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Von Philipp Mikhail

Redaktor

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4. November 2021 um 16:00

Warum Zürich scheisse ist: Moral und Heuchelei

An den meisten Tagen im Jahr mag Redaktor Philipp Zürich. Jedoch hat er nicht immer nur gute Gefühle für die Stadt. Denn er hegt eine Art Hassliebe für seinen Wohnsitz. Und so sind die trivialen Kleinigkeiten Zürichs für ihn an manchen Tagen die reinste Tortur. Zürich ist scheisse, findet er – unter anderem besonders aus einer tugendhaften Perspektive.

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Foto: Tsüri.ch

Migros Neumarkt in Altstetten: Ich stehe seit einer gefühlten Ewigkeit vor den grünen schräg ausgerichteten Kisten, die prall mit Gemüse gefüllt sind und führe eine innere Diskussion über die Wahl der Peperoncini. Eigentlich sollte ich mich glücklich schätzen. Denn es stehen nur zwei Sorten zur Auswahl. Da wären auf der linken Seite die offenen Peperoncini aus den Niederlanden. Die sind aber nicht Bio. Auf der anderen Seite die Bio-Peperoncini aus Spanien, doch die sind leider in Plastik verpackt.

Irgendwo habe ich gelesen, dass es Vorschrift ist, Bio-Produkte in Plastik zu verpacken, weil die Konsument:innen diese beim Einkaufen klar von den «herkömmlichen» Produkten unterscheiden können müssen. Meine innere Debatte geht hingegen weit über die Plastikverpackung hinaus. Theoretisch müsste ich nämlich für die offenen Peperoncini auch ein Plastiksäckchen verwenden, weil ich diese ja nach dem Wägen mit einem Etikett versehen und gebündelt an der Kasse vorzeigen muss.

Als naturbewusster Mensch habe ich jedoch vorgesorgt und doch tatsächlich bevor ich zum Einkaufen gegangen bin, das Plastiksäckchen vom letzten Einkauf wieder in meine Einkaufstasche (aus Stoff) gepackt.

Weil ich aus Überzeugung seit Jahren permanent knapp bei Kasse bin, entscheide ich mich letztendlich mit einem leicht schlechten Gewissen für die günstigeren Schoten.

Philipp Mikhail

Die Krux: Ich habe die Etikette vom letzten Mal nicht abgelöst, und als ich sie etwas zu hastig versucht habe zu entfernen, ist die Plastiktüte zerrissen. Die Peperoncini würden nun sicher herausfallen und es gäbe ein Durcheinander, weil die Peperoncini sich während des restlichen Einkaufs in meinem Körbchen regelrecht verteilen würden. Und mein Dilemma geht noch weiter: die in Plastik verpackten Bio-Peperoncini kosten fast dreimal soviel wie die «Herkömmlichen».

Weil ich aus Überzeugung seit Jahren permanent knapp bei Kasse bin, entscheide ich mich letztendlich mit einem leicht schlechten Gewissen für die günstigeren Schoten. In Zürich gibt es unzählige Dinge, die scheisse sind. Das Einkaufen ist sicher unter den Top 100. Nicht weil die Auswahl etwa schlecht wäre, sondern weil man beim Einkaufen in Zürich ständig in solche moralischen Zwangslagen getrieben wird.

Klassenkampf an der Fleischtheke

Der Migros Neumarkt ist beispielsweise klar in Klassen aufgeteilt. Man muss nun wirklich nicht Marx gelesen haben, um zu realisieren, dass direkt nach dem Gemüse und dem Brot ein Bereich folgt, der nur auf Konsument:innen ausgerichtet ist, die bereit und imstande sind, mehr als den üblichen Preis für ihre Lebensmittel zu bezahlen.

Zuallererst wäre da die Käse-Ecke. In diesem Corner werden jeweils grosse Laibe Käse galant in den Regalen arrangiert. Brie aux Truffes, geräucherter Mozzarella und etliche andere Käsesorten, die man sich wahrscheinlich gönnen muss, wenn das Leben sonst nichts mehr hergibt.

