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18. Mai 2019 um 09:00

Unfreiwillig alleine: Die Welt aus der Sicht eines Incels

Paul Stutz bezeichnet sich heute als «glücklich verheiratet». Dass dies einmal möglich sein würde, glaubte er lange nicht. Als sogenannter Incel – Involuntary Celibate – lebte er viele Jahre als unfreiwilliger Single. Redaktorin Lydia hat sich mit ihm getroffen, um mit ihm über seinen Alltag und seine Geschichte zu sprechen.

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Das zentrale Thema der Incels ist Einsamkeit. Gespräche darüber führen sie vor allem in Internetforen wie beispielsweise auf Reddit.

Will man sich einloggen, ploppt oft als erstes ein gelbes Schild mit einem Ausrufezeichen und einer Warnung auf: «Dieses Forum ist schockierendem oder hochoffensivem Inhalt gewidmet». In den Foren tauschen sich tausende meist männliche Mitglieder mit Memes, Bildern und Erfahrungsberichten über ihr Leben ohne Zuwendung einer Frau aus.

Meistens in Englisch wird abgehandelt, wie unfair der Datingerfolg verteilt ist, welche Vorteile Frauen im Leben haben und welche negativen Auswirkungen der Feminismus auf die Gesellschaft hat. Stutz beobachtet die Diskussionen und gibt hin und wieder Ratschläge an Betroffene. Dabei zeigt er ihnen, dass er Verständnis für ihre Situation hat.

Erzählt er von Incels, die oft wenig Sinn im Leben sehen, kommen ihm die Tränen. Viele ihrer Erfahrungen erinnern den Wissenschaftler an seine eigene Vergangenheit: «Ich verbrachte viele Jahre meines Lebens als Incel», sagt er. Von der Gesellschaft sieht er die Incels häufig viel zu aggressiv oder verschroben dargestellt, deshalb möchte er in diesem Text auch nicht mit seinem richtigen Namen erscheinen. Das Treffen mit Tsüri.ch war die Folge eines Artikels über Frauen, dessen Inhalt ihm missfiel, worauf er die Redaktion kontaktierte.

Der folgende Text ist eine Nacherzählung aus seiner persönlichen Perspektive.

«Ich wuchs auf dem Land auf. Die ersten Erinnerungen meiner Kindheit sind Albträume, Träume, in denen ich alleine und wie gelähmt in einer Betonbox lag, in der ich niemanden sah oder von niemandem in den Arm genommen wurde. Ich weinte viel alleine, meine Mutter vermochte mir die Nähe, die ich als Säugling brauchte, nicht zu geben, oder hatte keine Zeit für mich. Sie verstand mein Bedürfnis nach Zuneigung nicht oder wertete die 50er-Jahre-Doktrin, wonach man Kinder nicht verwöhnen solle, höher. Meine Albträume begleiteten mich lange Zeit und wurden schliesslich Teil meiner Realität.

Besonders schmerzhaft wurde mir das bewusst, als ich in den Teenagerjahren einen oder zwei Versuche startete, meiner Geliebten näher zu kommen. Doch ich scheiterte. Wir sollten uns in der Badi treffen. Das war gar nicht mein Ort. Sie kam mit einer Kollegin und sass dort im Bikini, doch ich kam mit mir nicht zurecht. Ich fühlte mich hässlich, bleich und war nicht so redegewandt, dass ich sie hätte überzeugen können. Aus dieser Freundschaft wurde nichts. Lange versuchte ich es nicht mehr. Ich besuchte das Gymnasium, begann ein Maschinenbau-Studium.

Meine Einsamkeit hielt an. Obwohl ich mit Bestnoten das Gymnasium abschloss und mein Studium mit guten Noten begann, war in mir drin nichts in Ordnung. Ich sehnte mich nach Freundschaft, Beziehung und Nähe, doch all das wurde mir verweigert. Den Begriff Incel kannte ich damals noch lange nicht. Er ist auch heute ausserhalb des Internets wenig bekannt. Ich stiess erst vor einem Jahr per Zufall darauf. Seither tausche ich mich intensiv mit anderen Usern auf Reddit über ihre Erfahrungen aus. Viele machen heute aus verschiedenen Gründen Ähnliches durch. Ich möchte ihnen sagen, was ich seither gelernt habe und dass es Hoffnung gibt.

Ich sehnte mich nach Freundschaft, Beziehung und Nähe, doch all das wurde mir verweigert.

Ich selbst bin mittlerweile verheiratet. Doch bis ich 25 Jahre alt war, hatte ich keine Freundin und meine Zeit war gefüllt mit quälender Einsamkeit. Ich verbrachte Frustmomente vor der selbstgebauten Musikanlage, zog mir die Musik rein, welche die Orgel später auf meiner Beerdigung spielen sollte. Nur der letzte Funken Hoffnung, dass sich mein Zustand noch ändern würde und meine Familie hinderten mich daran, Suizid zu begehen.

Ehefrau über eine Annonce

In diese Situation hinein kam schliesslich mein «Engel». Heute würde man sie als Prostituierte bezeichnen. Eine Studentin sprach mich an und wollte Nachhilfeunterricht von mir. Ich verstand lange nicht, um was es ihr wirklich ging. Endlich begriff ich, dass sie tatsächlich mit mir schlafen wollte. Das war wunderschön für mich. Dass sie gleichzeitig mit anderen Männern zusammen war, nahm ich dafür gerne hin.

Nach ihr fand ich meinen Weg in ernsthafte Beziehungen. Die erste aber brach ich ab, im Irrglauben, mit einer jüngeren Frau verlorene Lebensjahre nachholen zu können. Das war letztlich auch eine Folge meines Traumas.

