Stadtentwicklungs-Projekt: «Partizipation ist vor allem Beziehungsarbeit» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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1. November 2022 um 13:00

«Partizipation ist vor allem Beziehungsarbeit»

Der Verein Urban Equipe hat in Wipkingen ein partizipatives Budget mit dem Namen «Quartieridee Wipkingen» initiiert. Sabeth Tödtli blickt im Gespräch mit Roxane Steiger auf diesen Prozess zurück.

Die Architektin Sabeth Tödtli beschäftigt sich seit vielen Jahren mit partizipativer Stadtentwicklung.(Foto: zVg)

Dieser Text ist bereits auf unserem Partnerportal P.S. erschienen. P.S. gehört wie Tsüri.ch zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.

Roxane Steiger: Der Verein Urban Equipe hat Ende September einen Arbeitsbericht zum Projekt eines partizipativen Budgets in Wipkingen, das 2020 und 2021 durchgeführt wurde, publiziert. Darin sammeln Sie Ihr Vorgehen, Ihre Erfahrungen und Erkenntnisse. Können Sie als erstes zusammenfassen, was unter einem partizipativen Budget, wie es in Wipkingen erprobt wurde, zu verstehen ist?

Sabeth Tödtli: Wie wir partizipative Budgets verstehen und wie wir es dann durchgeführt haben, sind zwei unterschiedliche Sachen. Ein partizipatives Budget ist in der Regel ein Budget, das die Stadt für die Bevölkerung zur Verfügung stellt. Die Bevölkerung kann dann Ideen einreichen, was sie mit diesem Budget machen möchte. Das läuft direkt und nicht über ein Parlament. Danach kann die Bevölkerung über die Ideen abstimmen und die Gewinnerideen werden von der Stadt umgesetzt.

Das heisst: ein Teil des Haushaltsbudgets wird für Projekte, die direkt aus der Bevölkerung kommen, ausgegeben. Das ist im Schweizer Kontext nicht möglich, da man viele Sachen umgehen müsste, wie zum Beispiel die Hoheit des Parlaments über das Budget. Bei unserem Projekt «Quartieridee Wipkingen» war ebenfalls ein Budget definiert, die Leute durften ihre Ideen abgeben und anschliessend darüber abstimmen. Der Unterschied war aber, dass nicht die Stadt, sondern die Leute die Idee umsetzen mussten – oder durften.

Wieso ist denn überhaupt Partizipation auf Quartiersebene wichtig?

Wir beim Verein Urban Equipe kommen aus dem Bereich Raum- und Stadtplanung. Für räumliche Projekte oder Infrastruktur in Quartieren, wie einen neuen Spielplatz oder eine neue Sitzbank, sind wir der Überzeugung, dass die Menschen, die dort wohnen, Expert:innen sind. Sie wissen am besten, was es in ihrem Quartier braucht und wie sie es haben wollen. In der Grössenordnung einer Stadt wie Zürich oder grösseren Städten macht es keinen Sinn, dass solche Belange auf kommunaler Ebene von einer Stadtverwaltung entschieden werden, die weniger lokales Wissen hat. Auch im Gemeinderat macht es zum Beispiel wenig Sinn, dass Schwamendingen darüber mitbestimmt, was in Altstetten kleinräumig geschehen soll.

Sie haben das Projekt als zivilgesellschaftliche Organisation getragen. Inwieweit waren die Behörden in diesem Prozess involviert?

Die Vereine Nextzürich und Urban Equipe waren die Initiatoren des Projekts. 2019 haben wir ein ausführliches Konzeptpapier geschrieben und veröffentlicht. Wir wollten schauen, was passiert. Die Stadt ist dann tatsächlich auf uns zugekommen und meinte, wir sollten es zusammen ausprobieren. Denn die Smart-City-Abteilung der Stadtentwicklung hat sich auf die Fahne geschrieben, dass sie smarte Partizipation erproben will. Also haben wir das Projekt gemeinsam aufgegleist.

Wir waren zwar die Trägerschaft und haben den Prozess im Quartier organisiert, aber die Stadt hat uns begleitet und auch mitgearbeitet. Ausserdem hat sie einen grossen Teil der Kosten übernommen, so zum Beispiel die Grafik, Material- und IT-Kosten sowie einen Teil des zu verteilenden Budgets. Wir haben vor allem die kommunikative Arbeit übernommen und die Quartierarbeit, um Menschen für das Projekt zu mobilisieren: Also Events zu organisieren, vor Ort zu sein, mit den Leuten zu sprechen und mit ihnen Ideen zu entwickeln. Das war aus unserer Sicht der grösste Teil der Arbeit, und auch der Teil, bei dem bei solchen Projekten leider oft gespart wird. 

«Fördertöpfe für gemeinnützige Quartierprojekte gibt es im Vergleich zu Kulturförderung noch viel zu wenige.»

Wie habt ihr denn Menschen mobilisiert und motiviert, Ideen einzureichen?

