Von wegen faul: Menschen in der Schweiz arbeiten mehr als früher - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Trotz Teilzeittrend wird mehr gearbeitet als früher

Die Menschen in der Schweiz arbeiten nur noch Teilzeit und immer weniger – auf Kosten von Wohlstand und Staatskasse. So steht es oft in den Medien. Doch diese Story stimmt nicht. Im Durchschnitt arbeiten wir zwei Prozent mehr als noch 1996.

Oft wurde in letzter Zeit das Bild der arbeitsfaulen Teilzeitakademiker:innen verbreitet. Die Fakten sprechen eine andere Sprache. (Foto: Simon Boschi)

Manche behaupten, Zürich höre beim Milchbuck auf. Dass das nicht stimmt, wissen wir längst. Doch um deinen Horizont über die Stadtgrenzen noch ein bisschen mehr zu erweitern, wählen wir für dich jeden Sonntag eine Perle von unseren verlagsunabhängigen We.Publish-Partnermedien aus.

Dieser Text ist bereits auf unserem Partnerportal Hauptstadt erschienen. Das Onlinemagazin Hauptstadt gehört wie Tsüri.ch zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz und informiert seit Anfang 2022 Berner:innen und Nicht-Berner:innen über die Geschehnisse in der Schweizer Hauptstadt.

«Die Schweizer arbeiten immer weniger», «Schweizer arbeiten nur 31 Stunden pro Woche» oder «Generation Arbeitsverweigerung»: Diese und ähnliche Aussagen war in den vergangenen Monaten in fast jedem gewichtigen Schweizer Medium zu lesen. Die geleisteten Arbeitsstunden würden sinken, wird berichtet. Und oft wird gleich auch suggeriert, wir alle, oder zumindest die Jungen, würden fauler. Zuletzt vergangenen Sonntag in der «SonntagsZeitung», wo der Berner Bildungsökonom Stefan Wolter verlangte, dass studierte Personen zu einem Mindestpensum verpflichtet werden, damit sie via Steuern die Kosten ihres Studiums zurückzahlen.

Das Problem an diesem und Dutzenden anderen ähnlichen Artikeln, die immer wieder für Aufregung sorgen: Es fehlt ihnen die faktische Grundlage. Bereits die Aussage, wir würden immer weniger arbeiten, ist schlicht falsch – und auch in den Details wird es schwammig.

Dies zeigt eine ganz einfach verfügbare und auch gut verständliche Kennzahl des Bundesamtes für Statistik: das durchschnittliche Arbeitspensum aller Personen im erwerbsfähigen Alter. 1996 arbeiteten wir im Schnitt 70 Prozent, heute sind es 72 Prozent. Wir arbeiten also alle zusammen sogar ein bisschen höherprozentig als früher. Ja, wer hätte das gedacht: Wir arbeiten mehr.

Grafik: Screenshot Hauptstadt

Aber wie ist das möglich, dass diese doch recht krasse Fehldeutung so oft ihren Weg auf die Titelseiten der Medien findet? Weil viele Kommentatoren einen Teil der Wahrheit einfach ausblenden. Viele Journalistinnen und auch Volkswirtschaftler ignorieren oder vergessen den trivialen Fakt, dass es heute weniger Hausfrauen gibt als früher. Die Schreibenden und Forschenden teilen die geleisteten Arbeitsstunden nicht durch alle Personen, die arbeiten könnten – also durch die Anzahl Personen im erwerbsfähigen Alter –, sondern nur durch die, welche tatsächlich gegen Geld arbeiten, die sogenannten Erwerbstätigen. Da heute aber ein breiterer Anteil der Schweizer Bevölkerung einer Lohnarbeit nachgeht, ist der Durchschnittswert der geleisteten Arbeitsstunden pro Person logischerweise tiefer als früher.

Dies bestätigt auch Daniel Kopp von der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich: «Es gibt in den Statistiken keinen sichtbaren Trend dazu, dass wir insgesamt weniger arbeiten», sagt er auf Anfrage. Es finde schlicht eine Umverteilung der Arbeit statt. Die Männer würden ihr Pensum leicht reduzieren, die Frauen leicht erhöhen oder neu in den Arbeitsmarkt einsteigen. In 30 Jahren hat der Anteil der Männer, die weniger als 90 Prozent arbeiten, nur von knapp 8 auf gut 18 Prozent zugenommen. Ginge diese Entwicklung im gleichen Tempo weiter, würde es noch geschlagene 92 Jahre dauern, bis die Hälfte der Männer Teilzeit arbeiten würde.

Teilzeit-Akademiker ermöglichen durch die Pensenreduktion oft den Frauen höhrere Arbeitspensen. Das nützt letztlich Wirtschaft und Gesellschaft. (Foto: Simon Boschi)

Doch wie sieht es bei den Akademiker:innen aus? Ihnen wird besonders oft vorgeworfen, sie würden zu wenig arbeiten. Bildungsökonom Wolter nennt als Beispiel die Kassiererin, die es sich im Gegensatz zur studierten Juristin nicht leisten könne, das Pensum zu reduzieren und trotzdem indirekt via Einkommenssteuern an die Bildungskosten der Juristin mitzahlt. Auch dieses Beispiel ist statistisch irreführend, denn gerade studierte Frauen arbeiten gemäss BFS durchschnittlich in einem höheren Pensum als Frauen, die keine Uni oder Fachhochschule absolviert haben.

