Vorfahrt für Velos, Tempo 30, mehr Menschen und mehr Grün: Was steht in den kommunalen Richtplänen? - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Steffen Kolberg

Redaktor

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29. Oktober 2021 um 04:00

Vorfahrt für Velos, Tempo 30, mehr Menschen und mehr Grün: Was steht in den kommunalen Richtplänen?

Die kommunalen Richtpläne, die Ende November zur Abstimmung stehen, sollen Zürich gleichzeitig Velo-freundlicher, leiser, dichter und grüner machen. Sie tragen damit eine klar rot-grüne Handschrift und werden dementsprechend vor allem von SVP und FDP bekämpft.

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Foto: Michael Schallschmidt

Am 28. November stimmen wir in Zürich über die kommunalen Richtpläne ab. Aber was sind kommunale Richtpläne eigentlich? Zunächst einmal eines: sehr komplex. Sie legen fest, welche Flächen in der Stadt wofür genutzt werden können. Was in den Richtplänen steht, fliesst in die Bau- und Zonenordnung ein und gibt so die Leitlinien der Stadtentwicklung vor. Die jetzt zur Abstimmung stehenden Richtpläne für Verkehr sowie «Siedlung, Landschaft, öffentliche Bauten und Anlagen» (SLÖBA) stehen unter dem Einfluss einer wachsenden Stadtbevölkerung, dem Netto-Null-Ziel 2040 sowie dem Ja zur Velorouteninitiative.

SP-Politiker Marco Denoth war Präsident der Kommission, die beide Richtpläne ausgearbeitet hat und erklärte gegenüber Tsüri.ch diesen Sommer, es handle sich um «klar rot-grüne» Richtpläne. Ein Grund für die FDP, sich in den urbanen Widerstand zu begeben und die Stadt mit «Free-Züri»-Stickern vollzukleben. Die Liberalen meinen, die «extremen» Richtpläne nähmen «unserer Stadt die Luft zum Atmen und jeglichen Charme», würden neue Velovorzugsrouten sogar blockieren und den ÖV ausbremsen. Wir meinen, das ist alles ziemlich abstrakt. Deshalb haben wir uns ein paar konkrete Massnahmen in den Richtplänen genauer angeschaut.

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Das geplante Netz der Velovorzugsrouten. Screenshot: Richtplantext Verkehr, Fassung zum Gemeinderatsbeschluss vom 2. Juli 2021

Velovorzugsrouten: 100 Kilometer Vorfahrt für Velos

Im September letzten Jahres wurde die Velorouteninitiative für sichere Velorouten mit deutlicher Mehrheit angenommen. Sie forderte bis 2030 mindestens 50 Kilometer autofreie Veloschnellrouten in Zürich. Die beinhaltet der Verkehrsrichtplan jetzt auch, plus noch einmal 50 Kilometer Velovorzugsrouten, die nicht völlig autofrei sein sollen. Auf ihnen sollen aber Velos Vortritt haben und ausserdem viele Parkplätze abgebaut werden.

Die FDP behauptet, die Erschliessung von Velovorszugsrouten werde durch den Richtplan nicht ermöglicht, sondern sogar behindert. Das hat ordnungsrechtliche Gründe: Veloschnellverbindungen wären eigentlich Sache einer übergeordneten Instanz, in diesem Fall dem regionalen Richtplan. Dieser legt analog dazu beispielsweise die Tramlinien auf dem Stadtgebiet fest, während der untergeordnete kommunale Richtplan sich um Linien der Quartierbusse kümmert. Pio Sulzer, Leiter Kommunikation beim Tiefbau- und Entsorgungsdepartement der Stadt, bestätigt, dass die Velovorszugsrouten noch im übergeordneten regionalen Richtplan festgelegt werden müssen. Aber: «Der Gemeinderat hat nach der deutlichen Annahme der Veloinitiative das neu konzipierte Veloroutennetz bereits in das aktuelle Verfahren zum kommunalen Richtplan einfliessen lassen.» Eine dahingehende Teilrevision des regionalen Richtplans solle folgen.

