Wahlen im Kanton Zürich: Politologin Sarah Bütikofer im Interview - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Isabel Brun

Redaktorin

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3. Februar 2023 um 04:30

«Viele Nicht-Wähler:innen sind mit dem Status Quo zufrieden»

Am Sonntag in einer Woche finden in Zürich die Kantons- und Regierungsratswahlen statt. Trotzdem fiel der Wahlkampf wie auch die Beteiligung bisher relativ spärlich aus. Weshalb das keine Seltenheit ist und welche Rolle dabei unser politisches System spielt, erklärt die Politologin Sarah Bütikofer.

Alle Mitglieder des Zürcher Regierungsrats kandidieren erneut. (Foto: Isabel Brun)


Isabel Brun: Am 12. Februar wählt die Stimmbevölkerung des Kantons Zürich ihre Regierung sowie ihr Parlament neu. In den Medien wurde bisher jedoch eher zurückhaltend über die bevorstehenden Wahlen berichtet. Haben Sie eine Erklärung dafür? 

Sarah Bütikofer: Das liegt sicherlich zu einem grossen Teil an der Ausgangslage. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist nämlich die neue Regierung auch die alte. Wenn niemand aus dem Regierungsrat zurücktritt, ist der Wahlkampf in der Regel eher lau. Ausserdem stehen im Herbst die nationalen Wahlen an, daher schonen sicherlich etliche Parteien ihre Ressourcen, weil sie sich diese lieber für den nächsten Wahlkampf aufsparen wollen.

Hat es auch damit zu tun, dass die kantonale Politik grundsätzlich weniger interessant ist – für Politiker:innen als auch für die Bevölkerung?

Man kann schon sagen, dass sich definitiv weniger Menschen für kantonale politische Angelegenheiten interessieren als für nationale oder kommunale. Das hat damit zu tun, dass die Politikfelder, die im Allgemeinen das Zeug dazu haben, für Aufruhr zu sorgen, meistens national debattiert werden.

Beispielsweise die in der Schweiz heftig geführte Auseinandersetzung um die Beziehung zu Europa, Migrationspolitik, gesellschafts- und sozialpolitische Vorlagen wie jüngst die AHV-Reform oder die «Ehe für alle» und auch in Bezug auf die Klima- und Energiepolitik und die Landwirtschaft werden die Weichen vom Bund gestellt. Hinzu kommt, dass alle Gesetze, welche die ganze Schweiz und unsere Wertvorstellungen betreffen, nicht im Kanton gemacht werden. Folglich fällt schon viel weg, was die Bevölkerung stark beschäftigt oder emotional berührt.

Dann sind die Themen, die im Kantonsparlament bearbeitet werden, einfach weniger wichtig für Zürcher:innen?

Vielleicht nicht weniger wichtig, aber sicherlich komplexer und eher selten identitätsstiftend. Im Kantonsrat werden beispielsweise viele Vorlagen zur Finanz-, Steuer- und Infrastrukturpolitik diskutiert. Das sind zum einen häufig eher zähe Debatten, die viel Fach- und Sachwissen voraussetzen, zum anderen sind es Themen, die den Menschen meistens nicht so fest ans Herz gehen.

«Bei Wahlen in der Schweiz gehen meistens weniger als die Hälfte an die Urne.»

Sarah Bütikofer, Politikwissenschaftlerin

Zudem setzt sich die Bevölkerung sehr heterogen zusammen und nicht alle fühlen sich gleich heimisch. Viele der heutigen Zürcher:innen sind zugezogen, nicht im Kanton Zürich aufgewachsen und woanders politisch sozialisiert worden. Zusätzlich wohnen und arbeiten viele Menschen nicht am gleichen Ort. Neben nationalen stossen darum kommunale politische Angelegenheiten häufig auf mehr Interesse. Was in unmittelbarer Nähe in der eigenen Wohngemeinde passiert, ist vielen wichtiger als die kantonalen Fragen, die quasi die Zwischenebene betreffen.

Wie relevant ist diese Zwischenebene – die kantonale Politik – für die Schweiz?

Ganz generell haben die Kantone in der Schweiz im Gegensatz zu den Gliedstaaten in anderen Ländern weitreichende Kompetenzen und Möglichkeiten. Über die Zeit sind die Zuständigkeiten des Bundes zwar stark gewachsen, aber nach wie vor haben die Kantone sehr vieles selbst in der Hand zur eigenständigen Politikgestaltung. 

Was kann denn ein Kanton, was eine Gemeinde oder der Bund nicht kann?

