Ukrainerin Ira: «Wir packten zeitgleich unsere Sachen – ich für die Flucht, sie für den Bunker» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Rahel Bains

Redaktionsleiterin

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2. April 2022 um 07:54

«Wir packten zeitgleich unsere Sachen – ich für die Flucht, sie für den Bunker»

Ira Evora ist «Blumenkünstlerin» und kurz nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine von Kiew nach Zürich geflüchtet. Geholfen haben ihr dabei ein guter Freund und Bekannte aus Zürich. Wenn sie auf ihre Flucht zurückblickt, sagt sie: «Es fühlte sich alles so surreal an.» Sie hofft, nun in Zürich eine neue «Flower-Family» zu finden.

Ira Evora arbeitete in Kiew neun Jahre als «Flower-Artist». Fotos: Alice Britschgi

Einen Tag. Nur einen Tag lang hat Ira Evora Ruhe, wieder ein Zuhause, bevor russische Streitkräfte in die Ukraine einmarschieren. «Ich kam nicht einmal mehr dazu, die neuen Vorhänge vor unsere Fenster zu montieren», erinnert sich die 30-Jährige. Wenige Tage nach Weihnachten kommt es in ihrer Wohnung in Kiew zu einem Brand. Kaum sind die Zimmer renoviert und wieder bezugsbereit, dröhnen schon die Sirenen durch die Strassen. «Ich war bei einer Freundin zu Hause und schaltete die Nachrichten an. Es hiess, der Krieg habe begonnen. Sollten wir die Sirenen erneut hören, müssten wir einen Bunker aufsuchen.» Per Link wird Ira darüber informiert, wo sie im Notfall unterkommen kann. 

Die beiden Frauen treffen sich mit weiteren Bekannten. Ira: «Wir sprachen über den Krieg, wussten nicht, was wir tun sollten. Irgendwann begann ich, Eier aufzuschlagen und für alle Pancakes zu machen. Es fühlte sich alles so surreal an.» Noch am selben Abend erhält Ira einen Anruf von ihrem guten Freund Lesha. Er will gemeinsam mit Ira das Land verlassen. Zeitgleich blinken auf ihrem Handy Nachrichten von Bekannten aus Zürich auf. DJs, die sie über Instagram kennengelernt und bereits mehrere Male besucht hat. Dabei lernte sie auch ihren jetzigen Freund kennen, der in Winterthur lebt. Sie bieten ihr an, einen Flug nach Zürich zu organisieren, sobald sie die Grenze passiert hat. 

Ira telefoniert mit ihrer kranken Mutter, die als Rentnerin das Land nicht verlassen will und mit der sie bis vor dem Brand in der kleinen 2-Zimmer-Wohnung mitten in Kiew zusammengelebt hat. «Ich war super lost, wie paralysiert. Während wir telefonierten, packten wir zeitgleich unsere Sachen. Ich für die Flucht, sie für den Bunker.» Iras grosse Schwester wohnt mit ihrer Familie längst nicht mehr in Kiew, sondern in der Stadt Chernihiv, die kurz darauf in Schutt und Asche gelegt wird. Neun Tage lang harrt das Ärztepaar mit seinen Kindern im Bunker aus, bevor auch sie sich dazu entschliessen, mit dem Auto einen Weg aus der Stadt zu suchen.

Gemeinsam mit einem Freund gelang Ira die Flucht nach Zürich.

Die Flucht

Ira rät ihrer Mutter noch, abends das Licht in der Wohnung auszumachen, dann fährt sie zu Lesha. Der Belarusse lebt und arbeitet seit 15 Jahren in der Ukraine und besitzt einen belarussischen Pass. Fühlte Ira zuvor noch Energie und Hoffnung schwinden, denkt sie sich nun: «Hier kann ich niemandem helfen. Ich muss weg.» Die beiden laufen zum Bahnhof. Dort sind überall Menschen: «Die Leute hatten Panik, waren dort mit ihren Haustieren. Sie hatten Tickets, doch kein Zug kam.»  

Schliesslich fährt ein Freund Ira und Lesha mit dem Auto in die 30 Kilometer entfernte Stadt Bojarka. Dort kommen sie einige Nächte bei Freund:innen unter, bevor sie sich auf eine mehrtägige Reise in verschiedenen Zügen aufmachen. Bojarka wird ebenfalls nur wenige Tage nach ihrem Aufenthalt bombardiert. «Das kann man sich nicht vorstellen», so Ira. In der Stadt Lwiw, die im Westen des Landes liegt, versuchen sie, einen Zug an die Grenze Ungarns zu erwischen. Drei Stunden warten sie am Bahnhof: «Schreckliche Szenen spielten sich ab. Es waren circa 600 Menschen dort. Frauen schrien, weil sie ihre Männer zurücklassen mussten. Kinder weinten.»

