«Es ist etwas anderes, ob Politik theatral oder Theater politisch ist» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Steffen Kolberg

Redaktor

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4. Oktober 2021 um 14:40

«Es ist etwas anderes, ob Politik theatral oder Theater politisch ist»

Angetreten sind die Theater Neumarkt-Leiterinnen Hayat Erdoğan, Tine Milz und Julia Reichert mit grossen Plänen, die dann von der Pandemie ausgebremst wurden. Doch die Co-Direktorinnen haben in dieser Zeit Ideen entwickelt, die sie bis in die neue Spielzeit weitertragen. Mit «Love Play Fight» wollen sie ein «unbedingtes Theater» realisieren. Was das heisst, erzählen Hayat und Julia im Gespräch über Wellnessoasen, den Fall Brian und die Explosion in Beirut.

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Hayat Erdoğan, Tine Milz und Julia Reichert (v.l.n.r.). Bild: Elio Donauer (Foto: Elio Donauer)

Steffen Kolberg: 2019 habt ihr die Leitung des Theater Neumarkt übernommen, im folgenden Frühjahr kam schon Corona. Wie ist die erste Spielzeit unter diesen Umständen gelaufen?

Hayat: Wir sind mit grossen Plänen gestartet und der Vision, Theater einmal komplett umzukrempeln und neu zu denken. Wir wollten raus in die Stadt, uns mit allen möglichen Partner:innen und Institutionen verbinden. Ab März war dann vieles nicht mehr möglich, unter anderem die lange geplante Koproduktion mit Künstler:innen aus Beirut, «Nouvelle Nahda». Kurz vor dem ersten Lockdown hatten wir in Beirut geprobt, kamen dann nach Zürich – und plötzlich sind Leute hier in Theaterwohnungen gestrandet. Der Lockdown hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht und gleichzeitig gab es etwas sehr Verbindendes: Wir haben noch mehr miteinander gesprochen als unter Normalbedingungen, waren gefühlt 12 Stunden vor unseren Laptops und haben viel produziert – aus unseren Wohnzimmern heraus. Die Sparte Digital wurde geboren, was natürlich nicht so überraschend ist.

Julia: Für viele Leute war der erste Lockdown nochmal ein Realitäts- und Sinncheck, und das hat auch auf uns stark gewirkt. Mit dem Digitalen wollten wir sämtliche Sphären der Öffentlichkeit bespielen und als Raum des Theaters begreifen. Wie niederschwellig zugänglich kann man sein? Es standen Fragen im Raum von Solidarität und Gerechtigkeit und davon, wer eigentlich die Kosten der Pandemie trägt – auch gesellschaftlich. Also haben wir das Preissystem überarbeitet.

Als sich das Ganze dann noch länger hingezogen hat, wurde es zu einer Geduldsübung. Die Koproduktion mit Beirut wurde verschoben, um wieder in den nächsten Lockdown zu geraten und wieder in einer Theaterwohnung zu stranden – und nochmals neue Formate zu erfinden, im Stadtraum, in Schaufenstern, in einem Film.

Bei einer Zusammenarbeit mit dem Theater HORA, deren Mitglieder zur Risikogruppe gehören, konnten wir auch die Not zur Tugend machen: So kam es zu einer sehr Beckett-treuen Beckett-Inszenierung – fast ganz ohne Darsteller:innen auf der Bühne. Das konnte so nur unter pandemischen Bedingungen passieren.

In Beirut gab es im letzten Jahr ja noch ein anderes einschneidendes Ereignis, die Explosion im Hafen. Hatte das auch nochmal einen Einfluss auf die Produktion von «Nouvelle Nahda»?

Hayat: Ursprünglich sollte die Produktion im April 2020 aufgeführt werden. Wegen des Lockdowns haben wir dann eine Online-Produktion und Videoarbeiten gemacht und die Theaterproduktion auf den Januar 2021 geschoben. Nach dem Lockdown ereignete sich im August 2020 schliesslich die Explosion. Das hat einige Künstler:innen aus der Produktion konkret getroffen: Es wurden Wohnungen zerstört und einer von ihnen, Ibrahim Nehme, Autor und Herausgeber der Zeitschrift «The Outpost», wurde auch verletzt. Er ging lange an Krücken, jetzt am Stock.

