Tinder in Teheran: Irans Jugend kämpft gegen Unterdrückung - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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30. Mai 2017 um 10:01

Tinder in Teheran: Irans Jugend kämpft gegen Unterdrückung

Einen Monat bin ich durch den Iran gereist. Auf meinen Stationen habe ich mit jungen Iraner*innen über ihre Sorgen und Hoffnungen gesprochen. Über ihren Wunsch nach mehr Demokratie und mehr Rechte für Frauen. Das Land, das von vielen als Brennkessel für Terrorismus angesehen wird, zeigt sich mir gegenüber als offenes und liebevolles Land voller zuversichtlicher Menschen. Ach ja, und zum Alkohol wurde ich natürlich auch ständig eingeladen.

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Iran, Samstag 20. Mai. Es ist heiss in Teheran, das ist normal. Heute ist aber kein normaler Tag, heute wird der neue Präsident des Landes gewählt. Seit Wochen spürt man die Anspannung der Iraner*innen. An jeder Ecke prangen die Konterfeis der Präsidentschaftsanwärter. In den letzten Tagen vor der Wahl mobilisieren Anhänger*innen der jeweiligen Kandidaten nochmals ihre ganze Kraft – vor allem junge Menschen, die auf Neuerungen hoffen. Viele werden von vorbeifahrenden Autos mit Hupkonzerten belohnt.

Die beiden Spitzenkandidaten sind der amtierende Präsident Hassan Rouhani, der als liberaler Reformator gilt, und Ebrahim Raisi, sein erzkonservativer Konterpart.

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(Die zwei Spitzenkandidaten: Hassan Rouhani (liberal, 68), Ebrahim Raisi (konservativ, 56))

An diesem Samstag sieht man auf Instagram tausende lila gefärbter Fingerkuppen. Es ist das Zeichen, dass man gewählt hat. Viele Finger sind gekreuzt – ein Zeichen für Hoffnung. Vor den Wahllokalen herrscht grosser Andrang. Sowohl in den Städten, als auch in den Dörfern. Nebst der wählenden Bevölkerung sieht man vor allem Polizisten und Soldaten.

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(Tausende lilafarbender Finger auf Instagram)

Das alles verfolge ich von meinem gut behüteten Zürich aus. Während ich am frühen Samstagmorgen meinen Kaffee trinke, bangen die vielen Menschen, die ich kennenlernte und nun meine Freunde nennen darf, um ihre Zukunft. Sie alle sind nervös, fürchten, dass Raisi gewinnt und Rouhanis Reformen über Bord wirft. Eine Freundin witzelt und verabschiedet sich bittersüss von mir, «da wohl bald das Internet gekappt wird im Iran» Ich witzele zurück und meine, dass wir dann Brieffreunde werden. Wir lachen beide, um die Angst zu vertreiben. Einige sorgen sich sogar, dass ein Krieg ausbricht. Ein Krieg gegen Trumps Amerika. Bei seinem kürzlichen Besuch in Saudi Arabien machte Trump den Iran für die Instabilität im Nahen Osten verantwortlich und beschuldigte das Land den Terrorismus zu fördern.

Demokratie, Revolution und Vorurteile

Der Staat ist besorgt um die Sicherheit. 2009 wird dem wiedergewählten Präsidenten Ahmedinedschad Wahlbetrug vorgeworfen. Zehntausende gehen auf die Strasse und protestieren gegen ein korruptes System und einen Unterdrückungsstaat. Tagelang, wochenlang, monatelang. Im Westen hofft man auf eine Revolution, doch die Demonstrant*innen werden mit eiserner Faust niedergeschmettert. Keine Metapher sondern blutige Realität. Polizeipatrouillen auf Motorrädern machen mit Eisenstangen Jagd auf unerwünschte Bürger*innen. Tausende kommen ins Gefängnis, dutzende sterben – die «Revolution» wird im Keim erstickt. Soweit soll es diesmal nicht mehr kommen. Ahmedinedschad ist Geschichte und es wird nicht mit grossen Unruhen gerechnet. Die Polizei geht trotzdem auf Nummer sicher und zeigt an den wichtigsten Knotenpunkten haufenweise Präsenz.