Der Schweizer Föderalismus hält stark am Subsidiaritätsprinzip fest. Das bedeutet, dass – zumindest in der Theorie – wo immer möglich auf der unteren Staatsebene reguliert wird. Der Bund ist nur für die ihm von der Verfassung ausdrücklich zugewiesenen Bereiche zuständig. Die 26 Kantone können daher vieles selbst gestalten.

In den zentralen Bereichen Gesundheit und Bildung müssen die Kantone zwar die Vorgaben umsetzen, haben jedoch einen grossen Handlungsspielraum. Im Gesundheitswesen gilt zum Beispiel in der ganzen Schweiz das Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG). Die Kantone führen dieses aus und sind verpflichtet, die Gesundheitsversorgung zu gewährleisten und Spitäler zu betreiben. Wie sie das machen, entscheiden sie aber selbst.

Im Bildungsbereich wurde mit dem Harmos-Konkordat das Ziel festgelegt, die obligatorische Schulbildung schweizweit zu vereinheitlichen. Die Umsetzung erfolgt aber auch hier wieder in den Kantonen, die das sehr unterschiedlich handhaben. In anderen wichtigen Bereichen sind ebenfalls die Kantone zuständig, zum Beispiel in vielen Fragen der Finanzpolitik, bei der Raumplanung, bei Investitionen in Infrastruktur und Verkehrswegen, im Bereich der Kultur, der Hochschulen und der Standortförderung. Zudem hat auch jeder Kanton eine eigene Polizei. 

Die Politologin Sarah Bütikofer ist Herausgeberin der Online-Plattform DeFacto und Projektpartnerin bei Sotomo. (Foto: zVg)

Die Gemeinden haben ebenfalls weitgehende Kompetenzen: Sie können beispielsweise ihren eigenen Steuersatz festlegen, über Infrastruktur- und Bauprojekte auf dem Gemeindegebiet entscheiden, das Angebot von Kultur oder Sport bestimmen oder auch über Einbürgerungen befinden. Dabei ist aber ihr Spielraum nicht unendlich, weil sie kantonale oder nationale Bestimmungen befolgen müssen und nicht alle Kantone gewähren ihren Gemeinden in allen Bereichen gleich viel Autonomie.

Ist das Amt im Kantonsparlament für Politiker:innen weniger attraktiv, weil der Kanton hauptsächlich umsetzen muss? 

Das würde ich nicht sagen. Die Mehrheit der Mitglieder der eidgenössischen Räte bringen Erfahrung aus einem kantonalen Parlament mit. Für die einen ist der Kantonsrat das Sprungbrett in höhere Ämter auf der kantonalen oder nationalen Ebene.

Während der Kanton für Politiker:innen also ein Sprungbrett sein kann, scheint die Bevölkerung nur mässig interessiert. Auch bei den kommenden Wahlen haben bisher nur 13,4 Prozent der Stadtzürcher Stimmbevölkerung gewählt. 

Die Beteiligung in der Schweiz ist bei Wahlen allgemein eher tief, es gehen meistens weniger als die Hälfte an die Urne. Bei kantonalen Wahlen liegt sie sogar noch tiefer. Sie finden ja auch nicht überall gleichzeitig statt. Ganz allgemein sind Wahlen in der Schweiz aber halt einfach weniger wichtig als anderswo. 

Warum?

Das liegt unter anderem an der direkten Demokratie. Die stimmberechtigte Bevölkerung kann schliesslich mehrmals im Jahr und auf allen Ebenen zu ganz konkreten Sachfragen Stellung nehmen und dadurch Entscheide von Regierung und Parlament direkt beeinflussen und korrigieren.

Ist eine tiefe Wahlbeteiligung denn überhaupt problematisch?

Das kommt ganz auf die Perspektive an. Natürlich ist es für eine funktionierende Demokratie wichtig, dass die Bevölkerung ihr Recht auf Mitbestimmung wahrnimmt. Gleichzeitig legitimiert eine Demokratie auch eine Nicht-Teilnahme. Oft sind Personen, die sich nicht beteiligen, mit dem Status Quo zufrieden und vertrauen darauf, dass die anderen die richtigen Entscheidungen treffen. Andere sind schlicht nicht daran interessiert, sich mit politischen Themen oder Akteur:innen zu befassen. Und die Menschen, die in schwierigen Verhältnissen leben, sind häufig kaum mehr zu erreichen.

Das ist vielleicht auch das grössere Problem in diesem Zusammenhang: Die Beteiligung ist sehr unterschiedlich je nach gesellschaftlicher Schicht. Weniger Verdienende und weniger ausgebildete Personen sowie jüngere Menschen und lange Zeit auch Frauen beteiligen sich viel weniger. Das hat zur Folge, dass diese Gruppen in politischen Gremien unterrepräsentiert sind. Und dann fällt in der Schweiz sicherlich ganz generell auch ins Gewicht, dass ein Viertel der Wohnbevölkerung sowieso nicht teilnehmen kann, da sie keinen Schweizer Pass haben. 

