Wir müssen über die «Jungfräulichkeit» reden. Es gibt sie nämlich nicht. - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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14. August 2017 um 07:58

Wir müssen über die «Jungfräulichkeit» reden. Es gibt sie nämlich nicht.

Lass’ uns Stein für Stein das Patriarchat abbauen. Du kannst die Jungfräulichkeit nicht haben, sie ist kein Ding, du kannst sie auch nicht verlieren. Drei Teilantworten auf die Frage «Ist Jungfräulichkeit ein Konstrukt und wenn ja wie viel?». Bisch parat? Lass ois.

1. HY-WAS

Das Konzept der Jungfräulichkeit beginnt da problematisch zu sein, wo es an Kompetenz verliert. Also ganz zu Beginn. Es gibt keinen praktischen Weg festzustellen, ob jemand ‚noch Jungfrau’ ist; die Idee ist, so scheint es, kaum totzukriegen. Aber das Hymen, auf das die Verfechter der 'Purheit' gern verweisen, ist kein verlässlicher Indikator dafür, ob eine Cis-Frau Sex hatte (warum will eigentlich keiner wissen, wie ich testen kann, ob mein Freund noch ‚pur’ ist? Aaanyways). Das Hymen, das Häutchen dessen oder fälschlicherweise mit (erster) vaginaler Penetration in Beziehung gesetzt wird, umrahmt die Vaginalöffnung und sieht bei jedem* / jeder verschieden aus. Dieses Häutchen kann gedehnt werden, wenn etwas in die Vagina eingeführt wird; es reisst nicht einfach wild vor sich her. Das ominöse Blut, an dem erkannt werden soll, ob jemand noch Jungfrau war, stammt nicht vom zerrissenen Hymen sondern von der Reibung. (Das kann, muss aber nicht passieren. Ich wiederhole mich, aber: Lube. Use it.)

2. Heteronormativität

So weit, so ugh. Das Konzept der Jungfräulichkeit stellt uns aber noch vor weitere Probleme. Selbst wennes am Hymen überprüfbar wäre: was hiesse das für alle Nicht-Heterosexuelle, Nicht-Cis-Leuts? Venus verdrückt jedes Mal eine Träne, wenn jemand meint, die einzige Form von Sex wär’ Penis-in-Vagina-Penetration. Nach der Theorie der Jungfräulichkeit: bin ich noch Jungfrau, wenn ich zwar Oral- und Analsex hatte, aber noch kein Penis seinen Weg in meine Vagina fand? Ist ein Mann, der sein Leben lang nur Sex mit Männern hat, ewige Jungfrau? (LOL nei.) Anders gefragt: Ab wann gilt’s? (Dasselbe gilt für die Hymen-unabhängige Idee von Jungfräulichkeit: «Jungfrau ist, wer keinen Sex hatte» – wo hört Kaffeetrinken auf, wo fängt Sex an?)

Vor uns haben wir also wieder etwas, dass die Existenz nicht-heterosexueller Arten von Sex verneint und gleichzeitig versucht, die weibliche Sexualität zu unterdrücken. Eine andere Frage drängt sich auf: Was ist mit Opfern sexueller Gewalt? Wir halten fest (bis es der*die letzte auch verstanden hat): Vergewaltigung ist keine Form von Sex. Verliert jemand, der Opfer forcierter vaginaler Penetration geworden ist, die Jungfräulichkeit?

3. Wer hat noch nicht, wer will nochmal

Das ist eine der Gefährlichkeiten des sozialen Konstrukts Virginity. Die Idee, dass ich (als Frau), an «Wert» verliere, wenn ich bereits Sex hatte; aka. wenn ich bereits «gebraucht wurde». Mein Körper, also ich, wird als Produkt angesehen, das man wie eine Zahnbürste eben lieber ungebraucht nutzt.

Ironischerweise erleben junge Männer auf der anderen Seite den Druck, möglichst früh ihre Jungfräulichkeit ‚loszuwerden’ und ‚zum Mann zu werden’. Der (heteronormative) Umgang mit Jungfräulichkeit geht am Ende des Tages auch einfach nicht auf.

Ich erinnere mich an einen Exfreund, der mich fragte, mit wie vielen Männern ich vor ihm Sex gehabt habe. Ich musste kurz zählen (nicht, weil es so dermassen viele sind, sondern weil ich so schlecht im Zählen bin) und ihm ist fast der Bart in den Schoss gefallen. Unser Wert hängt absolut nicht mit der Anzahl vergangener Sexpartner*innen zusammen und die Idee, dass Jungfräulichkeit etwas ist, das es sich zu bewahren lohnt; das man überhaupt verlieren kann; das überhaupt etwas ist, gehört begraben. Sie ist sexistisch, heteronormativ und mangelt vernünftige Grundlage. Adie.

* Guete Morge, Trans-Männer existieren und sind wegen einer Vagina nicht weniger Mann. Kannst dich gleich wieder hinsetzen.

Titelbild: Flickr/Quinn Dombrowski

Dieser Text ist Teil der feministischen Sexkolumne auf Tsüri.ch. Im Juli und August wechseln sich die Autorinnen Maaike Kellenberger und Miriam Suter in je fünf Folgen mit ihren Ausführungen zu den Themen Sexualität, Feminismus und allem, was dazu gehört, ab.

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