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Von Sonya Jamil

Praktikantin Redaktion

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30. September 2020 um 08:12

Tabu-Serie: Wenn gar nichts mehr geht

Lena* sitzt in ihrem Zimmer. Es ist Mittagszeit; vor wenigen Stunden drückte die Studentin im Vorlesungsraum noch die Schulbank. Dort verstand sie praktisch gar nichts und wenn sie sich in ihren eigenen vier Wänden umsieht, verspürt sie nur noch Panik – es ist ihr alles zu viel. Die heute 28-Jährige über das Leben mit einer bipolaren Störung und Depressionen.

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Unsere Gesellschaft kennt viele Tabus, wenn es um das Thema Gesundheit geht. In der Tabu-Serie porträtieren wir Menschen, die sonst nicht oft zu Wort kommen.

«Ich war völlig blockiert; an diesem Tag brachte ich es nicht einmal fertig, mir Spaghetti zu kochen», erzählt Lena und erinnert sich dabei an den ausschlaggebenden Moment vor zwei Jahren. Stress im Studium, bei der Arbeit und im Privatleben: Angst und Panik werden für die damals 26-Jährige zum Dauerzustand; nachts macht sie kein Auge zu, tagsüber fehlt es an Konzentration. Im Sommer 2018 folgt schliesslich der emotionale Zusammenbruch.

Die Klinik als Rettung

Lena bricht kurzerhand ihr Studium ab und zieht wieder zu ihren Eltern. Es wird jedoch nicht besser: Sie weint nach wie vor viel, kann nicht essen und nicht schlafen. Die Wohnung will sie nicht verlassen; das Bett ist ihr Zufluchtsort. Lena fühlt sich schlapp, ihr fehlt es schlichtweg an Energie, sich um sich selbst, geschweige um soziale Kontakte zu kümmern. Sie kann ihren Freund*innen nicht sagen, wie es ihr geht. «Wie auch, ich konnte es mir nicht einmal selbst erklären», meint Lena. Sie fühlt sich nicht dazugehörig, bei allen anderen geht der Alltag weiter; sie scheinen ihr Leben zu geniessen.

Lenas Mutter macht sich grosse Sorgen. Der Vater zeigt sich zunächst verständnislos. «Jetzt mach doch mal!», sagt er. Es könne doch nicht so schwer sein, wieder auf die Beine zu kommen. Auch wenn die Eltern Lenas Verhalten nicht nachvollziehen können, bekommt sie von ihnen volle Unterstützung; Lena kann sich fallen lassen. Auf den Rat ihrer Eltern geht sie zu einer Psychologin, es sind jedoch stationäre- und ambulante Klinikaufenthalte, die Lena schlussendlich helfen.

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Die richtige Diagnose

Im Herbst 2018 besucht Lena eine stationäre Klinik. Hier wird sie zunächst mit Depressionen und Angststörungen diagnostiziert. Ausgerüstet mit Antidepressiva verlässt Lena die Klinik nach sechs Wochen wieder. Sie fühlt sich nach dem Aufenthalt ein wenig besser; der Rückfall lässt jedoch nicht lange auf sich warten. Lena hat wieder Angstzustände, mag nichts essen und verliert deswegen stark an Gewicht; ihre Welt ist wieder schwarz. Sie besucht weitere Kliniken, nach dem dritten stationären Klinikaufenthalt erfährt Lena nun endlich von den Ärzt*innen: Sie hat eine bipolare Störung.

Von rosarot bis pechschwarz

An einigen Tagen sieht Lena das Leben wie durch eine rosarote Brille. Sie ist voller Selbstvertrauen, packt die Dinge an, ist richtig euphorisch. An anderen Tagen dann das pure Gegenteil: Sie ist voller Selbstzweifel, will keine Gesellschaft, der Alltag ist kaum zu bewältigen. Das Gedankenkarussell dreht sich Tag und Nacht um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. «Wenn man in der jeweiligen Phase ist, kann man sich kaum vorstellen, dass es einmal anders war», wirft Lena ein. Die Herausforderung der Krankheit liegt darin, mit diesen zwei emotionalen Extremen umgehen zu können.