Oder man gönnt sich einfach so mal was. Gegenüber werden Wachteleier und Eier vom Hof irgendwo in Zürich angeboten. Gleich danach folgen die Fleisch- und Fischtheke, wo es trotz der stolzen Preise nicht so wichtig ist, wenn das Filet dreissig Gramm mehr wiegt – wurde schliesslich von Hand geschnitten.

Mit der samtig-weichen Tüte in der einen Hand, muss ich mir dann immer mit der anderen Hand in die hintere Hosentasche fassen, um sicher zu gehen, dass der Metzger mir mit seinem schleimigen Lächeln nicht total in den Arsch gekrochen ist. Wirklich verwerflich ist dagegen der Moment, wenn ich am «richtigen» Fleischregal vorbeilaufen muss. Dort wo ich einst mein Fleisch kaufte.

Don Pollo aus Ungarn und Fleischkäse mit fünfundzwanzig Prozent Fettanteil. Der Appetit vergeht mir endgültig, wenn mir anschliessend klar wird, wie beschissen diese Tiere gehalten wurden und welche ökologischen Konsequenzen Fleischkonsum hat. Einkaufen in Zürich ist scheisse, weil Zürich scheisse ist. Der viel zu hohe Lebensstandard in dieser Stadt zwingt mich ständig dazu, mich mit Moral und Ethik auseinanderzusetzen.

Second Hand Unterwäsche und Hypokrisie

Die klassische Reaktion auf meinen Unmut ist: Sei lieber froh und dankbar, dass es dir so gut geht! Als ich ein Kind war, wurde mir mit derselben Logik das Tragen der Unterhosen meiner älteren Brüder schmackhaft gemacht. Ich war dann die dritte Person, die diese Unterhosen getragen hatte. In anderen Teilen der Welt hätten die Kinder manchmal überhaupt keine Kleider, wurde mir erklärt. Wie kann ich mich gegen ein solches Argument empören?

Zynisch ist die Rechtfertigung trotzdem. Denn ich bin mir heute ziemlich sicher, dass ein Land wie die Schweiz (Mit Finanzzentrum in Zürich) auf irgendeine Weise stets mitverantwortlich ist, wenn Kinder irgendwo auf der Welt keine Unterhosen haben.

Für die bevorzugte Klasse ist es zwar symptomatisch, sich für ihren Reichtum schlecht zu fühlen, gleichzeitig finden wir es aber schon auch ein bisschen geil, privilegiert zu sein. Das wird wohl auch der Grund sein, weshalb jede:r verkackte Neureiche gleich eine Stiftung gründet, sobald sein:ihr Vermögen siebenstellig ist.

Man will helfen, steuertechnisch macht es jedoch ebenfalls Sinn – eine klassische Win-Win-Situation. Die Heuchelei ist in Zürich also sowas wie das Benzodiazepin gegen das schlechte Gewissen privilegiert zu sein. Und dieses Pharisäertum nimmt teilweise groteske Formen an, die uns oft gar nicht mehr auffallen.

Mundspülung, Rumpfbeugen und Gehirnwäsche

Wegen meiner verfärbten Zähne solle ich künftig eine elektrische Zahnbürste verwenden. Ausserdem hat mir meine Zahnärztin die Total Care Mundspülung von Listerine empfohlen. Dann hätte ich auch weniger Mundgeruch, hat sie mir versprochen. Total Care – das sei die Violette.

Weshalb ich nicht die Grüne oder die Blaue verwenden soll, konnte sie mir nicht erklären. Und warum ich stattdessen nicht die Mundspülung von Elmex verwenden soll auch nicht. Wichtig sei zudem, dass ich eine Zahnpasta mit Fluor verwende. Dafür hat sie mir eine weitere Marke empfohlen. Leider habe ich deren Namen vergessen. Zudem soll ich regelmässig Zahnseide anwenden.

Wenn ich an einem Sonntagabend hingegen ein Schaumbad nehme, geniere ich mich wegen des hohen Wasserverbrauchs. Ist eine Mundspülung also ein Mentizid, eine Indoktrination?