Iran? Dort gibt’s doch nur Terroristen!

Kurz vor der Wahl musste ich den Iran verlassen, da mein Visum auslief. Mit mulmigem Gefühl stieg ich ins Flugzeug und musste meine Freund*innen in dieser unsicheren Zeit zurücklassen. Sie baten mich mit den vielen Vorurteilen, die im Westen über ihr Land verbreitet werden, aufzuräumen. Beschämt musste ich ihnen Recht geben. Als ich Freund*innen und Familie von meiner geplanten Iranreise erzählte, erhielt ich viel Kopfschütteln und sorgenvolle Blicke. «Du wirst gesteinigt!», «Das ist viel zu gefährlich!», «Spinnst du eigentlich?», hiess es. Mit einem Lächeln redete ich alle Bedenken klein. Es war ein aufgesetztes Lächeln – tief im Inneren wusste ich nicht was auf mich zukommen wird.

Tindern in der Islamischen Republik Iran

«Wir sind keine Terroristen...», sagt Nesrin* genervt, «wir sind ganz normale Menschen, wie ihr auch», legt sie verzweifelt nach. Die 24-Jährige ist Fotografin, liebt den Comedian Louis C.K. und die Avantgard-Trip-Hop-Band Portishead. Sie lebt in Maschad, der «heiligsten» Stadt im Iran.

Ich habe Nesrin durch Tinder kennengelernt. Tinder, Facebook, Reddit und viele andere Kanäle sind im Iran gesperrt. Für die technikaffinen Iraner*innen ist ein Umgehen der Zensur aber kein Problem. Im Westen geniesst die Datingapp keinen guten Ruf. Schnellen unkomplizierten Sex soll man auf Tinder finden. Unvorstellbar im Iran. Sex vor der Ehe ist verboten, Sex mit einem «Weissen» dazu geächtet. Für beides drohen strenge Strafen. Peitschenhiebe, Gefängnis, manchmal sogar der Strang. Trotzdem boomt Tinder im Iran, vor allem in der Hauptstadt Teheran, aber dazu später mehr. Zurück zu Nesrin in Maschad.

Auf ihrem Tinderprofil zeigt sich Nesrin offen ohne Kopftuch. Sie trägt ein Kleid und blickt verführerisch in die Kamera. Ein Bild, dass man in Maschad nirgends findet. Die zweitgrösste Stadt des Irans wurde 2017 zur Hauptstadt der Islamischen Kultur gewählt. Unzählige Mullahs – islamische Gelehrte – spazieren mit Turban und im Wind wehendem Umhang durch die Strassen. Frauen tragen schwarze Tschadors, Ganzkörper-Schleier mit offenem Gesicht. In dem ohnehin religiösen Iran legt Maschad nochmals kräftig einen oben drauf. Tourist*innen gibt es hier keine und die Leute wundern sich, was ich hier eigentlich will. Auch Nesrin wundert sich. Bei unserem ersten Treffen in einem Café trägt sie zwar keinen Tschador, aber ein Kopftuch, wie es das Gesetz vorschreibt. Ich sage ihr, dass ich die heiligste Stadt im Iran sehen wollte. Sie antwortet frech, dass Maschad zwar heilig sei, aber die Jugend sicher nicht.

Maschad, die heilige Stadt der «Unheiligen»

