Nach den Zürcher Wahlen: Wie die Mitte profitieren konnte und welcher Stadtkreis am grünsten wählte - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Isabel Brun

Redaktorin

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16. Februar 2022 um 13:00

Aktualisiert 17.02.2022

Nach den Zürcher Wahlen: Wie die Mitte profitieren konnte und welcher Stadtkreis am grünsten wählte

Seit vergangenem Sonntag ist klar, wer die nächsten vier Jahre im Zürcher Stadtrat sitzen wird und welche Politiker:innen ins Parlament einziehen dürfen. Doch weshalb wurde gewählt, wie gewählt wurde und welche Auswirkungen könnten die Wahlergebnisse auf die Stadtzürcher Klimapolitik haben? Im Gespräch mit Politikwissenschaftlerin Sarah Bütikofer.

André Odermatts Partei, die SP, bleibt auch nach den Wahlen 2022 die stärkste Partei der Stadt. (Foto: Elio Donauer)

Isabel Brun: Beginnen wir beim Stadtrat. Die alten Hasen hielten einmal mehr den Herausforder:innen stand: Bis auf Simone Brander wurden alle Bisherigen wieder gewählt. Weshalb ist das so?

Sarah Bütikofer: Ganz allgemein starten Bisherige im Majorzsystem mit sehr viel besseren Wahlchancen in jeden Wahlkampf als neue Kandidierende, die den Wähler:innen noch nicht bekannt sind. Dass Simone Brander von der SP den vierten Sitz für die SP auf Kosten der AL geholt hat, ist sicherlich zu einem grossen Teil damit zu erklären, dass sie mit der SP die stärkste Partei der Stadt im Rücken hatte. Die Wahlallianz der Linken bei den Stadtratswahlen funktionierte gut und möglicherweise brachte ihr der Umstand, dass sie eine Frau ist, auch noch einige zusätzliche Stimmen ein.

Die SP hat nun also vier Sitze inne, die AL null. Könnte diese Verschiebung Auswirkungen auf die klimapolitischen Bestrebungen der Regierung haben?

Die Mehrheitsverhältnisse, was die politischen Blöcke angeht, haben sich ja nicht verschoben. Links-grün hat nach wie vor sechs von neun Sitzen. Simone Branders Schwerpunkte liegen sicher stärker bei der Verkehrspolitik, während Walter Angst wohl etwas andere Akzente gesetzt hätte, vor allem im Bereich Immobilien- und Baupolitik. Der Kurs des Stadtrats hängt vor allem von der Übereinstimmung innerhalb des Gremiums ab.

Hat die Zürcher Stimmbevölkerung mit Brander eine geeignete Wahl getroffen, um Netto-Null bis 2040 zu erreichen?

Simone Brander nennt die Klimapolitik als einen ihrer Schwerpunkte. Zudem ist sie in der Regierung Teil eines Gremiums. Da Netto-Null ja bereits beschlossen wurde, geht es nun um die Umsetzung.

Die Wahlergebnisse zeigen die Präferenzen derjenigen, die wählen gingen – und dürfen!

Sarah Bütikofer, Politikwissenschaftlerin

Der junge Dominik Waser von den Grünen hat es nicht in die Regierung geschafft, ihm fehlten knapp 7’000 Stimmen und das absolute Mehr. Was könnte der Grund für sein Scheitern gewesen sein?

Dominik Waser war den allermeisten Wähler:innen bis vor wenigen Monaten kein Begriff. Er verfügt auch nicht über politische Erfahrung aus einem anderen Amt oder der Parteiarbeit. Dazu kommt, dass er in der Stadtpolitik viel weniger vernetzt ist als andere Kandidierende. Dafür, dass er im Prinzip wirklich schlechte Voraussetzungen mitgebracht hat, um in einem Majorzsystem gewählt zu werden, hat er ein sehr gutes Resultat erzielt! 

Wie die Nachwahl-Befragung von Sotomo im Auftrag des Tages-Anzeigers festgestellt hat, stand Dominik Waser zwar auf fast jedem zweiten Wahlzettel von unter 35-Jährigen. Bei den älteren Generationen kam er aber wesentlich schlechter an als Simone Brander oder Walter Angst. Im linken Lager wurde Dominik Waser zudem auch vor allem von den Wählenden ganz links unterstützt, bereits die gemässigte Linke war zurückhaltend und wählte neben den Bisherigen nur Simone Brander und Walter Angst.

Aber als Klima-Aktivist wäre er doch perfekt gewesen, um den Stadtrat noch «klima-affiner» zu machen.   

Ob er im Stadtrat mit seinen Klima-Positionen erfolgreich gewesen wäre, steht auf einem anderen Blatt. Es braucht immer Verbündete und letztendlich Mehrheiten, um einer Vorlage zum Erfolg zu verhelfen – sowohl im Stadtrat wie im Parlament und letztendlich auch im Volk. Alleine kann man in der Politik rein gar nichts ausrichten.

Die 46-jährige Politologin ist Projektpartnerin bei der Forschungsstelle Sotomo.