Wir haben vor dem Projekt bereits mit diversen Vereinen und Lokalen vor Ort gesprochen. Wir haben sie über das Projekt informiert und mit ihnen da­rüber gesprochen, ob sie etwas einreichen oder das Projekt in ihrem Netzwerk teilen möchten. Diese Multiplikator:innen zu aktivieren war ein erster wichtiger Schritt. In der ersten offiziellen Phase des Projekts, der zweimonatigen Ideenphase, waren wir viel im Quartier mit einem Mobil unterwegs und haben die Leute auf der Strasse angesprochen. Zudem haben wir an verschiedenen Orten und mit Vereinen Veranstaltungen organisiert.

Hat das gut funktioniert? 

Ins Gespräch zu kommen schon. Aber das heisst nicht, dass alle etwas eingereicht haben. Das ist ja auch nicht die einzige Art und Weise, an so einem Prozess mitzuwirken. Die Leute, die sich angesprochen fühlen, aber aus irgendeinem Grund keine Idee eingeben, sind ebenfalls wertvoll. Sie stimmen über die Ideen ab, kommentieren sie, helfen bei der Umsetzung oder haben etwas von den umgesetzten Projekten. Das ist alles auch eine Form von Teilhabe. 

Die Menschen, die man zum Partizipieren bewegen möchte, haben alle verschiedene Ressourcen, wie Geld, Zeit oder Wissen zur Verfügung. Wie kann man solche Prozesse trotzdem so inklusiv wie möglich gestalten? 

Das ist auch der Grund, weshalb wir diesen Arbeitsbericht geschrieben haben. Ja, man sollte sich Mühe geben, einen solchen Prozess möglichst inklusiv zu gestalten. Zum Beispiel, indem er mehrsprachig gestaltet oder breit kommuniziert wird. Trotzdem kann man mit so einem Projekt einfach nicht alle erreichen. Das liegt auch daran, dass wir in unserer Gesellschaft viele strukturelle Probleme haben, die ein solches Projekt alleine nicht lösen kann. Wieso sollte zum Beispiel jemand mitmachen und sich ein Projekt für sein Quartier ausdenken, der gar nicht weiss, ob er nächstes Jahr noch eine Wohnung im Quartier hat, die er sich leisten kann?

Verstehen Sie mich nicht falsch: Wir empfehlen es weiter, solche Prozesse anzureissen. Man muss sich aber bewusst sein, was man damit angehen kann und was nicht. Wir haben manchmal den Eindruck, dass Gemeinden oder Institutionen sich von solchen Prozessen zu viel versprechen und die Arbeit an strukturellen Problemen dafür zu kurz kommt – wie beispielsweise Wohnungsnot, soziale Ungleichheit oder dass über 40 Prozent der Zürcher Stadtbewohner:innen nicht abstimmen dürfen. 

Wer hat alles beim Projekt in Wipkingen mitgemacht?

Die Teilnehmenden waren ziemlich divers. Von sehr jungen zu sehr alten Menschen oder Menschen mit viel und solchen mit wenig Projekterfahrung war alles dabei. Auch die eingehenden Projektideen waren thematisch sehr divers, vom Schwingfest über den gemeinsamen Kompost oder den autofreien Sonntag bis hin zur Nachbarschaftshilfe. Wir haben keine Informationen darüber, wie die TeilnehmerInnen ökonomisch aufgestellt sind. Aus dem Bauch heraus würde ich aber sagen, dass es Leute sind, die das Gefühl haben, dass sie noch etwas länger in Wipkingen bleiben, trotz der starken Gentrifizierung. Und nur vier Projektideen kamen von Menschen, die kein Deutsch sprechen.

Von den 99 eingereichten Projekten kamen 27 zur Abstimmung. Was waren die Kriterien und wer hat ausgewählt, welche zur Abstimmung kommen?

Was den Ausschlag gegeben hat war erstens, ob die Idee umsetzbar ist. Da muss man verschiedene Aspekte beachten. Es kommt darauf an, wo die Idee angesiedelt ist, ob sie innerhalb des Budgets realisierbar ist und ob es dafür die Chance auf eine Bewilligung gibt – falls es eine braucht. Hilfreich war, dass unterschiedliche Departemente der Stadt zu fast allen Projektideen eine Einschätzung geschrieben und veröffentlicht haben.

Da hab ich auch selber noch einiges dazu gelernt. Zum Beispiel, wozu es eine Bewilligung bräuchte, wer bei der Stadtverwaltung überhaupt für was zuständig ist, und dass manche Ideen überraschend unkompliziert machbar sind. Aber auch, welche technischen, juristischen oder politischen Hürden manchen Projektideen im Weg stehen. Eine Idee war zum Beispiel eine Kletterwand am Silo. Sehr lässig, aber auf verschiedenen Ebenen schwierig umsetzbar. Das Silo ist privat. Also haben wir bei Swissmill angefragt – leider erfolglos. Es hätte für die Umsetzung die Zustimmung von Swissmill und wegen Sicherheitsaspekten vermutlich diverse Bewilligungen gebraucht. Zu teuer wäre es dadurch wahrscheinlich auch geworden. 