Am nächsten Tag lädt sie mich zu einer Party bei einer Freundin ein. Es kommen fünf weitere Frauen und keinerlei Männer. Wir essen, rauchen und trinken viel Alkohol – Arak, ein ungesüsster Anisschnaps. Woher sie den Alkohol haben, wollte ich wissen. «Ihr in Europa habt Dealer für Drogen, wir haben Dealer für Alkohol. Das ist kein Problem», antwortet Jasmin* kokett. Jasmin, der die Wohnung gehört und einen heftigen Kater vom Vortag hat, ist Künstlerin und lebt alleine. Eine Seltenheit im Iran. Kinder bleiben lange im Elternhaus und ziehen erst aus, wenn sie heiraten. Nesrin, Jasmin und die anderen jungen Frauen bestehen darauf, dass ich mit ihnen trinke. Zögernd nehme ich das erste Glas und fürchte, dass plötzlich die Polizei an die Tür klopft. Bei den Frauen keine Spur von Angst. Alle sind zwischen 22 und 28, haben an der Uni studiert, arbeiten in kreativen Berufen und bechern was das Zeug hält. Keine trägt ein Kopftuch, dafür hautenge Jeans, aufreizende Blusen und nur wenige einen BH. Sie tanzen und singen – beides vom Staat verboten. Plötzlich klopft es doch an der Tür! Jasmin wirft sich schnell ein Kopftuch über und zieht sich ein langärmliges Hemd an, bevor sie die Tür aufmacht. Falscher Alarm, es ist nur der Vermieter, der sich erkundigt, ob alles in Ordnung ist. Nach dem kurzen Schrecken wird mir klar, dass die Frauen ihre offenherzigen Kleider mitgebracht haben und sich hier umzogen. Niemals würden sie sich so auf die Strasse getrauen. Nach ein paar Gläsern frage ich angeheitert, was denn passiert, wenn man mit Alkohol erwischt wird. «Wenn man drei mal erwischt wird, wird man gehängt», heisst es – es ist kein Spass.

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(Vor der Moschee noch ein Selfie mit iranischen Kids. Alle natürlich schnell noch das Capy und die Sonnenbrille montiert)

Iran – Land ohne Perspektive und Zukunft

Nesrins Schwester wurde mit Alkohol erwischt, sie lebt jetzt in New York. Nesrin und ihre Freundinnen hoffen alle, dass sie ins Ausland gehen können. Nach Kanada oder Deutschland, einfach raus aus dem Iran. Sie sehen keine Zukunft in ihrem Land. Vor allem für sie als Frauen. Bis vor wenigen Jahren durften eine Frau und ein Mann nicht im gleichen Auto fahren, ohne bezeugen zu können, dass sie verheiratet sind. Rouhani hat das abgeschafft, Rouhani hat sich auch dem Westen geöffnet und den Atom-Deal herbeigeführt, der die Sanktionen gegen den Iran aufheben soll. Dann werden sie also für Rouhani stimmen, frage ich die jungen Frauen. Ja das werden sie, aber seine Reformen reichen ihnen nicht aus. Die gehen zu langsam und nicht weit genug. Millionen junger Frauen und Männer sehen das gleich. In jeder Stadt, die ich besuche, höre ich den gleichen Wunsch nach Freiheit. Auch die Eltern und Grosseltern dieser neuen Generation klagen über die Situation im Land und nicht wenige sehnen sich insgeheim nach den alten Zeiten des Schahs zurück.

Vom Minirock zum Kopftuch

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs nahm der Einfluss aus dem Westen im Iran immens zu. Ausländische Investoren stürmten auf das Öl, amerikanische Experten bauten Strassen und machten die Felder fruchtbar. Schah Mohammed Reza Pahalvi träumte von einem fortschrittlichen Iran. Er ging in der Schweiz zur Schule und ist der westlichen Lebensweise zugeneigt. Mit seiner dritten Frau Farah, die in Frankreich Architektur studiert hat, modernisiert er das islamische Land über Nacht.

1963 erhalten Frauen das Wahlrecht, dürfen ihr eigenes Bankkonto besitzen und arbeiten. Eine Welle trifft das Land. Plötzlich gibt es Kinos, Theater, Nachtclubs, Miniröcke, Alkohol und Pornografie. Für die konservativen Mullahs ist das zu viel. Sie wollen den Islam von seiner westlichen Verschmutzung reinigen. Tausende demonstrieren gegen den moralischen Zerfall des Irans, verwerfliche Einrichtungen wie ein Kino werden angezündet – mit den eingeschlossenen Besucher*innen im Inneren.

