedoch bedenke, dass Menschen mit ADHS hundertzwanzig Prozent Input für Achtzig Prozent Output investieren müssten, dann sei er alles andere als faul.

Das Tsüri-Mail: Kein Spam, dafür der heisseste Scheiss:

Egli räumt ein, für ihr Studium gelegentlich mit Ritalin nachzuhelfen, da es ohne Abschluss unmöglich sei, eine Stelle in einem Architekturbüro zu finden, während Beatboxer Camero eine ganz andere Einstellung zu Pharmazeutika vertritt. Freimütig erzählt er, wie er zwischen 18 und 25 getrunken, geraucht und gekifft habe, was ihm eine Zeitlang auch den ersehnten Seelenfrieden beschert habe. Doch dann habe er über Nacht mit diesen Hilfsmitteln gebrochen und sich dem Sport zugewandt. Heute würde der Iron Man-Teilnehmer keine Medikamente mehr anrühren. Nicht einmal zur Behandlung der Hirnerschütterung, die er sich vor ein paar Tagen beim Boxen geholt habe. «Lieber Kung Fu als konfus.»

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Bruch mit der Konformität
Auch Sexualität wird thematisiert. Es gebe durchaus eine Verbindung zwischen ADHS und Amoralität, erklärt Braun. Das Moralische greife bei Betroffenen einfach langsamer, aber wer glücklich sei, käme auch besser mit der Störung zurecht. Egli fügt an, dass es eine Herausforderung sei, Liebe und Sex in Einklang zu bringen. Entweder habe man Affären mit ekstatischem Sex oder eine liebevolle Beziehung ohne Hochblüte im Bett.

Dann kommt die Sprache auf’s «Umschalten»: Was tun, wenn man sich von anstehenden Dingen überwältigt fühlt? Camero schwört auf Prioritäten. Nach allem, was er im Leben überstanden habe, habe er gelernt, auf Willensstärke zu vertrauen. «Sei geliebt, sei du selbst. Kämpfe, denn kämpfen lohnt sich.» Dem hält Matic entgegen, dass er durchaus Optimist sei, sich jedoch knallhart eingestehe, wenn er etwas nicht könne. Dann gelte es, dennoch einen Weg zum Ziel zu finden.

«Man gehört nun mal zu diesem Volksstamm.» beschliesst Braun die Runde. Die ADHS-ler seien zuerst da gewesen. Sie seien die Jäger gewesen, bis die Menschheit sesshaft wurde, die Zivilisation entstand und die sogenannten Verwalter das Zepter übernahmen. «ADHS weist auf ein Lebendigkeitsproblem der Gesellschaft hin.»

Wie Recht Braun damit hat. In unseren Zeiten wird Konformität immer grösser geschrieben und Abweichung zunehmend als etwas Beschämendes klassifiziert. Oder wie Claude Chemelli sagte: «Benennen Sie zehn bedeutende Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte. Ich garantieren Ihnen, die Hälfte von ihnen hatte ADHS.» Weltveränderer wie etwa Mozart, Gandhi und Einstein. Wäre denn die Annahme so abwegig, dass ADHS in Wahrheit ein Mittel von Mutter Natur ist, den festgefahrenen Routinen unserer modernen Welt ein Bein zu stellen?

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