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1. Februar 2020 um 06:00

Sans-Papier-Kolumne: «Gesund bleiben, bitte!»

Geschätzt leben 10’000 Menschen ohne Papiere in Zürich, sogenannte Sans-Papiers. Sie leben hier, sie arbeiten hier, aber sie haben (fast) keine Rechte und keine Stimme. Licett Valverde, die als Sans-Papier in die Schweiz kam, schreibt einmal im Monat auf Tsüri.ch über ihre Erlebnisse.

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Bild: Kendal by Unsplash

Mit 26 Jahren kam ich in die Schweiz, abgesehen von Sehstörungen, war ich bei guter Gesundheit und hatte viel Energie.

Nach einigen negativen Erfahrungen wie Uneinigkeiten mit der Polizei, Wohnungs- und Arbeitsproblemen verschlechterte sich mein Gesundheitszustand allmählich.

Ich bekam Schlafstörungen, ich lebte in ständigem Stress. Obwohl ich versuchte, so gut wie möglich, gesund zu essen, konnte ich nicht anders, als mich schlecht zu fühlen. Die Angst und die ständige Paranoia, beobachtet zu werden, wirkten sich negativ auf meine Gesundheit aus.

Wenn es sich um eine Erkältung oder eine leichte Krankheit handelte, konnte ich sie mit verschreibungsfreien Medikamenten lösen. Die Vorstellung zum Arzt gehen zu müssen, hat mich aus verschiedenen Gründen in Panik versetzt: Die Sprache und das fehlende Geld für die Behandlung zum Beispiel. Eine Krankenversicherung hatte ich natürlich nicht.

Ich bekam eine so intensive Pollenallergie, die ich vorher nicht hatte, dass ich manchmal nicht zur Arbeit gehen konnte.

Ein Jahr nach meiner Ankunft in der Schweiz musste ich zum Arzt, weil ich eine Infektion hatte, die sonst nicht geheilt werden konnte.

Eine Freundin empfahl mir einen der wenigen Ärzt*innen, die Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung behandelte. Er sprach Spanisch, hatte in Südamerika gelebt und dort Medizin studiert. Als ich in seiner Praxis war, behandelte er mich so gut und ich fühlte mich so willkommen, dass ich zusammenbrach. Eine einfühlsame Person, die mich eroberte. Zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben in der Schweiz war es für mich sehr schwierig, jemandem zu vertrauen, aber ich erzählte ihm, was ich erlebte und ich fühlte mich gehört und nicht beurteilt.

Zusätzlich zu den Antibiotika, die ich benötigte, verschrieb er mir Antidepressiva. Schließlich habe ich die Antidepressiva nicht gekauft, weil ich sie mir nicht leisten konnte.

Während der zwei Jahre, in denen ich als Sans-Papiers lebte, wusste ich, dass ich nicht krank werden darf, denn das würde mich in eine verletzliche Situation bringen. Ich musste einfach funktionieren.

Die Energie und Motivation, mich vorwärts zu bewegen, schöpfte ich aus den entstehenden Freundschaften. Viele von ihnen lebten oder hatten in derselben unregelmässigen Situation gelebt wie ich. An den Wochenenden wollten wir tanzen, um unseren Frust auf der Tanzfläche abzulassen.

Als ich meine Aufenthaltsbewilligung als Studentin erhielt und nachdem sich meine Paarbeziehung gefestigt hatte, fühlte ich mich sicher. Mein Körper entspannte sich und plötzlich zeigten sich viele Krankheiten. Das Komplizierteste war die Depression, die ich über Jahre hinweg unterdrückt habe.

Diese Situation ist nicht ungewöhnlich. Viele Menschen, die unter solche Umstände leben müssen, sind gezwungen, immer stark zu bleiben. Sobald sie ihre Situation geregelt haben, werden sie krank. Möglicherweise weil sie das Gefühl haben, dass es nicht länger notwendig ist, stark zu sein, und weil sie es sich leisten können, verwundbar zu sein, weil das System sie angeblich unterstützen wird.

Acht Jahre nach meinen Erfahrungen als Sans-Papiers in der Schweiz hatte ich die Möglichkeit, an einem Kongress für Psychiatrie in Spanien teilzunehmen. Das Thema des Kongresses war Migration. In einem Vortrag begannen sie, die Symptome des Ulysses-Syndroms, besser bekannt als das Auswanderersyndrom mit chronischem und multiplem Stress, zu beschreiben. Es ist ein psychologisches Krankheitsbild, das Einwanderer*innen betrifft, die in extremen Situationen leben. Es ist ein reaktives Krankheitsbild von Stress in Situationen, die nicht ausgearbeitet werden können. Es geht nicht um klassische Migration, sondern um eine extreme Variante, die Einwanderer*innen in Extremsituationen des 21. Jahrhunderts betrifft. Es ist keine psychische Störung, sondern ein intensives Bild von Stress.

Obwohl ich nie an Leib und Leben bedroht war und obwohl und mein Land nicht verliess, weil ich keine andere Wahl hatte, konnte ich endlich verstehen, was ich erlbet hatte. Ich war nicht verrückt! Bis zu einem gewissen Grad war ich vom Ulysses-Syndrom betroffen. Diese Erkenntnis war sehr wichtig für mich und hilft mir derzeit alljene zu verstehen, die es durchmachen.

