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3. Juli 2019 um 08:25

Warum wir Feste feiern

Ab Freitag verwandelt sich Zürich in einen Raum kollektiver Ekstase. Rund zwei Millionen Menschen strömen ans Züri Fäscht, vergnügen sich entlang der Limmat und rund um das Seebecken bei einer Mischung aus Musik, Partys, Jahrmarkt und Volksfest. Doch warum feiern wir Feste?

Text: Christoph Elhardt

Feste sind nicht nur integrale Bestandteile unserer Kultur, sie sind universale Erscheinungen menschlichen Handelns. Doch warum feiern wir Feste? Und welche Funktion haben sie für den Einzelnen und die Gesellschaft?

Ob die Gelage der Griechen und Römer, die Hoffeste des Mittelalters, Open-Airs oder Outdoors – alle Feste haben eines gemeinsam: Sie heben sich von der Monotonie des Alltags ab, sind Sternstunden der Abwechslung, inszenierte Ausnahmezustände, in denen Menschen gängige Konventionen und Rollen für ein paar wenige Stunden oder gar Tage beiseite legen.

Die Monotonie des Alltags

Feste sind Ventile für all jene Dinge, die eine Gesellschaft im Interesse ihres alltäglichen Funktionierens ausblenden muss. Der Alltag vieler Menschen ist geprägt von Arbeit und einem Fokus auf Leistung und Produktivität. Gut ist, wer effektiv, planend, vorausschauend und termingerecht seine Aufgaben erfüllt und sich an bestehende Regeln und Konventionen hält.

Ausserdem ist die Arbeitswoche vieler Menschen bestimmt von Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten. Aufstehen, Duschen, Frühstück, Sitzungen, Termine, Deadlines, Projekte, Lunch, Sitzungen, Termine, Deadlines, Projekte, Sport, After-Work-Drink, Znacht, Bett. Die ewige Wiederkehr des Gleichen. Etwas überspitzt formuliert: Alltägliche Produktivität braucht ein gewisses Mass an Sicherheit und Routine.

Refugien des Rausches

Die Logik des Festes könnte hingegen nicht verschiedener sein. Feste sind Refugien des Rausches, in denen sich Menschen austoben und unproduktiv verausgaben.

Alkohol und Drogen sind fixe Bestandteile davon. Sie sind sowohl Schmiermittel als auch Treibstoff für die Festgemeinde und sie bilden die Grundlage für ekstatische Erfahrungen, in denen wir die Grenzen alltäglicher Konventionen und Rollen zumindest für eine begrenzte Dauer hinter uns lassen. Wir treten sozusagen aus uns heraus und erleben uns anders als im Alltag. Sind lustiger, leidenschaftlicher, spontaner, verspielter und gerade nicht an Leistung und Produktivität orientiert. Soziale Ängste, die sonst die Grenzen unserer Komfortzone abstecken, zerfliessen in einem Gemisch aus Musik, Alkohol und Drogen.

Im Modus des Feierns erleben wir Dinge auch intensiver: Gespräche, Begegnungen, Musik, alles wird intensiviert. Gut ist keineswegs, was effizient oder effektiv ist, sondern was Spass macht und schön ist. Was im Alltag verboten oder zumindest anrüchig ist, erhält im Rahmen des Festes seinen gebotenen Raum. Sind wir im Alltag meist beherrscht und kontrolliert, sprechen Feste das Laute, Laszive, Spontane, Unberechenbare und Hemmungslose in uns an.

Kollektiver Kontrollverlust

Neben diesen eher individuellen Funktionen wirken Feste aber auch gemeinschaftsbildend. Das gemeinsame Erleben ekstatischer Momente erzeugt Verbundenheit. Wenn Menschen im Modus des Rausches die stramme Festung ihres sonst konsequent aufrechterhaltenen Selbstbildes kurzzeitig öffnen, werden auch intensivere Begegnungen mit anderen möglich. Fremde Menschen liegen sich in den Armen, unterhalten sich ungezwungen, singen und tanzen gemeinsam, als würden sie sich schon lange kennen. Das verbindet, wenngleich diese Verbundenheit auf die Dauer des Festes beschränkt bleibt. Manchmal schwappt die gemeinsam erlebte Euphorie in den Alltag über und Beziehungen und Freundschaften entstehen.

Der geteilte Kontrollverlust brennt sich ins Bewusstsein der Beteiligten ein und fungiert als Fixpunkt gemeinsamer Erinnerungen und Erzählungen. Immer wieder werden Geschichten über Momente des Feierns erzählt und dadurch ein Hauch der damals erlebten Euphorie reaktiviert. Die Party am letzten Züri Fäscht, das Konzert am Röntgenplatz oder das Set am Garbicz-Festival werden zu Fixpunkten eines kollektiven Erinnerns, auf die sich Gespräche im Alltag immer wieder beziehen. In diesen Geschichten wird Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit bestätigt und erneuert.

Entlastung oder Befreiung

Für den Einzelnen können Feste also etwas Befreiendes, für Gruppen und Freundeskreise etwas Integrierendes sein. Doch welche gesellschaftliche Funktion erfüllen Feste? Wenn wir davon ausgehen, dass Menschen mehr Intensität, Leidenschaft und Spontaneität in sich tragen, als für die Bewältigung ihres Alltags notwendig oder förderlich ist, wirken Feste stabilisierend auf Gesellschaften. Würde es nicht kontrollierte und institutionalisierte Räume geben, an denen wir unser Bedürfnis nach Rausch, Exzess und Ekstase ausleben könnten, wären wir wohl auch im Alltag weniger effizient, massvoll und kontrolliert. Die Mühen des Alltags und die Entlastung durch das Fest bedingen sich diesem Verständnis zufolge wechselseitig. Wer dieses Argument zu Ende denkt, kommt zum Schluss, dass eine Gesellschaft ohne Feste per se instabil sein muss. In diesem Sinne können Feste sogar als Herrschaftsinstrumente oder Instrumente der Disziplinierung gedeutet werden. Feiern als Opium fürs Volk, das den tristen Alltag nur dann zu bewältigen imstande ist, wenn es sich an den Wochenenden in feucht-fröhliche Parallelwelten verzieht.

Man kann die Wechselwirkung zwischen Fest und Alltag auch positiver lesen und in den ekstatischen Begegnungen des Festes kleine Inseln der Freiheit sehen, wo Menschen jenseits bestehender gesellschaftlicher Hierarchien zusammenkommen. Ärztin und Reinigungskraft, CEO und Angestellter, Dozentin und Student tanzen und singen gemeinsam und alltägliche Rollen verlieren vorübergehend an Bedeutung. Im besten Fall inspirieren die Erfahrungen des Feierns dazu, sich eine andere, etwas weniger auf Produktivität und Leistung ausgerichtete Gesellschaft vorzustellen.

Welche dieser beiden Versionen ist plausibler? Und ist in an all dem zumindest ein Quäntchen Wahrheit zu finden? Ab Freitag hast du drei Tage Zeit, um dir selbst ein Bild zu machen. Frohes Züri Fäscht!

Titelbild: Zürfäscht

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