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(Mohammad Reza Pahlavi, der Schah von Persien und Ruhollah Khomeini)

Angeführt wird die religiöse Bewegung von Ajatollah Chomeini, der von seinem französischen Exil aus von einem islamischen Staat träumt. Der Schah gilt als Hardliner, regiert mit eiserner Faust und zerschmettert Demonstrationen. In seiner knapp vierzigjährigen Regentschaft soll jeden Tag ein aufständischer Iraner getötet worden sein. 1979 werden die Unruhen kritisch und die islamische Revolution unaufhaltbar. Der Schah flüchtet mit seiner Familie nach Amerika. Sofort kehrt Chomeini aus seinem Exil zurück und übernimmt die Macht. Alkohol wird verboten, das Kopftuch für Frauen Pflicht, der Iran von ausländischen Einflüssen gelöst. Mitglieder der Schah-Regierung werden inhaftiert und fast alle getötet. Das einst moderne Land gerät in die Hände religiöser Fanatiker. Chomeini erlangt gottähnlichen Status. Sein Gesicht ist auf allen Banknoten verewigt, sein Portrait hängt in jeder öffentlichen Einrichtung – auch heute noch im Jahr 2017.

Alkohol dealen als politischer Protest

Dass der Iran eine islamische Republik ist, merkt man in der Hauptstadt Teheran am wenigsten. Hipster mit bunten Haaren und Tätowierungen unterhalten sich in trendigen Cafés über Kunst. Einkaufszentren, Pizza, Burger, in der 16-Millionenstadt findet man alles. Frauen tragen zwar noch ein Kopftuch, aber so hoch oben, dass es von einem leichten Windhauch davon getragen würde. Die Teheraner*innen sind modern, offen und ihnen juckt es in den Fingern.

Beim Burgeressen komme ich mit zwei jungen Medizinstudenten ins Gespräch. Masoud und Ashkan*. Sie sprechen ausgezeichnetes Englisch, haben coole Frisuren und einen lässigen Umgang. In Zürich würde man sie wohl im Acid antreffen. Masoud ist klein, schlank und trägt ein hellblau gestreiftes T-Shirt. Er trägt eine Brille wie Trotsky und ist mindestens genauso politisch aktiv. Ashkan ist einen Kopf grösser, hat breite Schultern und mächtige Muskeln. Er wirkt ein wenig, als wäre er Masouds Bodyguard. Schnell lassen sie sich als Atheisten erkennen und fragen mich, ob ich auch einer bin. Ich bestätige und staune über ihre Offenheit. Ob man Moslem, Christ oder Jude ist, ist für viele Iraner*innen nicht wichtig, dass man jedoch an Gott glaubt, unanfechtbar. So müssen auch alle Präsidentschaftskandidaten Gläubige sein, das ist Voraussetzung. Ich will wissen, für wen sie ihre Stimme abgeben. Masoud, der iranische Trotsky wird aufbrausend und erklärt, dass er nicht wählen wird. Das ist sowieso kein demokratisches Verfahren und das Volk könne gar nicht ihren Präsidenten wählen, erklärt er. Die Kandidaten werden vom Supreme Leader, also vom obersten Religionsführer Ali Chamene’i geprüft und aufgestellt. Der Kandidat, der vom Religionsführer unterstützt wird, gewinnt meistens. Chamene’i ist seit dem Tod von Chomeini 1989 dessen Nachfolger. Auch sein Portrait hängt in öffentlichen Einrichtungen. Im aktuellen Wahlkampf geniesst der erzkonservative Raisi die Unterstützung des Supreme Leaders. Nach unserer politischen Unterhaltung fragt mich Masoud, ob ich Alkohol brauche. Er könne alles besorgen: Bier, Whiskey, Vodka, ich müsse es ihm nur sagen. Er ist Dealer und sieht es als politischen Protest an.