Meine Ehefrau lernte ich schliesslich über eine Annonce kennen. Es haben sich 40 Männer bei ihr gemeldet, sie wählte mich. Auf Männerannoncen melden sich jeweils viel weniger Frauen. Das scheint mir sinnbildlich. Ich musste schmerzlich lernen, dass die Situationen für beide Geschlechter sehr ungleich sind.

So zeigt beispielsweise eine Untersuchung auf der Internetplattform «Tinder», dass die attraktivitätsmässig unteren 80% der Männer um die unteren 20% der Frauen konkurrieren müssen, während die oberen 80% der Frauen sich nur für die obersten 20% der Männer interessieren. Ich denke, das ist evolutionsbedingt. Da die Frau für ein ganzes Lebensjahr nur Nachwuchs von einem einzigen Mann haben kann, muss sie diesen sehr gut auswählen.

Frauen können wählen – Männer sollen stark und unabhängig sein

Bis ich meiner Frau von meiner Vergangenheit erzählte, dauerte es lange. Denn diesen Fehler habe ich bereits einige Male gemacht: Den Frauen zu sagen, wie sehr ich sie bräuchte. Was folgte, war Ablehnung und schliesslich Isolation. Wenn man die Liebe am meisten braucht, erhält man sie nicht – das erfuhr ich mehrmals.

So wurde ich auch härter und hatte kaum Mitleid mehr mit Frauen, die sich einen Bad-Boy schnappten und verletzt wurden. Wieso sollte ich Mitgefühl haben mit Frauen, die Bad-Boys einem Mann wie mir vorzogen? Ich bin immer noch neidisch auf Frauen: Sie werden natürlicherweise begehrt und können wählen. Wir Männer müssen stark und gefühlsunempfindlich sein. Zeigen wir Schwächen oder sind physisch nicht attraktiv, haben eine Glatze oder sind klein, werden wir abgeschrieben.

Ich bin immer noch neidisch auf Frauen.

In Umkehrung von Ursache und Wirkung wird Incels oft vorgeworfen, sie würden von Frauen abgelehnt, weil sie diesen gegenüber reserviert sind. Doch niemand wird so geboren. Incels werden reserviert, gerade weil sie stets nur Ablehnung erfahren. Leuten, die nicht müde werden, Incels zu erklären, dass es kein Recht auf Liebe und Sex gebe, kann ich nur bitter erwidern, dass es aber auch keine Verpflichtung gibt zu einem Leben ohne.

Ein weiteres Vorurteil ist, dass Incels gewalttätig seien und Viele gehen noch weiter; sie machen sofort einen Link zwischen Incels und Amokläufern. Das ist absurd und macht mich wütend. Wenn ein Amokläufer Zeuge Jehovas gewesen wäre, würde man deswegen ja auch nicht alle Zeugen Jehovas der Gewalt bezichtigen.

Geschätzt gibt es auf der Welt über 100 Millionen Incels. Von diesen haben in den letzten Jahren vier ein Attentat verübt. Von ihnen auf alle zu schliessen, finde ich mehr als unfair.

Ich suche manchmal einfach nur Körperkontakt

Das Resultat dieser Vorteile ist, dass Incels die Aufmerksamkeit in ihrem Umfeld meiden und sich stattdessen lieber in der Anonymität des Internets austauschen, in Foren wie Suicide Alert, in denen sich die Betroffenen, meist in englischer Sprache, über ihre Situation unterhalten. Da erzählen sie, wie sehr sie sich dieses Leben nicht mehr vorstellen können.

Ein Incel kann dein Onkel oder Kollege sein.

Auch wenn ich bereits 60 Jahre alt bin und meine Kinder bereits erwachsen sind, nehme ich heute aktiv an den Diskussionen auf Reddit teil. In meinen Posts erzähle ich meine Geschichte und probiere mit Antworten an Einzelne wieder ein wenig Hoffnung in verzweifelte Lebenssituationen zu geben.

Meine Frau kennt meine Geschichte, trotzdem bin ich für ihren Geschmack nun manchmal fast zu oft auf Reddit. Doch sie versteht, was diese Geschichte mit mir machte und lässt mir auch Zeit. Sie ist für mich da, wenn ich manchmal einfach nur Körperkontakt auftanken möchte. Ich bin glücklich mit ihr. Trotzdem spüre ich von Zeit zu Zeit noch die Narben jener alten Wunden, der Jahre der Einsamkeit. Das ist für mich Grund genug, mich zu engagieren und immer wieder zu sagen: Wir Incels sind nicht so wie die Masse uns sehen will – gewalttätig und an unserem Schicksal ganz selbst schuld. Ein Incel kann dein Onkel oder Kollege sein. Derjenige, der bei der Party alleine an der Bar steht oder der schon gar nicht erst kommt. Genau weil er weiss, dass er alleine sein wird.»

Illustration: Florentina Walser

Wir möchten noch einmal darauf hinweisen, dass dieser Artikel ausschliesslich die Meinung und Haltung des portraitierten Incels wiedergibt. Der Artikel entstand aufgrund eines Mailverkehrs und eines Treffens mit dem Protagonisten. Da sich weltweit tausende Menschen, vorwiegend Männer, in Incel Foren befinden entschied die Redaktion, dass es wichtig ist, diese Bewegung näher zu erläutern. Um einen möglichst tiefen und authentischen Einblick zu erhalten, liessen wir einen Mann reden, der sowohl die Seite der incels als auch der Menschen in Beziehung kennt. An dieser Stelle möchten wir aber auch erwähnen, dass die Autorin und Tsüri.ch sich klar von jeder Art von Hass im allgemeinen und dem Aufruf zur Abgrenzung und zum Sexismus wie er in manchen incel Foren propagiert wird distanziert.

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