Philipp Mikhail

Halbjährliche Dentalhygiene sei gleichfalls wichtig. Steht heutzutage in Stelleninseraten noch, dass die Bewerbenden ein «gepflegtes Äusseres» haben sollten? Für mich hiess das eigentlich immer, dass ich ein gutes Parfum brauche. Aber ja nicht zu dick auftragen! Ausserdem ein Anti-Schuppen-Shampoo sowie ein Produkt für glänzendes Haar. Auf meinem Axe Duschgel steht zwar für «Body, Face and Hair» doch das sagen die Produzent:innen sicher nur, um Kohle zu machen.

Jeden Morgen verwende ich ergo mindestens ein halbes Dutzend verschiedene Fabrikate, um beschissen auszusehen. Wenn ich an einem Sonntagabend hingegen ein Schaumbad nehme, geniere ich mich wegen des hohen Wasserverbrauchs. Ist eine Mundspülung also ein Mentizid, eine Indoktrination? So weit würde ich nicht gehen. Aber gilt eine Pampe aus Roggenmehl und Wasser, die einen Tag lang gegärt hat wirklich noch als «gepflegt»? Ist das salonfähig?

Wenn es um den Body geht, machen die Zürcher:inne keine halben Sachen. Nebst der Pflege gehört nämlich auch Training zum guten Ton. Deshalb mach’ ich auch täglich nach dem Aufwachen im Bett Rumpfübungen und seitliche Liegestütze, wie Dave Dollé sie einst in einem Gesundheits-Special auf Telezüri gezeigt hat. Danach Bizeps und Trizeps – alles nur um definiert zu sein. Wer schön sein will, muss leiden. Leider können nicht alle die leiden auch schön sein. Zum Glück machen Kleider Leute!

Made in Switzerland

An einem schönen Septembertag gehe ich ins Arche Brockenhaus. Es ist mein erster Shopping-Tag seit etwa einem Jahr. Kleider kaufen, finde ich eigentlich ganz gut. Anprobieren, Farben kombinieren, sich im Spiegel begutachten. Doch weil Shoppen in Zürich halt vergleichsweise teuer ist, kaufe ich meine Kleidung normalerweise immer, wenn ich auf Reisen bin.

Früher habe ich meine Shirts bei H&M gekauft. Jetzt kaufe ich meine H&M Shirts im Brockenhaus. Zwar für fast den gleichen Preis wie im Handel, doch da die Mehrheit der Textilprodukte, welche in Zürich erwerblich sind, vorwiegend von Kindern, wahnsinnig umweltbelastend (oder beides) hergestellt wurden, kaufe ich dessen ungeachtet nur noch «gerettete» Kleidung. Ausser Unterhosen natürlich.

Erkenntnis ist der erste Schritt in Richtung Nirwana

Wer in der letzten Zeit in Zürich das Wort Karma nicht gehört hat, lebt vermutlich an der Grenze zu Schlieren oder sonst irgendwo hinter dem Mond. Selbstverständlich meine ich hier nicht die vegetarische Linie von Coop sondern die Theorie des Karmas, welche in Indien ihren Ursprung hat und darauf beruht, dass alle Handlungen und Gedanken Konsequenzen haben. Diese Theorie finde ich grundsätzlich recht schön.

Besonders, weil davon ausgegangen wird, dass wir eventuell nicht in diesem Leben sondern erst nach unserer Reinkarnation das ernten, was wir gesät haben. Zürcher zu sein, ist also die Belohnung für mein letztes Leben. Die Zürcher Interpretation von Karma sind die «Karmapunkte». Dieses Wort beschreibt ziemlich gut, wie in dieser Stadt alles ökonomisiert wird.