Als wir dann im Dezember zusammensassen, um wieder mit den Proben zu beginnen, haben wir auch das Stück hinterfragt, Reflexionen über grössere existenzielle Fragen wurden viel dominanter. Da wir es am Ende sowieso nicht aufführen konnten, haben wir einen essayistischen Film draus gemacht. Er kam im Februar raus und lief im Xenix, ist aber vor allem online als Video on Demand verfügbar.

In der Theaterliteratur gibt es ja wenige Frauenrollen, und wenn, dann oft stereotype.

Hayat Erdoğan

Ihr habt eure Leitung unter einen erweiterten Theaterbegriff gestellt: Es gibt nun Theater, Playground und Akademie. Welche Bedeutung haben die beiden Letzteren?

Julia: Wir wollten abbilden, dass der Theaterbegriff sehr breit ist. In einem «unbedingten Theater» sind auch Playground- und Akademie-Formate Teile davon. Formate abseits der klassischen Produktionslogiken, die genauso wichtig und produktiv sind. Die Akademie schafft eher sinnliche Räume zum Denken und Diskutieren, ohne dass das zwangsläufig in einem Podium als Beiprogramm des eigentlichen Theaters endet.

Es sind eigenständige Formate mit eigenen künstlerischen Ansprüchen. Der Playground bezeichnet noch offenere Versuchsanordnungen, die – anders als Theaterproduktionen – nicht unter dem Zwang der Wiederholung stehen. Das können Interventionen im Stadtraum sein oder dass man das Theater für ein paar Wochen in etwas verwandelt, das es sonst nicht ist.

Hayat: In der Sparte Playground haben wir aktuell das Format Mimikry. Da waren wir in «Mater Dolorosa Bleed» eine Töchterschule. Und vor dem ersten Lockdown mit «Wellness Retrotopia» eine Wellnesslandschaft mit Sauna, Floating Tank und so weiter.

Das ist Teil des erweiterten Theaterbegriffs: Man dehnt das Potenzial des «als ob», das ja immer mit Theater zu tun hat, noch weiter aus. Das kann auch in die Medien gehen, als Medientheater. In der ersten Spielzeit hatten wir die Ruag Green Aktion , jetzt gerade läuft #BigDreams, rund um und mit Brian. Damit erreicht man ein ganz anderes Publikum und eine ganze andere Öffentlichkeit.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang «unbedingtes Theater»?

Hayat: Das bezieht sich auf unser Manifest. Die Idee des Unbedingten stammt von Derrida und seinem Vortrag zur unbedingten Universität. Die Idee des Unbedingten ist bei ihm verknüpft mit der Pflicht einer öffentlichen Institution, sich zu zeigen, dafür einzustehen, wofür es sich zu kämpfen lohnt, auch unbequeme Fragen zu stellen und sich angreifbar zu machen. Wir fanden das sehr passend für das, was uns antreibt und was wir vorhaben. Deshalb haben wir diese Idee für das Theater adaptiert.

Julia: Man könnte das auch populärer beantworten: Unbedingtes Theater ist Love Play Fight. Es tritt verbindlich in einen Austausch – sowohl mit Leidenschaft, mit Überzeugung als auch mit der Bereitschaft, für etwas zu kämpfen und sich notfalls zu streiten. Immer aufgefangen aber von Love und Play.

In letzter Zeit wird in der Öffentlichkeit viel über patriarchale Strukturen in der Theaterszene diskutiert. Ihr versteht euch erstens als Kollektiv und seid zweitens drei Frauen – hat diese Konstellation auch etwas mit der bewussten Auseinandersetzung mit diesen Strukturen zu tun?

Hayat: Eher Nein. Dass wir drei Frauen sind, ist interessanterweise nie etwas gewesen, was wir permanent reflektiert hätten – das war nicht so geplant. Aber mit den Strukturen setzen wir uns natürlich auseinander und versuchen diese auch zu verändern.