In der Schweiz haben Sans-Papiers ab 2002 Anspruch auf eine Krankenkasse. Eine Krankenversicherung kann eine Versicherung per Gesetz nicht ablehnen. Aber seien wir ehrlich, die Krankenversicherung ist für das Budget eines Sans-Papiers so teuer, dass sie es sich kaum leisten können. Bei der Sans-Papiers-Anlaufstelle (SPAZ) wird es nur in extremen Notfällen empfohlen. Zum Beispiel für schwangere Frauen, bei schweren Erkrankungen oder für Kinder im schulpflichtigen Alter.

Auch wenn die Krankenversicherung die Versicherung nicht ablehnen kann, haben wir im SPAZ-Büro mit einigen Versichereungen viele Schwierigkeiten. In mehreren Fällen musste die Anfrage immer wieder gesendet werden, da die Dokumente «verloren» gingen. Oder die Krankenkassen haben wochenlang nicht geantwortet. Umgekehrt sind wir auch immer wieder auf sensibilisierte und solidarische Menschen getroffen.

Züri City Card
Diese Kolumne ist eine Kooperation zwischen der Züri City Card und dem Stadtmagazin Tsüri.ch. Die Züri City Card will einen städtischen Ausweis für alle lancieren, damit auch Sans-Papier an der Stadt teilhaben, sich vor Ausbeutung schützen und ärztlich behandeln lassen können. Du kannst das Projekt hier unterstützen. .

Es gibt Situationen, in denen eine Krankenkasse nicht ausreicht.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich die Geschichte von einer 50-jährigen Brasilianerin erzählen, die mehr als 20 Jahre in der Schweiz gelebt hat. Die gut integrierte Arbeitnehmerin bezahlte ihre Krankenkasse Rechnungen pünktlich. Eine sehr starke und kämpfende Frau.

Sie wurde schwer krank und benötigte eine Lungentransplantation. Da sie jedoch keine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz hatte, konnte sie sich nicht einer Transplantation unterziehen lassen.

Ihre Familie in Brasilien erkundigte sich und stellte fest, dass es dort möglich war, eine Lungentransplantation zu machen. Aber dafür musste sie reisen. Ihre Lungen waren so schwach, dass eine Flugreise undenkbar war. Die Lungenliga Schweiz hat davon dringend abgeraten.

Die einzige Möglichkeit war eine Bootsfahrt, dafür brauchte sie Geld, um die Fahrt unter besonderen Bedingungen zu bezahlen. Erstens würde eine Verwandte von ihr kommen müssen, um sie während der Reise zu begleiten, da es ihr nicht möglich war, allein zu reisen. Sie hatte grosse Angst, was während der Reise mit ihr passieren könnte oder dass die Transplantation nicht erfolgreich verlaufen würde. Vor allem aber hatte sie grosse Hoffnung, dass alles gut werden würde.

Hilfe wurde von Stiftungen oder Einzelpersonen angefragt.

Nach einigen Monaten Papierkram war die Reise organisiert: Viele Organisationen wie SPAZ, Krankenkasse oder Solidaritätsleute machten einen Spagat.

Anfang Dezember verliess sie sehr aufgeregt und versprach, in die Schweiz zurückzukehren, sobald sie wieder gesund ist. Ich erinnere mich noch, wie sie das letzte Mal im SPAZ-Büro ankam und ihren Rucksack mit Sauerstoff und einem Lächeln im Gesicht davon trug.

Für das neue Jahr schrieb sie uns eine Nachricht und wünschte uns ein gutes Jahr. Sie war in gutem Zustand angekommen und war glücklich und hoffnungsvoll. Letzte Woche erhielten wir eine E-Mail von einem Verwandten, der uns mitteilte, dass Cleonice leider nach zwei Wochen im Krankenhaus an einer Infektion gestorben sei.

Was wäre passiert, wenn Cleonice in der Schweiz geblieben wäre und die Möglichkeit einer Transplantation gehabt hätte? Wir werden es leider nie erfahren. Zwar ist die Wahrscheinlichkeit einer Abstossung einer transplantierten Lunge höher als bei jedem anderen Organ. Aber wäre es nicht menschlicher gewesen, dieser Frau die Chance zu geben?

Leider haben Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz und in einigen Fällen auch Geflüchtete keine Recht für eine Organtransplantation.

Ich weiss nichts was ihr denkt, aber ich wundere mich immer wieder darüber. Sprechen wir über Menschen verschiedener Klassen?

Es ist sehr beruhigend zu sehen, dass die Solidarität gegenüber den Sans-Papiers in unsere Gesellschaft zunimmt. Obwohl ich der Meinung bin, dass wir in Bezug auf Gesetze, die diese Bevölkerung stärker schützen, noch einen langen Weg vor uns haben.

Die Kolumnen auf Tsüri
Jeden Samstag erscheint mindestens eine neue Kolumne, manchmal sogar zwei. Damit wollen wir dir Einblicke in andere Leben geben, dich inspirieren, anregen und vielleicht auch mal aufregen. Unsere Kolumnist*innen diskutieren gerne mit dir in den Kommentaren. Seid lieb!

– Die Feminismus-Kolumne von Pascale Niederer & Laila Gutknecht Co-Gründerinnen von «das da unten».
– Die Collaboration-Booster-Kolumne von Nadja Schnetzler, Co-Gründerin von Generation Purpose.
– Die Papi-Kolumne von Antoine Schnegg, Co-Gründer seines Kindes.
– Die Sans-Papiers-Kolumne von Licett Valverde, frühere Sans-Papiers.
– Die Food-Kolumne von Cathrin Michael, Food-Bloggerin.
– Die Veganismus-Kolumne von Laura Lombardini, Geschäftsführerin der Veganen Gesellschaft Schweiz.

Alle Kolumnen findest du hier.

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