Der zweite wichtige Punkt war, ob sich jemand aus dem Quartier für das Projekt zuständig fühlt, schliesslich mussten es die Leute ja dann selber umsetzen. Wir hatten eine sehr niederschwellige Ideeneingabe. Man musste nur einen Titel und zwei bis drei Sätze für eine Idee eingeben. Wir haben absichtlich noch nicht zu stark betont, dass man dann alles selber umsetzen muss und ein ausführliches Konzept braucht, um damit nicht von vornherein zu sehr einzuschüchtern. Danach haben wir versucht, mit den Teilnehmenden ihre Ideen weiterzuentwickeln. Verständlicherweise sind viele Ideen dann wieder rausgefallen. 

Schliesslich erhielten acht sehr unterschiedliche Projekte ein Budget und werden nun umgesetzt. Wie wurde das Geld verteilt? 

Am Schluss hatten alle Projekte ein Preisschild. Es lief alles über eine Online-Plattform, eine sehr kluge Open-Source-Lösung aus Barcelona namens Decidim. Wer mit abstimmen wollte – und das durften alle, unabhängig von Alter, Pass oder Wohnort –, konnte man das Gesamtbudget von 40 000 Franken auf die Projekte verteilen, die man am spannendsten fand. Daraus hat das System dann eine Rangliste erstellt. Das Clevere an diesem System ist auch: Man muss das Budget auf mehr als ein Projekt verteilen. Somit kann man nicht nur über die Idee seiner Freunde abstimmen. Das wäre schade, denn dann würden einfach die Leute mit dem besten Netzwerk gewinnen. So haben auch Projekte gewonnen, deren Autor:innen null Werbung für ihr Projekt gemacht haben, sondern deren Idee einfach überzeugt hat.

Ist euer Ziel also, partizipative Budgets zu institutionalisieren? 

Wir sind uns nicht mehr ganz sicher, was wir uns tatsächlich wünschen. Wir wollten ursprünglich ein partizipatives Budget, bei dem die Menschen wünschen können und die Stadt die Ideen umsetzt. Das könnte sehr inklusiv sein, da es nicht davon abhängt, ob die Leute Ressourcen haben, ein Projekt selber umzusetzen. Die Umsetzung in der Form, wie wir sie in Wipkingen getestet haben, ist auch spannend, da ich es wichtig finde, zivilgesellschaftliche Initiativen zu unterstützen. Fördertöpfe für gemeinnützige Quartierprojekte gibt es im Vergleich zum Beispiel zu Kulturförderung noch viel zu wenige.

«Wir brauchen eine hohe Diversität an Mitmachmöglichkeiten.»

Dafür einen fixen Fonds einzuführen wäre sehr wertvoll. Wünschenswert wäre auch, dass dieser via öffentliche Abstimmung verteilt wird und nicht von Verwaltungsmitarbeiter:innen oder einer Jury. Schlussendlich kann die Bevölkerung am besten beurteilen, was ‹gemeinnützig› ist. Der Fonds sollte aber andere Förderprogramme nicht ersetzen oder konkurrieren. Das Geld soll nicht an Orten abgezapft werden, wo es auch benötigt wird. Und schliesslich soll so auch nicht die Verantwortung der Stadt auf die Bevölkerung abgeschoben werden – gerade im Bereich Quartierentwicklung.

Ausserdem sollte es nicht bestehende demokratische Mitmach-Möglichkeiten ersetzen. Alle sind immer auf der Suche nach diesem einen neuen demokratischen Tool, das endlich alles löst und alle erreicht. Darum generieren solche Projekte auch oft einen Hype. Da müssen wir meiner Meinung nach aufpassen, denn wenn eine diverse Stadtbevölkerung teilhaben soll, brauchen wir eine hohe Diversität an Mitmachmöglichkeiten. Jede Person hat eigene Bedürfnisse, wie sie mitmachen möchte oder sich einbringen kann.

Was zieht ihr aus diesem partizipativen Prozess?

Seit diesem Pilotprojekt in Wipkingen bekommen wir vermehrt Anfragen für ähnliche Prozesse. Zum Beispiel von Gemeinden oder grösseren Organisationen. Partizipation ist das Schlagwort der Stunde, und alle wollen partizipativer werden. Grundsätzlich ist das eine positive Entwicklung, jeder Schritt zu mehr Demokratisierung ist wichtig. Was uns aber überrascht, ist, dass oft der Eindruck herrscht, Partizipation sei ein Tool, das man einkaufen oder delegieren kann. Denn was uns spätestens in Wipkingen klar wurde: Partizipation ist vor allem Beziehungsarbeit, die man eigentlich selber machen muss. Es ist ein Missverständnis zu glauben, dass man das einfach outsourcen kann. Wenn eine Organisation oder Gemeinde partizipativer werden will, dann muss sie selber mehr in Kontakt kommen mit denen, die partizipieren sollen. Deshalb müssen Auftraggeber:innen bei diesem Prozess mitmachen. So lernen sie, es nächstes Mal auch ohne uns zu machen.

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