Schöne Frauen, Foucault und verbotene Musik

Die Frustration bei der Jugend bestätigt mir auch Mina*, eine Kulturjournalistin, die ich ebenfalls von Tinder kenne. Auf Instagram moderiert sie regelmässig Live-Videos, auf denen sie ihre Freund*innen und Bekannten zum Wählen auffordert. Ihre Hoffnung liegt vor allem bei den jungen Iraner*innen. Sie können es schaffen, Rouhani wieder zu wählen. Ich frage sie, ob sie nicht Angst hat, sich politisch einzusetzen, vor allem als Journalistin. «Doch, manchmal schon, aber das ist mein Land, ich kann nicht anders, das ist meine Pflicht», antwortet sie mutig. Mina ist bildhübsch, doch es scheint, als würde sie das gar nicht wissen. Lange, wellige Haare, ein verspieltes Lächeln und ein wacher und auffordernder Blick. Wäre Mina in Zürich, würden sich die Jungs den Kopf nach ihr verdrehen, so schön ist sie. Doch das scheint sie nicht zu kümmern. Als ich ihr sage, dass ich sie hübsch finde, wird sie rot. In ihrer Freizeit spielt sie Tennis und singt als Sopranistin – im Geheimen, das Singen für Frauen ist immer noch verboten.

Wir treffen uns mehrere Male in Teheran und diskutieren oft über Politik, den Iran, Religion, aber auch Philosophie und Filme. Sie ist eine Intellektuelle, kennt sich sowohl bei Philosophen wie Foucault und Deleuze aus, als auch bei Filmemachern wie Kieslowski und Bunuel. Als Kulturjournalistin schreibt sie über die Musikszene in Teheran, die sich ganz schüchtern an die Oberfläche wagt. Konzerte waren lange verboten, erst seit wenigen Jahren wurde die Regelungen gelockert. Trotzdem braucht man für eine Rock-Show eine Genehmigung vom Staat.

Gemeinsam gehen wir in einen Musikladen und suchen nach Schallplatten. Soroush*, der Besitzer des Ladens trägt stolz einen buschigen Schnäuzer, ist ein grosser Tintin-Fan und seine Lieblingsband sind natürlich die Beatles. Ich halte ihm einen langen Zettel unter die Nase, voller iranischer Künstler. Er schüttelt traurig den Kopf und meint, dass alle auf meiner Liste verboten sind. Entweder wurden die Platten während der Islamischen Revolution vernichtet oder sie sind irgendwo im Privatbesitz, aber im Laden wird man sie garantiert nicht finden. Bevor wir den Laden verlassen, klopft mir Soroush kräftig auf die Schultern und schüttelt mir die Hand. Er habe sich sehr gefreut, mit mir über Musik zu reden und freue sich schon auf meinen nächsten Besuch. Ich spüre, dass es ihm peinlich war, dass er mir die gewünschten Künstler nicht verkaufen konnte. Vielleicht sind die Musiker bei meinem nächsten Besuch plötzlich nicht mehr auf dem Index und die Platten tauchen wie von Geisterhand in seinem Laden auf.

Goodbye Iran, I love you

Auf einem grossen Hügel betrachten Mina und ich den Sonnenuntergang über Teheran. Die Stadt ist so riesig, dass sie kein Ende nimmt und bis weit in den Horizont reicht. Gerne hätte ich Mina geküsst oder nur schon ihre Hand gehalten. Beides ist unmöglich. Mina erzählt mir, wie sie mal von einem Polizisten in die Mangel genommen wurde, als sie mit ihrem Ex-Freund auf einer Parkbank sass. «Woher kennt ihre euch? Was macht ihr hier? Wie seid ihr miteinander verflochten?», wollte der Polizist wissen. Mina antwortet, dass sie sich vom Studium kennen. Ihr Ex-Freund, dass sie Cousins sind. Als sich die Aussagen nicht decken, wird der Polizist sauer. Ich wollte wissen, was dann passiert ist. «Nichts, wir haben ihn bestochen. Polizisten wollen meistens ein paar Scheine, das ist normal», antwortet Mina locker. Auch an illegalen Partys sollen immer wieder Razzien durchgeführt werden, bei denen die Polizisten heimlich kassieren wollen. Die Partys finden in der Wüste oder in verlassenen Fabriken statt und sollen allerlei Alkohol, Drogen und harte Technomusik haben. Freunde erzählen mir, dass sie bis jetzt Glück hatten. Es kommen aber auch Razzien vor, bei denen alle 200 bis 500 Partygäste aufs Revier genommen werden und mit harten Strafen rechnen müssen. Vielfach werden Frauen dann sogar untersucht, ob sie noch Jungfrauen sind.