Dann schauen wir doch mal in den Gemeinderat: Anders als in der Regierung verliert die SP im Parlament ganze sechs Sitze. Dafür dürfen die Mitte und die EVP wieder einziehen. Die AL verliert zwei Sitze, während die Grünen und die GLP zwei und drei Sitze gewinnen. Die SVP hingegen muss drei Sitze abgeben. Welche Schlüsse ziehen Sie aus dieser neuen Sitzverteilung? 

Die Mehrheitsverhältnisse sind nun, was links-grün angeht, sehr knapp. Eigentlich darf in der kommenden Legislatur nie jemand fehlen oder abweichen, wenn eine Abstimmung ansteht, bei der die anderen Parteien in Opposition zur Linken sind. Dies bedeutet in der Praxis wohl, dass für das Suchen von Kompromissen vermehrt Koalitionen geschmiedet werden, die über die ideologischen Blöcke hinausgehen.

Was könnten mögliche Gründe sein, weshalb die Mitte-Politik im Gemeinderat ein Comeback feiern darf?

Der Wähler:innenanteil der Mitte-Partei stieg gar nicht so stark an – lediglich um 0.6 Prozentpunkte. Die Partei führte die Strategie, in den Wahlkreisen einen engagierten Wahlkampf zu machen, wo auch realistischerweise fünf Prozent zu holen sind. Diese Strategie ging auf. So schaffte die Mitte-Partei die 5-Prozent-Hürde in drei Wahlkreisen, nötig wäre einer gewesen. Geholfen hat sicherlich auch die Nomination eines Kandidaten für den Stadtrat. Das gleiche gilt für die EVP, die im Parlament bleibt, obwohl sie ganz leicht an Wähleranteil verlor.

Wenn unter dem Strich eine Partei mehr Anrecht auf Sitze hat als in der vorherigen Legislatur, führt das zu substantiellen Sitzverschiebungen. Die Umkehrung gilt auch: wenn mehrere Parteien die 5-Prozent-Hürde nicht mehr schaffen und aus dem Parlament ausscheiden, profitieren die anderen überdurchschnittlich.

Hätte man angesichts der Klimakrise, der Fridays-for-Future-Bewegung und den klimapolitischen Zielen der Stadt nicht damit rechnen müssen, dass den Grünen mehr Sitze zukommen würden?

Sicherlich verfingen sie sich im Wahlkampf in den Argumenten der Umweltthematik, das zeigen ja auch die parallelen Gewinne der Parteien mit grün im Namen. Neben den Grünen konnte auch die GLP sowohl beim Wähleranteil als auch bei den Sitzen zulegen. In einem Wahlkampf ist aber vor allem die Mobilisierung entscheidend, denn in der Schweiz gibt es im Prinzip für alle Parteien noch viel Luft nach oben, keine nützt ihr Potenzial voll aus und die Wahlbeteiligung liegt auch meistens bei weniger als 50 Prozent.

Kurz gesagt: Weil nicht genügend Wähler:innen an die Urne gingen und grün wählten. Offenbar hat das Programm vor allen in den eigenen Reihen verfangen, aber es fand keine überdurchschnittliche Mobilisierung ausserhalb der angestammten Kreise statt.

Die FDP gewinnt einen Sitz und bleibt mit über 17 Prozent Wähler:innenanteil deutlich vor den Grünen (14,3 Prozent). Ist es den Stadtbewohner:innen wichtiger, Zürich als Wirtschaftsstandort zu erhalten, anstatt klimapolitisch vorwärts zu machen? Oder anders gefragt: Sind die Stadtzürcher:innen doch nicht so grün wie viele immer sagen? 

Die Wahlergebnisse zeigen die Präferenzen derjenigen, die wählen gingen – und dürfen! Ob das deckungsgleich ist mit den «Stadtzürcher:innen» kann man nicht abschliessend beantworten. Wie es um die Klimafreundlichkeit der Stadtbevölkerung mit Stimmrecht steht, zeigen Abstimmungsresultate möglicherweise ohnehin besser als Wahlergebnisse. 

Lediglich in den Wahlkreisen 4+5 und 12 haben die Wahlberechtigten den Grünen mehr Stimmen gegeben als den Liberalen.

Der Kreis 4+5 wählte am grünsten. Kein Kreis in Zürich wählt linker. Doch linke Parteien fischen seit jeher im gleichen Teich. Es kommt daher stark auf die Themenkonjunktur an, welche Partei dann am meisten profitiert und natürlich immer auch ein wenig auf das Engagement und die Präsenz einzelner Parteien oder Personen im Wahlkampf.

Würden Sie die Wahlen 2022 als «Klima-Wahlen» bezeichnen?

Ich wäre mit solchen Labels allgemein eher zurückhaltend. Wichtiger als Wahlresultate sind meiner Meinung nach konkrete Erfolge bei der Problembewältigung während einer Legislatur. Und dafür haben ja Regierung und Parlament jetzt wieder vier Jahre Zeit. Aller Voraussicht nach wird die Klimapolitik in den nächsten Jahren durch eine Koalition zwischen dem linken und dem progressiven Lager aus der politischen Mitte geprägt sein.

Zur Person:

Sarah Bütikofer ist Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Schweizer Politik. Sie ist Herausgeberin der Online-Plattform DeFacto und Projektpartnerin bei Sotomo

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