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Von Isabel Brun

Redaktorin

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17. August 2021 um 03:00

Tempo 30 in Zürich: «In was für einer Stadt wollen wir leben?»

Der Stadtrat will in Zürich weitgehend Tempo 30 einführen. Während das bei der rot-grünen Mehrheit gut ankommt, hagelt es von Seiten der Bürgerlichen und dem Gewerbe Kritik. Es würde dem öffentlichen Verkehr und der Wirtschaft schaden. Was ist an den Vorwürfen dran?

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Der Bucheggplatz von oben: Wie viel Platz sollen Autos haben dürfen? Foto: Unsplash

Laut rauscht der Verkehr durch die Strassen. Das stetige Brummen der Motoren wird durch das Aufheulen eines Töffs unterbrochen. Zürich soll leiser werden, das hat der Stadtrat bereits vor zehn Jahren entschieden. In den Jahren 2012 und 2013 wurden deshalb einige Strassenabschnitte in der Innenstadt in 30er-Zonen umgewandelt. Weitere werden bald folgen: Im vergangenen Juli hat der Stadtrat bekannt gegeben, dass in Zürich bis ins Jahr 2030 weitgehend Tempo 30 gelten soll. Zum Ärger von Gewerbe-Verbänden, dem Verkehrsverbund und den bürgerlichen Parteien.

Die Auswirkungen auf den öffentlichen Verkehr

Einer der Gründe der Gegner:innen: Auch Strassen, die vom öffentlichen Verkehr (ÖV) befahren werden, sind von der Massnahme betroffen. Der FDP-Regierungsrätin Carmen Walker Späh geht dieser Schritt zu weit. Tempo 30 für alle Verkehrsteilnehmenden inklusive dem ÖV einzuführen, sei für sie keine «tragbare Lösung», sagte die Volkswirtschaftsdirektorin einige Tage nach der Veröffentlichung der Pläne des Stadtrats im Interview mit der NZZ. «Die Lärmbelastung ist nicht primär durch den ÖV verursacht», argumentiert Walker Späh, und trotzdem wäre er der hauptsächlich Leidtragende bei einer flächendeckenden Einführung von Tempo 30 in der Stadt. Würde der ÖV an Beförderungsgeschwindigkeit verlieren, sieht die Regierungsrätin dessen Attraktivität in Gefahr: «Der öffentliche Verkehr muss besser werden – nicht schlechter.»

Auch der Zürcher Verkehrsverbund (ZVV) äussert Skepsis: «Vorschnelle Entscheide können negative Folgen für das öffentliche Verkehrsangebot mit sich bringen», schreibt er in einer Medienmitteilung Mitte Juli. Zwei Tage nachdem der Stadtrat seine Massnahmen bekannt gegeben hatte. Ein Dilemma, wie es scheint. Denn die Verkehrsbetriebe der Stadt seien auf zusätzliche Mittel des ZVV – und somit des Kantons – angewiesen, um weiterhin ihre Leistungen erbringen zu können, das ist sich auch die Stadtregierung bewusst. Gemäss einer Analyse von Stadt und Kanton aus dem Jahr 2019 schwanken die Verlustzeiten nach der Einführung von Tempo 30 zwischen einer und drei Sekunden pro 100 Meter; ähnlich wie dies beim motorisierten Individualverkehr der Fall ist.

Langsamer, aber leiser, klimafreundlicher, sicherer

Diese Verlangsamung hat jedoch auch positive Aspekte. Verschiedene Studien zeigen, dass die Temporeduktion eine wirksame Massnahme gegen Strassenlärm ist: Gilt anstelle Tempo 50 nur Tempo 30, verringert sich die Lärmemission um rund drei Dezibel. Was in der Wahrnehmung einer Halbierung der Verkehrsmenge entsprechen würde, hält das Bundesamt für Umwelt (BAFU) fest. Bei 30 Kilometern pro Stunde sei der Verkehr flüssiger – «lärmintensive Beschleunigungen kommen viel seltener vor. Wird Stop-and-Go vermieden, nimmt auch der CO2-Ausstoss ab, bestätigt der Mobilitätsforscher Thomas Sauter-Servaes von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Einen viel grösseren Einfluss aufs Klima habe eine Temporeduktion aber aufgrund dessen, dass es für Velofahrende und Fussgänger:innen auf den Strassen sicherer werde, hält er fest. «Man steigt eher vom Auto aufs Velo um, wenn die Unfallgefahr dabei gering ist.»

Die Ängste der Ladenbetreiber:innen, dass weniger Menschen in die Geschäfte kommen, hat sich stets als unbegründet erwiesen.