Zudem verursachen die verschiedenen Studiengänge dem Staat sehr unterschiedlich hohe Kosten. Eine Diskussion darüber, wer wie viel arbeiten müsste, damit es sich für den Staat «rentiert», müsste also konsequenterweise dazu führen, dass eine Juristin in einem sechs mal tieferen Pensum tätig sein dürfte als ein Zahnarzt. Um diesen Faktor unterscheiden sich nämlich die Kosten dieser Studiengänge pro Studierende.

Zurück zu den Akademiker-Männern: Bei ihnen ist Vollzeit zwar nach wie vor die Norm, von den knapp einem Fünftel der Männer, die ihr Pensum reduzieren, wählen wie bei den Frauen aber auch die Akademiker eher höhere Teilzeitpensen als Unstudierte.

Die Teilzeit-Akademiker treffen mit ihrer Pensenreduktion übrigens einen langfristig klugen Entscheid – nicht nur für sich selbst, sondern auch für die vielfach beschworene Wirtschaft. Als Väter können sie so einen fairen Anteil der Care-Arbeit übernehmen und ermöglichen so ihrer Partnerin, ihre berufliche Karriere ebenfalls weiterzuverfolgen. Dies entlastet die Gesellschaft, denn je länger und stärker Frauen nach der Geburt das Pensum reduzieren, desto mehr Mühe haben sie später, wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen – wenn sie es denn überhaupt schaffen. Wenn die Kinder älter sind, ist der Wiedereinstieg oder Erhöhung des tiefen Pensums wegen fehlenden Weiterbildungen massiv erschwert. Fast 25 Prozent aller Mütter mit Kindern zwischen 12 und 14 Jahren würden gerne mehr arbeiten, können aber ihr Pensum nicht erhöhen, kurz nach der Geburt sind es nur gut 10 Prozent.

«Nimmt man alle Menschen in den Blick, leisten wir als Gesellschaft heute nicht weniger als früher – sondern sogar etwas mehr.»

Simon Preisig

Durch die Unterbeschäftigung der Mütter entgehen dem Staat über die Jahre Steuern in Milliardenhöhe, sogar dann noch, wenn die Kinder längst erwachsen und ausgeflogen sind. Hat die Gesellschaft (und natürlich besonders die betroffene Frau) zusätzlich Pech und die Mutter scheidet respektive trennt sich, ohne den Weg zurück in den Arbeitsmarkt gefunden zu haben, dann werden nach der Pensionierung noch Tausende von Franken an Ergänzungsleistungen fällig. Väter, und das werden doch immerhin 4 von 5 aller Männer, verschärfen mit einer Reduktion des Pensums um 20 bis 30 Prozent also nicht den Fachkräftemangel, nein, sie entschärfen ihn. Denn sie ermöglichen der (nach Statistik sogar besser ausgebildeten) Partnerin, nach der Geburt voll im Erwerbsleben zu bleiben.

Bleiben noch die Paare ohne Kinder. Stimmt wenigstens bei ihnen die medial häufig geäusserte Behauptung, dass sie wegen des Trends zu Teilzeit trotz fehlender Betreuungsaufgaben weniger arbeiten? Nein. Die Statistik zeigt sogar eine leicht überdurchschnittliche Zunahme des Erwerbspensums von 70 auf 73 Prozent seit 1996, über alle Personen sind es 70 auf 72 Prozent, siehe oben.

Und die Jungen? Sogar bei denen enttäuscht die Statistik die Teilzeit-Verteufler:innen. Das durchschnittliche Arbeitspensum der unter 25-Jährigen ist in den vergangenen 25 Jahren nur um 1 Prozent gesunken, obwohl heute deutlich mehr Menschen studieren. Das durchschnittliche Pensum der unter 40-Jährigen ist sogar von gut 75 auf fast 80 Prozent deutlich gestiegen.

Was ist also dran an diesen in den vergangenen Monaten erschienenen Artikel, in denen in alarmistischem Ton vor einem Rückgang der Arbeitszeit wegen Teilzeit gewarnt wird?

Nicht viel, kann man kurz und einfach konstatieren. Nimmt man alle Menschen in den Blick, und nicht nur den männlichen Normarbeiter von 1970, leisten wir als Gesellschaft heute nicht weniger als früher – sondern im Gegenteil sogar etwas mehr. Ironischerweise aber schaffen die Teilzeit-kritischen Texte ein Narrativ, das ausgerechnet der Wirtschaft schadet: ohne Teilzeit arbeitende Männer und Frauen bliebe noch mehr Arbeitspotenzial insbesondere von Müttern ungenutzt. Es sind genau solche Vorstellungen eines Vollzeit-Ernährers, die ein Vorankommen der Gleichstellung in der Schweiz seit Jahrzehnten behindern.

Anm. d. Red. zur Interessenbindung des Autors: Simon Preisig ist freier Journalist und arbeitet seit Juni 2022 beim Frauendachverband alliance F.

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