Tempofoif: «Haben mehr Türen eingetreten, als uns aufgehalten wurden» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Rahel Bains

Redaktionsleiterin

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10. Januar 2021 um 08:57

Tempofoif: «Haben mehr Türen eingetreten, als uns aufgehalten wurden»

Absagen, Berufsverbot, Zukunftsängste – das vergangenen Jahr war auch für die Theaterschaffenden Hélène Hüsler und Laura Leupi vom Kollektiv Tempofoif eine Herausforderung. Die beiden erzählen, wie sehr es gerade jetzt Theater braucht, weshalb Intendanz-Modelle fragwürdig und freies Theaterschaffen nicht halb so sexy ist, wie es klingt.

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Laura Leupi (links) und Hélène Hüsler. Bilder: Elio Donauer

Zürich hat unzählige Kollektive – was treibt diese an, wie sind sie organisiert und wie haben sie das Jahr 2020 erlebt? Wir haben es in dieser Serie für dich herausgefunden.

Das Zürcher Kollektiv Tempofoif vereint um das Kernteam Hélène Hüsler (25) und Laura Leupi (24) Künstler*innen unterschiedlichster Richtungen und Interessen und lässt sie in immer neuen Konstellationen für Projekte in Theater, Film, Performance, Ausstellung oder was ihnen in den Sinn kommt, aufeinander prallen. Hüsler und Leupi haben sich an der Uni kennengelernt, währenddem sie im Bachelor populäre Kultur studiert haben. Eines Tages sassen sie dort in der Caféteria und gestanden sich, dass sie eigentlich viel lieber Theater machen wollen.

Seither haben sie mit Tempofoif Kurzfilme und ein Theaterstück für ein junges Publikum namens OMA inszeniert. Wobei es in Letzterem tatsächlich um ihre Grossmütter ging. Sie verwandelten das «Kein Museum» in Wollishofen in eine temporäre, fragwürdige Parallelwelt, in einem Raum der Fragen, und erschufen ein feministisches Theaterstück namens Die Vagina Monologe 2019. Als Teil des Theaterfestivals Grätsche boten sie selbstorganisierten Theatergruppen eine Plattform und sind derzeit daran, für eine Ko-Produktion alternative Wohnformen zu erforschen. Im März werden sie zudem anschliessend an eine Rauminstallation zum Thema Internet-Radikalisierung im Theater Winkelwiese zu Gast sein.

Keine Rollenverteilung, keine Regie

Auf eine kollektive Arbeitsweise setzen die beiden Frauen dabei ganz bewusst. «Es gibt keine klare Rollenverteilung, keine Regie», erzählen sie, währenddem sie am Küchentisch ihres Ateliers «Co-Werk» sitzen, das in einem Büro-Komplex neben dem Bahnhof Altstetten versteckt ist. Diesen kleinen Mikrokosmos, in dem ein Hauch Besetzerstimmung herrscht, teilen sie sich mit 18 weiteren Kreativschaffenden.

Theater sei immer ein kollektives Produkt, sagt Hüsler. Etwas, an dem viele Menschen beteiligt seien. «Die Person, die Scheinwerfer installiert, ist genauso essentiell wie jene, welche die künstlerische Vision umsetzt.» In der Theater-Welt sei diese Erkenntnis aber noch nicht überall angelangt. «Meine Uni-Professorin hat einmal gesagt, dass Spital, Kirche und Theater die letzten Bastionen des Patriarchats sind», erzählt Leupi schmunzelnd und fährt fort: «Das Intendanz-Modell, bei dem ein Mensch über alles entscheiden kann, wird im deutschsprachigen Raum zu 80 Prozent von weissen Cis-Männern besetzt. Das prägt die Theaterlandschaft sehr.»

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In Zürich habe man zudem eine sehr genaue Vorstellung darüber, wie es etwas sein und gemacht werden müsse. Profis, Laien, Stadttheater, freie Szene – alles sei in Kategorien eingeteilt. «An anderen Orten fragen sie dich, was du machst, hier will man zuerst wissen, was du studiert hast und für welches Theaterhaus du arbeitest», erzählen die beiden. Ihre kollektive Arbeitsweise sei im Gegensatz zwar teils anstrengend und herausfordernd, gleichzeitig aber auch sehr erfüllend und spannend: «Wir können uns nichts anderes mehr vorstellen.»

Tsüri.ch: Das Jahr 2020 in drei Worten?

Tempofoif: Knall, Fall, Akne

Was für Herausforderungen hat die Corona-Krise mitgebracht – und wie seid ihr damit umgegangen?

Corona hat einmal alles durchgeschüttelt. Absagen, Unverbindlichkeiten, Berufsverbot und Zukunftsängste haben uns dazu gebracht, dieses Jahr unser Schaffen und Theater als Medium zu hinterfragen. Selbstverständlichkeiten wurden über den Haufen geworfen und wir blieben mit der Frage zurück: Wieso machen wir Theater?

Für uns ist klar: Nichts tun ist auch keine Option. In dieser Situation weiterzumachen braucht extrem viel Energie und wir haben dieses Jahr wirklich herausgefunden worauf wir Bock haben. Eine Zoom-Performance, eine interaktive Raumperformance, ein Workshop, ein Jugendtheaterkurs: Die Projekte, die wir dieses Jahr umgesetzt haben, haben wir alle unter Corona-Bedingungen durchgeführt. Und gemerkt, wie sehr es gerade jetzt Theater braucht.