In einem Zugabteil mit weiteren neun Passagieren erreichen die beiden schliesslich einen Ort kurz vor der Grenze. Diese überqueren sie zu Fuss. Lesha wird gesagt, dass er, sollte er jemals wieder in die Ukraine einreisen, ins Gefängnis müsse. Das gleiche Schicksal drohe ihm auch in Belarus. In einer Erstaufnahmestelle erhalten die beiden Butterbrote und Wasser. Es ist minus 5 Grad. Ein Mann fährt Ira und Lesha schliesslich nach Budapest, von wo aus sie nach Zürich fliegen.

«Wir Florist:innen sind nicht ängstlich»

«Ich hatte keine Angst», sagt Ira zwei Wochen später, während sie an einem Glas Wasser nippt und an ihre Flucht zurückdenkt. Noch immer plagt sie eine hartnäckige Erkältung, ausgelöst durch die Strapazen der letzten Wochen. «Vielleicht, weil ich Floristin bin. Wir sind nicht ängstlich». Floristin sei eigentlich die falsche Bezeichnung für ihren Beruf. Passender sei «Flower-Artist», Blumenkünstlerin. In Kiew müsse man dafür tatsächlich risikofreudig sein. «Wir lassen die meisten Blumen aus Holland importieren. Dabei gehen wir jeweils grosse Risiken ein, weil die Blumen – von Zwischenhändler:innen geliefert – hin und wieder verspätet oder gar nicht eintreffen. Bezahlen müssen wir die Ware dann trotzdem», erklärt Ira. 

Neun Jahre lang kreierte Ira in Kiew Blumenarrangements für verschiedene Cafés, Restaurants, Bars oder Hochzeiten. Sie lieferte auch Blumensträusse für Privatpersonen und führte Workshops durch, etwa für Mitarbeitende von IT- oder Marketingunternehmen. Vor drei Jahren startete sie ihren eigenen Brand «Evora Flowers». Von den Aufträgen leben konnte sie mal mehr, mal weniger. Der Dezember lief gut, der Januar war «super hart», der Februar besser aufgrund des Valentinstags und im März, als sie schon die Blumen für Aufträge um den  internationalen Frauentags bestellt hatte, kam der Krieg. 

«In meiner Heimat musste ich meine Mutter und Freund:innen zurücklassen, meine Wohnung, mein Alles.»  

Ira Evora

Im Moment lebt Ira bei ihren Freund:innen in Zürich und oft in Winterthur in der 1-Zimmer-Wohnung ihres Freundes, deren Eltern sie finanziell unterstützen, bis sie hier Fuss gefasst hat. Auf die Frage, wie es sei, aufgrund des Krieges quasi dazu gezwungen zu sein, nach wenigen Monaten Beziehung bereits mit dem Partner zusammenzuleben, sagt sie: «Wir hatten ohnehin Pläne in diese Richtung. Doch so schnell wollte ich eigentlich nicht gehen. Ich mag die Schweiz und habe mir hier ein Netzwerk aufgebaut, aber in meiner Heimat musste ich meine Mutter und Freund:innen zurücklassen, meine Wohnung, mein Alles.»  

Ira möchte in Zürich eine neue «Flower-Family» finden.

Sie sei nun gespannt darauf, was als nächstes passieren wird. Gerne würde sie weiterhin Blumenkunst kreieren. Sie erzählt von seltenen Blumensorten und ihren Blütezeiten – und ihre Augen beginnen Augen zu leuchten. In Kiew war Ira auf dem Weg zur Ikebana-Meisterin. Eine Ausbildung in der japanischen Kunstform des Blumenarrangierens. Der:die Gestalter:in soll durch das Werk sowohl das Verhältnis zur Natur als auch die Gefühle, die ihn:sie während des Gestaltens bewegen, darstellen. Ganze zwölf Jahre dauert dieser Lehrgang, den Ira hier gerne fortführen möchte: «Ich liebe diesen Stil, denn er kann nicht nur traditionell, sondern auch modern umgesetzt werden. Er ist zudem nachhaltig, weil dafür nur wenige Blumen verwendet werden und es auch nicht in jedem Fall kostspielige Pflanzen sein müssen.»

Dass Ira in Zürich als Blumendesignerin Fuss fassen wird, scheint indes gar nicht abwegig: Bereits zwei Kooperationen mit Florist:innen aus Zürich sind in den letzten Tagen zustande gekommen. Ira hofft, auch hier eine «Flower-Family» zu finden. Denn: «Wir Blumenkünstler:innen sind ganz spezielle Menschen und ich vermisse meine Community in Kiew sehr.»

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