Die bipolare Erkrankung hat zwei verschiedene Verlaufsformen: Die Bipolar-II-Störung, welche Lena hat, ist sozusagen eine Vorstufe der Manie und zeichnet sich in einem bestimmten Zeitraum durch depressive Episoden und mindestens einer hypomanischen, euphorischen Phase aus. Diese Phasen wechseln sich bei Lena im zwei- bis vier Wochen Rhythmus ab. Die Bipolar-II-Störung tritt bei 2 bis 4 Prozent der Bevölkerung auf. Bei der Bipolar-I-Störung sind Depression und Manie stärker ausgeprägt.«Es gibt auch Menschen, die in einer Art Psychose völlig den Bezug zur Realität verlieren», erzählt Lena.

Es kann jeden treffen

Als Kind war Lena eher schüchtern und ängstlich, aber dennoch lebensfroh. Von heute auf morgen musste sie ab Mitte 20 lernen, mit extremen Höhenflügen und Abstürzen zu leben. Die junge Frau findet es wichtig, über mentale Gesundheit zu sprechen. Gegen eine psychische Erkrankung ist niemand immun; es könnte jede*n treffen, darum geht das Thema auch jede*n was an. Stress schien bei Lena der Auslöser für ihre bipolare Störung gewesen zu sein. Man braucht ihrer Meinung nach jedoch keinen bestimmten Grund, um psychische Beschwerden zu haben.

Lena weiss wie wichtig es ist, diese Probleme nicht mit sich selbst auszumachen, sondern sich an Menschen zu wenden, die einen verstehen. Ihr Freund, ihre Familie und vor allem ihre neu gewonnenen Freund*innen aus den Kliniken sind ihr sicherer Hafen. An einen gemeinsamen Spieleabend mit Flammkuchen, innigen Gesprächen und viel Gelächter erinnert sich Lena besonders gerne zurück.

Yoga, Joggen, Tanzen, Malen: Dank den Aufenthalten in der Klinik entdeckte Lena neue und alte Hobbies für sich. Für diese nimmt sie sich nun bewusst Zeit. Durch eine geordnete Tagesstruktur merkt sie, dass alles einen Platz in ihrem Leben haben kann. Ihre Stimmung hält sie täglich schriftlich fest. Momentan fühlt sie sich ausgeglichen, hat eher ein Stimmungs-Hoch. Die auf bipolar abgestimmten Medikamente helfen ihr dabei.

Gegen eine psychische Erkrankung ist niemand immun

Lena

Leben und nicht nur existieren

Grübelei, innere Unruhe, Appetitlosigkeit, Schlafprobleme; schon ist sie da, die Abwärtsspirale. Lena erkennt die Anzeichen mittlerweile schnell. Ihr Ziel ist es, ihr Befinden bewusst zu steuern und zu regulieren, das lernt sie unter anderem momentan in einer Tagesklinik.

Vor ihrer Krankheitsdiagnose konnte sich Lena nie vorstellen, wie es in den Köpfen Suizidgefährdeter aussieht. Sie war jedoch schockiert, wie schnell die eigenen Suizidgedanken auftauchten, als sie ihren Tiefpunkt erreichte. Die Welt war in ihren Augen so gross, sie selbst so klein. Sterben schien der einzige Ausweg zu sein. Als sie vor den Bahngleisen stand, fragte sie sich: Wie würde es meiner Familie mit meinen Tod gehen? Wie würden sich meine Freund*innen fühlen? Was, wenn es nicht klappt und danach alles schlimmer ist? Sie begriff, dass sie gar nicht sterben will. Im Gegenteil: Sie will richtig leben und nicht nur existieren.

Von diesem Vorfall erzählt Lena mit gefasster Stimme. Als sie einen Schluck von ihrem Minztee nimmt, sucht sie das erste Mal wieder Blickkontakt. «Ich habe keine Suizidgedanken mehr», betont Lena. Mittlerweile ist im Café eine Stunde verstrichen. Vor dem Eingang hat sich in der Zwischenzeit eine Spendenorganisation positioniert. Es geht um die hohe Suizidrate Jugendlicher.

Was würde Lena ihrem jüngeren Ich raten?

Es werden schwere Zeiten kommen, aber es lohnt sich weiterzukämpfen!

Lena

Sie hat in den letzten zwei Jahren sehr viel dazugelernt, ist nun stärker. Auch wenn es sich manchmal nicht so anfühlt, weiss Lena: das Leben geht weiter und es wird besser. Dieser Gedanke begleitet sie auf Schritt und Tritt; ihr Arm wird von einem Schriftzug geziert, der sich auf Deutsch übersetzen lässt mit: «Am Ende kommt alles gut».

*Name von der Redaktion geändert

Weitere Informationen zur bipolaren Erkrankung: SGBS Bipolar

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