Tempo 30 in der ganzen Stadt

Der Hauptgrund für die Einführung von Tempo 30 ist der Strassenlärm. Wie der Tagesanzeiger schreibt, verpflichtet der Bund die Stadt per Gesetz dazu, den gesundheitsschädlichen Lärm zu reduzieren. Zudem habe das Lärmschutzgesetz zuletzt immer häufiger Bauprojekte an zu lauten Strassen gestoppt: Ein Problem für die Stadt, die ja Wohnraum verdichten will.

Die FDP sagt, durch Tempo 30 dränge mehr Verkehr in die Quartiere. Linke Politiker:innen wie Marco Denoth halten dem entgegen: Bei Tempo 30 auf Hauptstrassen könne das durch Tempo 20 auf Quartierstrassen verhindert werden. Die VBZ rechnen damit, dass diese Massnahme jährliche Mehrkosten für den öffentlichen Verkehr von 20 Millionen Franken zur Folge hätte. Der Grund: Um bei langsamerem Tempo den gleichen Takt halten zu können, brauche es mehr Fahrzeuge und Personal für Busse und Trams. Der Zürcher Verkehrsverbund ZVV möchte nicht dafür aufkommen, also müsste die Stadt die Mehrkosten tragen. Ansonsten, so das Drohszenario, müsste das Angebot abgebaut werden. Wie der SP-Kantonsrat und Verkehrspolitiker Felix Hoesch argumentiert, würden bisher auch die Mehrkosten, die dem ÖV durch Staus entstehen, bezahlt. Und da Tempo 30 eine Verflüssigung des Verkehrs bedeute, würden sich diese Mehrkosten wiederum reduzieren.

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Foto: Elio Donauer

Weniger Parkplätze und autofreie «Quartierzentren»

Der Verkehrsrichtplan sieht vor, dass die blau markierten Parkplätze deutlich teurer werden und teilweise verschwinden sollen. Blaue Zonen soll es nur noch dort geben, wo keine Privatparkplätze am Wohn- oder Geschäftsort vorhanden sind. Ein grosses Thema in diesem Zusammenhang ist, dass der historische Parkplatzkompromiss zwischen SP und FDP aufgehoben werden soll Dieser legte Mitte der 90er Jahre fest, dass im Kreis 1 für jeden oberirdisch abgebauten Parkplatz ein unterirdischer entstehen soll.

Im Siedlungsrichtplan sind sogenannte «Quartierzentren» festgelegt. Das soll die «polyzentrische Struktur» der Stadt betonen und das Konzept einer «Stadt der kurzen Wege» umsetzen: Die zentralen Elemente des Alltagslebens wie Wohnen, Arbeiten und Einkaufen sollen sich vermehrt im Quartier abspielen, mehr Läden oder öffentliche Einrichtungen in Erdgeschossen sollen die Lebensqualität vor Ort steigern. Gleichzeitig sollen die Quartierzentren möglichst autofrei sein, mit Ausnahme von Zubringerdiensten oder Gewerbeverkehr.

Der Tagesanzeiger erläutert, dass sich die Idee am Vorbild autofreier Quartierblöcke in Barcelona orientiert. Er weist gleichzeitig darauf hin, dass das dort aufgrund des Schachbrettmusters der Stadt weitaus besser umsetzbar sei als in den verwinkelt-verwachsenen Quartieren Zürichs. Die FDP sieht in der Entwicklung der Quartierzentren eine Schwächung des städtischen Zentrums und sieht von oben herab geplante «Retorten-Quartierzentren» aufziehen. Sie hält es für unrealistisch, dass sich Arbeitsplätze immer im selben Quartier finden oder dass sich am altbewährten System «Shopping in der Innenstadt» etwas ändert.

Bauliche Verdichtung vor allem im Westen und Norden der Stadt

Bis 2040 rechnet man mit 110’000 neuen Einwohner:innen in der Stadt. Die NZZ meldet, dass die Hälfte von ihnen in Zürich Nord unterkommen soll. Neben Affoltern, Oerlikon und Seebach sollen sich auch Escher-Wyss, Albisrieden und Affoltern im Westen stark verdichten. Dazu sind in diesen Quartieren grössere Flächen ausgewiesen, die dichter bebaut werden sollen als heute durch die Bau- und Zonenordnung erlaubt wäre. Das zieht natürlich auch mehr öffentliche Infrastruktur nach sich: Man rechne «mit 14 neuen Schulhäusern und weiteren 14, die stark erweitert werden müssen», so die NZZ - insgesamt würden nach Angaben der Stadt 17 Hektar mehr Fläche für Schulanlagen erschlossen. Wegen der Verdichtung sagt neben der SVP und der FDP auch die EVP Nein zum Siedlungsrichtplan: Er bringe «noch mehr Grossbauten, noch mehr Hochhäuser», so Gemeinderat Ernst Danner im Zürcher Tagblatt. Er meint: «Das Ergebnis wird mehr Beton und weniger Grün sein.»