Monika Litscher, Stadtforscherin

Den Vorteilen zum Trotz: Bürgerliche sehen in der flächendeckenden Einführung von Tempo 30 in der Stadt nicht nur eine Gefahr für den öffentlichen Verkehr, sondern auch für das Gewerbe. In einer Motion forderten zwei SVP-Politiker deshalb im vergangenen April, dass gewisse Temporeduktionen in der Stadt rückgängig gemacht werden. Zurzeit seien diese eher ideologisch statt zielführend motiviert, so die Unterzeichner. Eine Aussage, die bei der Stadtforscherin Monika Litscher Kopfschütteln auslöst. «Etwa zwei Drittel aller Unfälle mit motorisierten Fahrzeugen und Fussgänger:innen könnten durch die Einführung von Tempo 30 oder einer Begegnungszone vermieden werden – das hat nichts mit einer Ideologie, sondern mit fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu tun.»

Als Geschäftsleiterin des Verbands Fussverkehr Schweiz, der sich seit über vier Jahrzehnten für die Rechte von Fussgänger:innen einsetzt, kämpft sie schon lange für Temporeduktionen in Schweizer Städten. Allerdings nicht nur aus lärmtechnischen Gründen: «Uns geht es in erster Linie darum, die Sicherheit von zu Fuss gehenden Menschen zu verbessern.» Laut der Beratungsstelle für Unfallverhütung ziehen sich auf Schweizer Strassen jährlich rund 600 Fussgänger:innen schwere Verletzungen zu. Aus diesem Grund befürworte Litscher den Entscheid der Stadt Zürich, weitgehend Tempo 30 einzuführen. In anderen Städten habe man bereits gute Erfahrung mit der Entschleunigung vom motorisierten Verkehr gemacht, so die Stadtforscherin. «Die Ängste der Ladenbetreiber:innen, dass weniger Menschen in die Geschäfte kommen, hat sich stets als unbegründet erwiesen.» Trotzdem müsse man ihre Sorgen ernst nehmen, so Litscher.

Kampf um öffentlichen Raum

Kummer bereitet Gwerbler:innen vor allem, dass durch eine Erweiterung von Tempo-30-Zonen auf die Hauptverkehrsachsen weniger Kundschaft in die Läden kommt – und somit auch der Umsatz rückgängig wird. Anders als Fussverkehr Schweiz lehnt die City Vereinigung Zürich deshalb den Entscheid des Stadtrats ab. «Bei einer Verlangsamung des Verkehrs sind der Detailhandel, die Gastronomie sowie viele kleine Dienstleistungsbetriebe gleichermassen betroffen», denn sie alle, Kund:innen, Arbeitnehmende, so wie Handwerker:innen und Lieferant:innen, seien auf kürzere und effiziente Fahrzeiten angewiesen – egal ob privat oder mit dem öffentlichen Verkehr, schreibt Milan Prenosil auf Anfrage. Der Präsident des Dachverbands verschiedener Strassen- und Quartiervereinigungen sowie einzelner Branchen- und Berufsverbände in der Zürcher Innenstadt nennt aber noch ein anderes Thema, das in Zürich immer wieder zu Diskussionen führt.

Dass Busse und Trams bei einer Einführung von Tempo 30 ebenfalls weniger schnell unterwegs sein werden, lässt sich nicht wegdiskutieren.

Thomas Sauter-Servaes, Mobilitätsforscher

Gemäss neuem Richtplan der Gemeinde sollen oberirdischen Parkplätze in der Innenstadt gesamthaft reduziert werden; ein Graus für Prenosil: «Wir wissen, dass die mit dem Auto angereisten Besucher:innen die höchsten Ausgaben tätigen.» Ausserdem würde eine Verknappung des Parkraumangebots erfahrungsgemäss zu mehr Suchverkehr und Staus führen. Für Thomas Sauter-Servaes ist diese Schlussfolgerung «zu eindimensional», zudem führe mehr Platz für motorisierte Fahrzeuge automatisch zu mehr Verkehr. Bedeutet im Umkehrschluss: «Wird Autofahren in der Stadt unattraktiver, schaut man sich viel eher nach Alternativen um, als wenn die Situation so bleibt wie bis anhin», so Sauter-Servaes.

Laut dem Mobilitätsforscher braucht es ein Umdenken von allen. Ein runder Tisch, wo alle Beteiligten mitreden dürfen. «In der Vergangenheit wurde alles auf das Auto ausgelegt. Wir wurden darauf sozialisiert, dass es allgegenwärtig ist; wir möglichst schnell von A nach B kommen.» Und ganz ohne Abstriche gehe es eben nicht: «Dass Busse und Trams bei einer Einführung von Tempo 30 ebenfalls weniger schnell unterwegs sein werden, lässt sich nicht wegdiskutieren.» Doch die Chancen, die durch die Temporeduktion entstehen würden, seien zu gross, um an der Entscheidung des Zürcher Stadtrats Kritik zu üben, findet Sauter-Servaes. «Schlussendlich geht es um die Frage, in was für einer Stadt wir leben wollen.» Leiser und sicherer sei schon ein Schritt in die richtige Richtung.

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