Was ist eure Message als Kollektiv?

Alles ist gut, solange du wild bist.

Wenn Leidenschaft Lohnarbeit trifft ist Selbstausbeutung eine Realität. Kultur ist nicht gratis, auch wenn du nichts dafür zahlst.

Tempofoif

Wer oder was inspiriert euch?

Popkultur, Alltag, schlechte Netflix-Weihnachtsfilme. Unsere Mamas, kaputte Gegenstände, feministische Kämpfe auf der ganzen Welt. Der Küchentisch in unserer Ateliergemeinschaft. Blockflöten, unsere Teenage-Angst, Rufus Becks Stimme. Sonnenschein, Heuschnupfen, Winterwanderungen. Sex, Langstrassendreck, Stadtweh. Theater, Kaffee, Menschen in farbenfrohen Outfits. Henning Mays Herzschmerz, Duftöllämpchen, das Bergpanorama am Ende des Zürichsees. Gespräche. Neues. Altes. Die Masoalahalle, Zugfahren, dieser eine perfekt in der Hand liegende Kugelschreiber. Instagram, Fanpost, Theorien von alten weissen Männern. Mitbewohner*innen, der Balkon im ersten Stock gegenüber, Gedichte von Kate Tempest. Tanzen. Solidarität, Austausch, Begeisterungsfähigkeit.

Weshalb tut ihr das, was ihr tut in Zürich – und nicht in einer anderen Stadt?

Man munkelt ja, Zürich sei der Mittelpunkt der Welt.

Zahlt ihr euch einen Lohn aus? Wenn ja, weshalb? Wenn nein, weshalb nicht?

Wenn immer möglich, ja. Wir sind hauptberuflich Theaterschaffende. Aber freies Theaterschaffen ist nicht halb so sexy, wie es klingt. Die Zeitspanne, bis eine Produktion auf der Bühne steht und der Lohn, den wir uns dafür auszahlen können, stehen oft in keinem Verhältnis. Wenn Leidenschaft Lohnarbeit trifft ist Selbstausbeutung eine Realität. Kultur ist nicht gratis, auch wenn du nichts dafür zahlst.

Waren die Stadt und ihre Bewohner*innen bislang gut zu euch? Wo haben sie euch Steine in den Weg gelegt, wo Türen geöffnet?

Äh, next question. Nein, Spass bei Seite: Neugierde ist sicher da und wir freuen uns wahnsinnig über jedes bekannte und unbekannte Gesicht, dass sich für unsere Kulturtheorie durchtränkten Hirngespinste interessiert. Wir haben sicher mehr Türen eingetreten, als uns aufgehalten wurden, das ist eh mehr Rock‘n‘Roll.

Was war euer schönster und/oder prägendster Moment seit der Gründung?

Während den Vagina Monologen zu sehen, wie 12 Frauen* über sich hinauswachsen. Und zu merken, wie transformierend es sein kann, Raum zu haben um frei, sicher und schamlos sprechen zu können, wo er sonst fehlt. Theater ist ein solcher Raum und wir wollen ihn schaffen.

Wie geht ihr als Gruppe kollektiv mit Entscheidungsprozessen um?

Konsens gleich Love, logisch. Wo die Basisdemokratie an ihre Grenzen stösst, gibt es Rotwein.

Wünschen uns mehr Raum für Unfertiges und Dreckiges, weniger Abschottung nach Aussen. Die Welt endet nicht in Kilchberg!

Tempofoif

Was wünscht ihr euch von Zürich?

Mehr Raum für Unfertiges und Dreckiges, weniger Abschottung nach Aussen. Die Welt endet nicht in Kilchberg! Weniger Effizienz, mehr Tee trinken. Nazis raus und der Escher gleich mit! Brecht den Beton auf, macht aus dem Paradeplatz ein Planschbecken und Theaterräume niederschwellig zugänglich!

Ihr seid es, die unsere Stadt zu der machen, die sie ist. Sie beleben – kulturell, aber auch politisch. Was plant ihr für das kommende Jahr?

Thank you, the sky is the limit!

  • Klarkommen
  • Jessica Jurassica einen Liebesbrief schreiben
  • Eine Kinderpunkband gründen
  • Patriarchat stürzen
  • Diese ominöse Work-Life-Balance finden
  • Mehr Listen schreiben

Arbeiten! Wir machen donnerstags einen Jugendkurs über Extreme im Theater Purpur, bereiten die zweite Ausgabe von Grätsche vor und bleiben an unserer Recherche zu Onlineradikalisierung. Und an einem Festival werden wir dann auch noch sein.

Serie «Zürcher Kollektive»
Immer mehr Menschen dieser Stadt schliessen sich zu einem Kollektiv zusammen. Für diese Serie wollten wir wissen: Was treibt diese Menschen an? Wie gehen sie mit Entscheidungsprozessen um? Wie haben sie, die das kulturelle Leben dieser Stadt prägen, das Jahr 2020 gemeistert? Und was ist trotz der widrigen Umstände für die kommenden Monate geplant?

1. Was ist eigentlich ein Kollektiv?
2. Urban Equipe
3. Ziegel oh Lac
4. Organ Tempel
5. Zentrum für kritisches Denken
6. Jungthaeter
7. Vo da.
8. Literatur für das, was passiert
9. F 96
10. Tempofoif
11. Regula Rec
12. Lauter
13. Tauchstation
14. Radio Megahex
15. Fagdom

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