Wie der Begriff bereits impliziert, handelt es sich bei der westlichen Neuinterpretation um eine Art Punktesystem, bei dem man wie in der Migros beliebig Punkte sammeln oder ausgeben kann. Um Punkte zu sammeln, kann ich also einfach dem Typen, der zehn Sekunden bevor das 2er Tram losfährt, sein Billet zu lösen beginnt, die Tür aufhalten – 10 Punkte auf mein Konto. Wenn ich so lange warte, bis er seine zwanzig Rappen Rückgeld eingepackt hat, sind es sogar 15 Punkte. Einem Freund beistehen, dessen Beziehung gerade den Bach ab geht – 100 Punkte. Mit Geflüchteten den Dativ üben — 1000 Punkte. Die Impfung gegen Corona machen — jetzt gehe ich zu weit (Ich bitte um Entschuldigung).

Warum muss in dieser Stadt eigentlich alles einen Wert haben? Gemäss meiner Dating App gibt es im Umkreis von einem Kilometer eine Frau, die zu 96% mit meinem Profil übereinstimmt. In ihrem Profiltext steht sowas wie «I am a Marxist. Don’t even write me if you do not know how to lick my pussy.» Gemäss der Uhr eines Freundes sind wir nach unserem Spaziergang am Zürichsee 5’000 Schritte gelaufen, das entspricht einer Ist-mir-im-fall-scheissegal-Anzahl Kalorien.

Egal wie viele Bio-Peperoncini ich auch kaufe, egal wie «aware», bescheiden, ökologisch und wohlwollend ich auch lebe, ich bleibe ein Zürcher, der in einer Verschwendungsgesellschaft sondergleichen lebt.

Philipp Mikhail

Aber zurück zu den Karmapunkten. Das Gegenteil von Karmapunkten ist die sogenannte «Guilty Pleasure». Das klingt – auch wenn ich es für eine Gratwanderung halte – anzüglicher als es in Wirklichkeit ist. Gemäss der heutigen Interpretation handelt es sich dabei um die vorsätzliche unmoralische Handlung. Man verliert also bewusst Karmapunkte, weil mans hin und wieder einfach nötig hat. Den Porsche ausfahren, Sex gegen Bezahlung, sich über dicke Menschen lustig machen: alles Guilty Pleasures.

Mein schuldiges Vergnügen ist ein Becher «Netflix and Chilld» von Ben & Jerry’s. Erdnussbutter Glacé mit Brownie und süssen sowie gesalzenen Brezelstücken. Etwas mehr als 1000 Kalorien. Minus 500 Karmapunkte. Aber hey – wenigstens haben die den Verkauf des Produkts im «von Israel besetzten palästinensischen Territorium» eingestellt. Wäre ja total unmoralisch.

Weil wir Zürcher:innen so auf Zahlen stehen, habe ich für uns mein ganz eigenes Punktesystem entwickelt. Es nennt sich der Arschlochkoeziffient: Vermögen minus Karmapunkte durch ökologischer Fussabdruck. Zugegeben, der Koeffizient hat noch Verbesserungspotenzial. Freilich ist das Einzige, das mich letztendlich von meinem Weltschmerz befreit die Erkenntnis, dass ich ein Arschloch bin und Zürich mich in gewisser Weise dazu gemacht hat. Trauriges Gesicht-Emoji. Wie sich die Menschen in Burundi nicht ausgewählt haben, jeden Tag Maniok und Kidney Bohnen zu essen, habe ich es mir nicht ausgewählt ein verwöhnter Hosenscheisser, der auf Kosten anderer lebt, zu sein.

Und egal wie viele Bio-Peperoncini ich auch kaufe, egal wie «aware», bescheiden, ökologisch und wohlwollend ich auch lebe, ich bleibe ein Zürcher, der in einer Verschwendungsgesellschaft sondergleichen lebt. Klar, ich gebe mir trotzdem (fast) jeden Tag alle Mühe, ein besserer Mensch zu werden. Dessen ungeachtet verursacht das, was ich als genügsame Existenz erachte, weiterhin permanent Leid auf der ganzen Welt und weil ich dennoch zu feige bin, ins Exil zu ziehen und mich diesem perversen Materialismus zu entziehen, ist Zürich scheisse und wird es wohl auch bleiben. Weinendes Gesicht-Emoji.

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