Julia: Natürlich gibt es viele Dinge an solchen Institutionen, die toll sind, und viele, die nachteilig sind. Sie haben Prägungen. Und dieses Erbe gilt es proaktiv anzugehen. Darüber haben wir uns natürlich Gedanken gemacht. Das ist aber nicht nur auf das Thema dieser Debatte beschränkt. Sondern beinhaltet auch Fragen wie: Warum werden so viele Sachen so gleichförmig? Warum kommen immer die gleichen Leute? Warum interessiert es so viele nicht, von denen man denkt dass es sie interessieren müsste?

Wie steht es um den kollektiven Aspekt? Was bedeutet es, als Kollektiv zu arbeiten?

Julia: Wichtig ist, dass wir eine Kollektivleitung sind und kein Kollektiv, denn es ist nicht so, als würden hier 50 Leute alles gemeinsam entscheiden – das gab es ja auch schon am Neumarkt. Es können alle bei allem mitreden, aber es sind nicht alle für alles zuständig. Das Kollektive hat wie jedes Leitungsmodell klare Vor- und Nachteile.

Für die Effizienz ist es vielleicht manchmal nachteilig. Dafür, dass Entscheidungen nochmal abgeklopft werden und Checks und Balances durchlaufen und nicht eine Person den Druck ins ganze Team abgeben kann, ist es dann wieder extrem gut.

Bei der Produktion «Mater Dolorosa Bleed» geht es darum, dass das Haus einmal eine Töchterschule war. Stimmt das eigentlich?

Julia: Ja, das stimmt. Aber nicht alles, was wir über die Geschichte dieses Hauses erzählen, stimmt unbedingt. Das muss man halt rausfinden.

Hayat: Als wir Wellness Retrotopia wurden, haben wir die Geschichte erzählt, dass das Haus hier einst eine Heilanstalt mit einer eigenen Heilwasserquelle war. Wir haben dann auch historische Führungen angeboten durch diese Saunalandschaften, wo Leute in Badehosen sich auf irgendwelchen Liegewiesen langweilige Literatur haben vorlesen lassen. Sie waren von einem echten Historiker, und das hat dann auch für richtige Irritationen gesorgt, weil eine Zeitung darüber geschrieben hatte, dass das die Geschichte des Hauses sei.

Sowohl beim gerade abgelaufenen «Mater Dolorosa Bleed» als auch bei «Madama Butterfly», das am vergangenen Freitag Premiere feierte, geht es ja um Frauen- und auch Mutterrollen abseits klassischer Modelle. Sind das Perspektiven, die eurer Meinung nach bisher zu kurz kamen im städtischen Theaterbetrieb?

Hayat: In der Theaterliteratur gibt es ja wenige Frauenrollen, und wenn, dann oft stereotype.

Julia: Lover oder Mother.

Hayat: Genau, Heilige oder Hure. Aber es ist überhaupt nicht so, dass wir zusammen sässen und uns das strategisch überlegen würden. Vielleicht hängt dieses Thema einfach so schon sehr mit uns zusammen.

Julia: Unser Programm hat keine Agenda, ist keine Antwort auf ein Manko, sondern es sind die Themen, die uns gerade interessiert haben und vor allem auch die Künstler:innen, mit denen wir arbeiten. Das Interesse liegt eher in der Frage, welche Geschichten denn relevant sind, also: Was bedeutet denn gerade Zeitgenossenschaft, welche Geschichten sind heute wichtig?

Und natürlich kommen da auch Frauenfiguren zum Tragen, die man sonst halt nicht oder weniger gesehen hat. Aber die ganzen Abwesenheiten im klassischen Theaterkanon betreffen nicht nur Frauen. Da sind auch noch ganz viele andere nicht zu sehen und zu hören.

Podcasts sind auch Räume, Ausdrucksformen und Möglichkeiten.