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(Ein Pärchen im Park: Küssen in der Öffentlichkeit ist unmöglich.)

Als sich Mina von mir verabschiedet, umarmt sie mich lange und herzlich. Sie sagt: «Komm bald wieder, ja?» Ich nicke traurig. Ich spüre die Blicke der Leute um uns und ihr Getuschel. Der Iran ist ein seltsames Land. Ich habe die gastfreundlichsten und liebevollsten Menschen angetroffen, die so sehr unter der Restriktion des Staates leiden, aber es einfach nicht schaffen, daraus auszubrechen. Zu gross ist die Furcht eingesperrt oder gar getötet zu werden. Ihre einzige Hoffnung besteht darin, dass jemand dort oben anfängt den Iran zu verändern. Nicht Allah, sondern Rouhani.

Irans neuer Präsident – Hoffnung und Angst

Es ist wieder Samstag, der 20. Mai. Ich habe meinen dritten Kaffee getrunken und warte immer noch auf die Wahlresultate. Die Präsidentschaftswahl im Iran wird von den westlichen Medien nur am Rande beschrieben. Es gibt kein Spektakel mit Reportern vor Ort wie in der Türkei. Zu uninteressant ist der Iran geworden. Nachdem der Unruhestifter Ahmadinedschad aus dem Amt geschieden ist, gibt es schliesslich auch nichts mehr zu berichten. Rouhanis Atomdeal, sein grösster politischer Erfolg, und seine Reformen werden kaum beachtet. Good News aren’t interessting News. Trump, Le Pen und Brexit verkaufen sich besser. Vielleicht gibt es einen grossen Artikel, wenn Raisi gewinnt und den ganzen Fortschritt des Irans stoppt – dann können sich die Leser über die wilden Kameltreiber im Nahen Osten aufregen. Doch so weit kommt es nicht. Rouhani gewinnt! 58 Prozent holt sich der amtierende und wiedergewählte Präsident. Raisi erhält nur 38 Prozent. Die Iraner*innen waren in so grosser Zahl zur Urne gestürmt, wie noch nie zuvor. Fast drei Viertel der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab. Eine Zahl, die man in der Schweiz nicht mal träumen dürfte.

Für seine nächste Amtszeit will sich Rouhani vor allem den Frauen im Iran widmen. In einer Pressekonferenz verspricht er mehr Rechte für alle Frauen. Das im Land verbreitete Klischee, Frauen könnten gewisse Tätigkeiten nicht ausüben und seien für die Hausarbeit gemacht, sei seiner Meinung nach schlicht falsch. Auch zur Restriktion äusserte sich Rouhani: «Mit Sicherheitsapparaten alleine kann man keine Sicherheit erzielen. Genauso wie man mit Salzwasser den Durst nicht löschen kann»

Die Wiederwahl von Rouhani zeigt, dass die Iraner*innen sich nicht für mehr Geld und Wohlstand einsetzen, sondern für mehr Demokratie im Inland und den Dialog mit der Aussenwelt. Obwohl das Tanzen verboten ist, brachen im ganzen Iran spontane Strassenfeste aus, die die Wiederwahl und die Zukunft des Irans bis spät in die Nacht feierten.

Das alles verfolge ich von meinem gut behüteten Zürich aus, aber mein Herz ist bei den Iranern. Goodbye Iran, I love you.

*Aus Sicherheitsgründen und Respekt wurden die Namen der beschriebenen Personen geändert und auf Fotos verzichtet.

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