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Die beiden langgezogenenen, mit B markierten Bereiche in der Bildmitte sind die geplanten Freiflächen an Sihlfeld- und Seebahnstrasse. Der umrandete Bereich von der Langstrasse bis zum Albisriederplatz markiert ein sogenanntes «Quartierzentrum». Screenshot: Richtplan-Viewer der Stadt Zürich

Mehr Grün und die Entwicklung eines «Freiraumsystems»

Dabei sieht der Richtplan als Ausgleich zur Verdichtung eigentlich deutlich mehr Grün vor. 40 Hektar neue Freiräume sollen in Zürich entstehen, bestehende Freiräume wo nötig aufgewertet werden. Das sei notwendig, denn «die Versorgung mit öffentlich nutzbarem Freiraum in diesem Gebiet ist bereits heute mangelhaft», so Pio Sulzer vom Tiefbau- und Entsorgungsdepartement. Dieses «Freiaumsystem» soll laut Richtplan durch «Fusswege mit hoher Aufenthaltsqualität», also gut ausgebaute Fusswege möglichst abseits grosser Hauptstrassen, durch das ganze Stadtgebiet hindurch verbunden werden. Das dient nicht nur der Erhöhung der Lebensqualität der Bewohner:innen, sondern auch dem Schutz vor einer Überhitzung des Stadtraums. Laut einer städtischen Studie sind davon nämlich besonders die Gebiete im Talkessel an der Limmat betroffen.

Und so befinden sich zwei der prominentesten Freiflächenprojekte auch im Kreis 4 links der Limmat. Das eine ist eine Überbauung der tiefliegenden Gleise neben der Seebahnstrasse. Darauf soll eine Parkanlage entstehen. Die Grünen hatten dieses Grossprojekt in einer früheren Phase des Richtplans noch als unrealistisch und teuer abgetan und stattdessen ein Freiflächenprojekt ganz in der Nähe vorgeschlagen: Die Sihlfeldstrasse soll sich in eine autofreie, begrünte Magistrale für Fussgänger:innen und Velofahrende verwandeln. Beginnen soll sie am Bullingerplatz und bis zum Gertrudplatz an der Ecke Sihlfeld- / Zurlindenstrasse führen. Im Richtplan finden sich nun sowohl die Gleisüberbauung an der Seebahn- als auch die Umwandlung der Sihlfeldstrasse. Laut Pio Sulzer fand der Antrag, den Seebahnpark zu streichen, keine Mehrheit im Gemeinderat, der Antrag zur Umwandlung der Sihlfeldstrasse aber schon: «Darum sind nun beide Themen im Richtplan vermerkt.» Der Richtplan habe jedoch die primäre Aufgabe, Flächen und Standorte zu sichern - Fragen der Umsetzung seien Teil der nächsten städtebaulichen Phase.

Gut nutzbare und qualitativ hochwertige Freiräume auf privatem Grund ergänzen das öffentliche Angebot.

Richtplantext SLÖBA

Die FDP sieht durch die Verdichtung und das einhergehende Freiraumkonzept die Gefahr heraufziehen, dass Zürcher:innen ihre privaten Gärten und Balkone für die Öffentlichkeit öffnen müssten. Sie bezieht sich dabei auf die folgende Passage im Richtplan: «Gut nutzbare und qualitativ hochwertige Freiräume auf privatem Grund ergänzen das öffentliche Angebot. Knappe Flächen am Boden sind in der Vertikalen beispielsweise mit Balkonen und zugänglichen Dachgärten zu ergänzen.» In den Augen der FDP droht damit, «dass Fremde auf den privaten Balkonen der Zürcherinnen und Zürcher frühstücken oder ihr Feierabendbier geniessen». Vielleicht ist diese Interpretation aber auch etwas unterkomplex.

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