Theaterfestival: «Die Zuschauer gehören bei uns dazu» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
account iconsearch
Von Viviane Stadelmann

Redaktorin

emailfacebook logoinstagram logo

12. Oktober 2015 um 10:47

Theaterfestival: «Die Zuschauer gehören bei uns dazu»

Spunk

Stundenlang Texte auswendig lernen kennen sie nicht: Improvisations-Schauspieler spielen alles aus dem Stehgreif. Doch was tun, wenn einem plötzlich nichts mehr einfällt? Das Impro-Theaterensemble «anundpirsich» feierte am Samstag ihren zehnten Geburtstag und gab einen Einblick in ihr Repertoire.

Ein Augenblick gespannter Stille erfüllt den Saal. Durch das grelle Scheinwerferlicht und den eng bestuhlten, kleinen Saal perlen bereits die ersten Schweisstropfen von der Stirn. Vier Schauspieler stehen auf der Bühne und skizzieren mit ihrer Fantasie ein detailreiches Bild einer Landschaft, die für das Momentum dieser Aufführung zu unserer Wirklichkeit werden soll: Eine griechische Insel mit einem Fischerhüttchen, einer Klippe, einer Kirche und einem Dörfchen am Waldrand mit weissen Mauern und blauen Fensterläden.

Die Inputs dazu holen sich die Darsteller immer wieder vom Publikum. Weder die Regisseurin noch der Tontechniker weiss nun, wo die Reise hingeht. Einzelne Schlagwörter der Zuschauer bestimmen die Richtung und markieren die Wendepunkte der Story. «Wenn wir den kleinen blauen Kirchturm abschrauben und hineinblicken, sehen wir da eine Wendeltreppe», leitet eine der Darstellerin ein. «Folgen wir der Treppe hinunter gibt es eine grosse Glocke und ein kleineres Glockenspiel. Auf der einzelnen Glocke ist ein Schriftzug eingraviert. Was soll da stehen? » Durch diese Details kommt es schon zu den ersten Lachern. «Bezahltes Eigentum der europäischen Union! », brüllt ein Gast. Man will es den Schauspielern schwer machen, ruft auf die gestellten Fragen möglichst absurde Antworten drein. «Detales» – so heisst diese Art von Impro-Vorführung, die gerade beginnt. Vorhang auf  für ein griechisches Drama, in dessen Verlauf die EU zur Zielscheibe wird, Giraffen angeschwemmt werden und Pfarrer sündigen – oder eher, Improvisation ab!

[caption id="attachment_4218" align="alignnone" width="640"]Vor der finalen Vorführung wird auch das Publikum nochmals aufgewärmt Vor der finalen Vorführung wird auch das Publikum nochmals aufgewärmt[/caption]

Das Improvisations-Theaterensemble «anundpfirsich» zelebriert bereits seit zehn Jahren die Spontanität. Angefangen mit vier Personen hat sich das Team nun mit elf Leuten eingespielt. «Wir zeigen zum Jubiläum einen Schnelldurchlauf durch diese zehn Jahre und die gesamte Bandbreite des Impro-Theaters», sagt Geschäftsführer Frank Renolds. Der Theaterraum Töpferei in Zürich bietet gerade so Platz für das grosse Geburtstagsfest. Die Bühne fängt dort an, wo die Zehen der Gäste der ersten Reihe enden.

Nicht nur die spürbare Präsenz der Schauspieler, sondern auch die räumliche Nähe zum Publikum verstärkt die heimelige Atmosphäre. Fast schon fühlt man sich als Gast zu Hause bei Freunden, bei der man zu selbstgebackenem Brot, Käse und einem Glas Rotwein (gibt’s tatsächlich an der Bar) eine Partie Pantomime spielt. Die Nähe zum Publikum hebt diese Art von Theater denn auch von anderen ab meint Frank: «Der Reiz für den Zuschauer liegt im Erlebnis zu sehen, wie Theater entsteht. Du siehst nicht nur das Endprodukt, sondern bist live dabei, wie die Figuren lebendig werden, wie ein Ort und eine Geschichte entstehen. Man erhält zeitgleich zur Vorstellung einen Blick hinter die Kulisse. » Auch die Schauspieler seien dem Zuschauer näher als beim klassischen Theater. «Du siehst, wenn der eine oder andere mit sich hadert und kannst mitfiebern, wie die Darsteller das Ruder wieder rumreissen.»