Julia Reichert

Das Stück zu Brian beziehungsweise Carlos, #BigDreams, ist ja auch dahingehend ein Medientheater, weil es ja direkt eine Kontroverse um die Austragung der Medienkonferenz nahe der JVA Pöschenwies ausgelöst hat. Es passt damit zu einem gerade populären Thema: Dem Verwischen von Grenzen zwischen Kunst und politischem Aktionismus. Wenn es am Ende von #BigDreams darum geht, den «Blick» zu kaufen, erinnert das ja schon sehr an die Arbeitsweise von Aktionsgruppen wie dem Zentrum für Politische Schönheit oder Peng. Ist es euch ein Anliegen, den Theaterraum so weit für das Politische zu öffnen, dass die Grenzen dazwischen unkenntlich werden?

Julia: Ich finde es schon wichtig, dass man sie nicht unkenntlich macht. Es ist etwas anderes, ob Politik theatral oder Theater politisch ist. Aber es geht auf jeden Fall darum, dass eine andere Form von Relevanz Einzug hält.

Hayat: Ich würde den Begriff der Politik noch weiter fassen und von Öffentlichkeit sprechen. Was heisst Öffentlichkeit? Von wessen Öffentlichkeit sprechen wir eigentlich? Wofür ist diese Öffentlichkeit eigentlich gut, gerade in einer demokratischen Gesellschaft? Und wie können wir mit den Mitteln der Kunst dafür sorgen, dass in dieser Öffentlichkeit noch mal ein anderer Diskurs zustande kommt? Wir behaupten nicht, die moralische Deutungshoheit zu haben und zu wissen, was die richtige Antwort auf jede Frage ist. Stattdessen wollen wir die vorhandenen Widersprüche sichtbar machen und wieder eine Öffentlichkeit herzustellen.

Denn die gibt es meiner Meinung nach gar nicht. Die Medien operieren in der Logik von Klicks: Wie erregt man kurz irgendwelche Aufmerksamkeiten von Menschen, die eigentlich nur noch im Modus der Empörung reagieren können oder einfach abgelöscht sind? Es finden so keine Debatten statt, sondern nur ein erwart- und steuerbarer Meinungs-Schlagabtausch: Jeder hat dann eine Meinung zu irgendwas, aber am nächsten Tag ist die schon nicht mehr interessant.

Ist das Sichtbarmachen der Widersprüchlichkeit vielleicht auch eine Gegenbewegung zu einer völlig verhärteten Debattenkultur?

Hayat: Ja, man reproduziert nur noch alibimässig Pros und Contras. Aber es passiert nichts, es geht kein neuer Impuls davon aus. Sondern es ist von vornherein klar: Erst kommt A, dann B. Die gesellschaftliche Relevanz, gerade von Theatern, wird ja immer hoch und runter diskutiert. Aber es kommt darauf an, welche Art von Veränderung unsere Arbeiten bewirken können. Die Veränderung fängt ja erst an, wenn es über den Bühnenrand hinausgeht. Ist die neue Perspektive nur in der Imagination möglich und wo wird sie zu einem Handeln?

Ein Teil von #BigDreams findet auch auf Instagram statt. Dann gibt es auch noch einen Podcast, den ihr mit dem Magazin «Das Wetter» macht. Inwiefern muss man da einfach mitgehen mit den digitalen Formaten und dann zum Beispiel auch noch einen Podcast machen, was ja alle gerade machen?

Julia: Man muss nicht, es zwingt einen ja keiner. Aber es sind auch Räume, Ausdrucksformen und Möglichkeiten. In der ersten Fassung unseres Manifests hatten wir stehen, dass wir «den technowissenschaftlichen Mutationen» nicht nur ablehnend gegenüber treten, sondern sie auch als Möglichkeit bespielen. Ohne jetzt Podcasts als technowissenschaftliche Mutation zu diskreditieren. (lacht)

Natürlich kann man sich relativ leicht darauf zurückziehen, dass einen das nichts angeht oder dass man das blöd findet. Aber es sind ja auch sinngebende Verfahren der Öffentlichkeit. Und das kann Instagram genauso sein wie ein Podcast oder auch ganz andere Medien – oder eine Bäckerei, wie wir es mit «Ilknurs Leckerei» hatten.

Vergangenen Freitag fand die Premiere von «Madama Butterfly» statt. Das aktuelle Programm des Neumarkts findet ihr hier.

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