Ist der Erhalt vom Status Quo auch der Grund, weshalb bisherige Regierungsrät:innen selten abgewählt werden?

Bisherige Regierungsmitglieder verfügen zum einen über einen hohen Bekanntheitsgrad und werden zum anderen an ihrem Leistungsausweis gemessen. Es kommt zwar eher selten vor, aber eben doch ab und zu, dass jemand nicht wiedergewählt wird. Das hat eigentlich immer handfeste Gründe – und ist nicht einfach nur Pech, wie das bei Parlamentswahlen mit Proporzwahlrecht manchmal eben der Fall ist. 

Denken Sie, dass so etwas in zwei Wochen passieren könnte: Wird die Bildungsdirektorin Silvia Steiner von der Mitte abgewählt und erobert die SP ihren zweiten Sitz zurück?

Ich gehe eher nicht davon aus. Silvia Steiner tritt als Bisherige mit einem Vorteil zur Wahl an. Sie ist Teil der bürgerlichen Wahlallianz, bestehend aus den vier Bisherigen von SVP, FDP, Mitte und dem neuen Kandidaten der FDP. Vergangene Woche hat sich auch die SVP noch einmal sehr deutlich und öffentlichkeitswirksam für ihre Wiederwahl ausgesprochen und entsprechend mobilisiert. In diesen Kreisen ist man ja von der Vorstellung, dass im Regierungsrat fortan zwei von der SP und jemand von den Grünen zusammen mit Mario Fehr mehrheitsfähig wären, nicht gerade angetan. 

«Die Kantonsratswahlen sind vor allem Mobilisierungswahlen.»

Sarah Bütikofer, Politikwissenschaftlerin

Trotz der Unterstützung von Mitte-Rechts musste sie in den vergangenen Wochen einiges an Kritik einstecken.

Als Zürcher Bildungsdirektorin im Allgemeinen und als Präsidentin der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektor:innen (EDK) im Speziellen hatte Silvia Steiner während der Pandemie eine exponierte Rolle. Sie war dadurch zwar sehr präsent und konnte ihren Bekanntheitsgrad steigern, aber ihre diesbezügliche Politik kam nicht überall gut an – von der einen Seite wurde ihr vorgeworfen, sie tue zu wenig, von der anderen, sie tue zu viel oder das Falsche. Und ganz allgemein wird im Moment stark über die Bildung und vor allem die Volksschule debattiert. Viele sind mit der aktuellen Situation unzufrieden. Das wird Steiner sicherlich Stimmen kosten. 

Hinzu kommt, dass sie als Mitglied der Partei «Die Mitte» im Kanton Zürich nur über eine schmale Basis verfügt. Das heisst konkret, dass sie sehr viel mehr Stimmen aus anderen Lagern generieren muss als ihre Kolleg:innen im Regierungsrat, die von einer grossen Partei getragen werden. Sie ist zudem auch nicht so die begnadete Wahlkämpferin.

Spricht das für eine Wahl von Priska Seiler Graf?

Die langjährige Beobachtung und die Statistik sprechen eher gegen ihre Wahl. Bisherige zu verdrängen gelingt mehrheitlich nicht. Nur wenn es wieder – ähnlich wie 2019 – zu einer aussergewöhnlich hohen Mobilisierung in den links-grün-progressiv-feministischen Lagern kommt, wäre so etwas denkbar. 

Wird es am 12. Februar also zu keinen Überraschungen kommen? 

Bei den Regierungsratswahlen ist eine Überraschung weniger wahrscheinlich, ja. Bei den Parlamentswahlen kann aber durchaus einiges passieren. Wie immer sind die Kantonsratswahlen vor allem Mobilisierungswahlen.

Vor vier Jahren hatten die Grünen und GLP extrem stark mobilisiert, was sich für sie schliesslich auszahlte. Im Kanton Zürich legten sie im Frühling 2019 um 4,7 und 5,3 Prozentpunkte an Wähler:innenanteilen zu und gewannen je neun Sitze im Parlament. Die Verschiebung der Mehrheiten in Richtung links-grün-progressives Lager war aussergewöhnlich. Bereits eine Stabilisierung der Verhältnisse wäre ein Erfolg für die Klimaallianz. Es ist aber denkbar, dass das Pendel etwas zurückschlägt.

Dieser Beitrag erscheint auch in der P.S.-Zeitung vom 03. Februar 2023.

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