Aufgepasst! So wird der Zuschauer auch Zeuge, wie sich die Aufführung hie und dort auch mal in Unachtsamkeit verliert. Hatte der Deutsche Fischer Klaus der griechischen Insel vorhin noch den Todestag seiner Mutter erwähnt, da scheint sie zehn Minuten später doch gar nicht mehr so tot zu sein – und hatte gar ein Verhältnis mit dem Dorfpfarrer! Manchmal geht durch die Spontanität die Logik verloren oder es fehlt an der Stringenz der Erzählung. Doch noch während man die Ungenauigkeit bemerkt, staunt man bereits über neue unerwartete Wendungen.




Tsüri-Mail: Einmal abonnieren bitte. Kein Scheiss. Kein Spam. 





Die Schwierigkeit bei dieser Theater-Form läge denn auch besonders in der Aufmerksamkeit. «Lustigerweise denken die Zuschauer oft, man müsse besonders einfallsreich sein. Ich denke vielmehr, wir sind einfach sehr aufmerksam», meint Frank. «Die Einfälle der anderen decken sich nicht mit den eigenen. Da muss man aufpassen, ruckzuck seine eigenen Ideen verwerfen und andere annehmen, um gemeinsam von dort aus weiterzumachen. Das ist eine weitere Herausforderung: Nicht an seinen eigenen Ideen hängen zu bleiben.»

Trainieren wie ein Skirennfahrer Aufgeführt werden während zehn Stunden zehn verschiedene Formate. Als die Schauspieler zum Finale auf der Bühne stehen, merkt man ihnen nicht an, dass sie bereits sieben Stunden Aufführung hinter sich haben. Im Gegenteil. In der kurzen Pause trifft man sich draussen auf einen Schwatz. Wie lange sie denn für die Jubiläumsvorstellung geübt hätten, fragt ein Gast. «Gar nicht! », lautet die Antwort. Sie träfen sich einmal wöchentlich und hätten als Vorbereitung nochmals geprobt, wie die verschiedenen Formate funktionieren.

[caption id="attachment_4217" align="alignnone" width="640"]Foto von Sven Stickling Foto von Sven Stickling[/caption]

Lässt sich Improvisations-Theater gar nicht üben? «Man kann es trainieren», erklärt Frank, «wie ein Spitzensportler. Für einen Skirennfahrer kommt es am Schluss auch auf eine einzige Abfahrt an. Für das Rennen braucht er aber einen ganzen Haufen an Fähigkeiten. Er wird zwar nie die gleiche Abfahrt fahren oder die gleichen Schneeverhältnisse haben – es gibt aber eine Menge einzelner Aspekte, die er zuvor trainieren kann.» Dazu konzentriere man sich bei Übungen besonders auf die Einheit des Teams. Es sei wichtig, einander zu spüren, um ein eingespieltes Team zu sein. Dieses blinde Verständnis füreinander ist auf wie abseits der Bühne spürbar. So gipfelt die gerade noch entspannte Rauchpause zweier Darsteller plötzlich in ein spontanes Impro-Rap-Battle mit Applaus. Dieses Ensemble scheint auch abseits der Bühne ihren Spass zu haben.

Scheitern gehört zum Alltagsgeschäft Doch was tut man, wenn einem partout nichts einfallen will? Das gäbe es ständig, winkt Frank ab. Wichtig sei es, nicht nervös zu werden – und zu handeln! «Am Besten einfach etwas tun. Blackouts sind oft textbezogen. Man kann auch einfach einmal einen Schrank öffnen und schauen, was es dort drin hat. Man ist nicht alleine auf der Bühne.»

Man müsse Vertrauen haben, das jemandem etwas in den Sinn kommt und sich verzeihen können: «Manchmal denkt man – ohje, was war denn das gerade für einen Mist, den ich gespielt habe?! Das Scheitern gehört zu unserem Alltagsgeschäft. Es ist wichtig, diese Angst abzulegen. Da sind ja eine Menge Leute im Raum. Nicht nur das Team, auch die Zuschauer gehören zu dieser Gruppe, die gerade da drin das Theaterstück kreiert. Selbst wenn sie nur dasitzen – aber was in den Köpfen der Zuschauer passiert, ist relevant. Dort läuft der eigentliche Film ab. Diesen können wir zu einem Teil beeinflussen, aber nicht bestimmen. Sie werden so zu einem Teil des Stücks – die Zuschauer gehören bei uns dazu!»

Hat es dich gepackt und du möchtest auch ein Impro-Theater erleben? Vom 10. bis zum 18. Oktober findet in Züri das Impro-Theater-Festival «Spunk» statt, welches auch von der Gruppe anundpfirsich organisiert wird. 

Dieser Artikel wurde automatisch in das neue CMS von Tsri.ch migriert. Wenn du Fehler bemerkst, darfst du diese sehr gerne unserem Computerflüsterer melden.

Das könnte dich auch interessieren