Sans-Papiers-Kolumne: Wenn der Wunsch, unsichtbar zu werden, eine Notwendigkeit wird - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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4. Januar 2020 um 10:36

Sans-Papiers-Kolumne: Wenn der Wunsch, unsichtbar zu werden, eine Notwendigkeit wird

Geschätzt leben 10’000 Menschen ohne Papiere in Zürich, sogenannte Sans-Papiers. Sie leben hier, sie arbeiten hier, aber sie haben (fast) keine Rechte und keine Stimme. Licett Valverde, die als Sans-Papier in die Schweiz kam, schreibt einmal im Monat auf Tsüri.ch über ihre Erlebnisse.

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Photo by Markus Spiske on Unsplash

In Bolivien weckte der Anblick eines Polizeibeamten keine grossen Gefühle in mir. Oder wenn, dann bestenfalls ein Gefühl des Schutzes und der Sicherheit.

Als ich in der Schweiz ankam und begann, Polizist*innen fast unter jedem Stein zu sehen, wurde die Situation traumatisch für mich. Ich sah uniformierte Polizist*innen zu Fuss, in Autos, auf Fahrrädern, zu Pferd, auf Rollschuhen am Seeufer im Sommer, auf Booten usw. usw. Das alles zwei- oder dreimal am Tag, egal wohin ich ging.

Bei so vielen Polizist*innen fühlt sich die Schweizer Bevölkerung vermutlich zweifellos sicherer, aber wenn man keine Aufenthaltserlaubnis hat und rein äusserlich nicht verstecken kann, dass man ein*e Ausländer*in ist, fühlt man sich immer irgendwie verdächtig.

Während meiner Zeit als Sans-Papiers in der Schweiz habe ich einige Erfahrungen mit der Polizei gemacht, welche mich geprägt haben. Zu dieser Zeit empfand ich Angst, fast Panik, wenn eine Uniform meinen Weg kreuzte. Zunächst lief kalter Schweiss meinen Rücken runter, mein Mund wurde trocken, meine Hände schwitzten und meine Muskeln spannten sich an. Mein Kopf fühlte sich an, als ob er explodieren würde.

Die erste Begegnung fand ungefähr drei Monate nach meiner Ankunft statt. Durch einen Bekannten bekam ich den Auftrag, die Wohnung eines Schweizers zu putzen, der in einer Bar arbeitete. Der Deal war, dass ich je nach Bedarf während einer Woche täglich putzen gehen würde. Ich war normalerweise allein im Haus. Am dritten oder vierten Tag klingelte es und ich hatte sofort grosse Angst. Ich versuchte so wenig Lärm wie möglich zu machen, ging zur Tür und sah durch den Sucher ein paar Polizist*innen auf dem Flur. Ich war total versteinert, konnte mich nicht bewegen, nicht einmal atmen. Ich beschloss, nicht zu öffnen, weil ich dachte, sie würden gehen. Aber dem war nicht so.

Irgendwann öffnete ich die Tür. Ich erinnere mich nicht, ob es zwei oder drei Polizist*innen waren, aber als sie mich nach dem Besitzer der Wohnung und meinen Daten fragten, fühlte ich mich wie in einer Wolke, es war so stressig, dass ich nicht genau wusste, was ich gerade erlebte. Ich war überzeugt, dass sie mich ausschaffen würden, und als sie meinen Pass zurückbrachten und sich für die Unannehmlichkeiten entschuldigten, dachte ich, es sei eine Falle und sie würden darauf warten, dass ich nach draussen gehen würde, damit sie mich mitnehmen können.

Es dauerte eine Weile, bis ich reagierte. Dann rief ich eine Freundin an, um zu erzählen, was soeben passiert war. Sie riet mir, eine Weile zu warten, bevor ich ging. Einmal ausserhalb des Gebäudes fühlte ich mich mehr denn je beobachtet und erwartete, die Polizist*innen hinter der nächsten Ecke zu treffen. Ich wusste nie, warum sie den Hausbesitzer suchten. Ich habe ihn nie wiedergesehen.

Ein paar Wochen später kontrollierte die Polizei am Bahnhof meines Dorfes einen jungen Mann, mit dem ich eine Wohnung geteilt hatte. Auch er war illegal in der Schweiz. Bei der Kontrolle hatte er den Pass nicht dabei. Da wir uns auf diese Art von Situation vorbereitet hatten, gab er die Adresse der Freundin an, die uns geholfen hatte, in die Schweiz zu gelangen, jedoch nicht die echte Adresse war, wo er derzeit mit mir lebte. Zufällig war ich im Haus dieser Freundin, als die Polizei anrief und ankündigte, dass sie auf der Suche nach dem Pass des jungen Mannes waren. Ich floh durch die Hintertür und begann durch die Strassen im Dorf zu laufen, ohne zu wissen, wohin ich gehen sollte. Ich fühlte mich in keiner Weise sicher, in mein Haus zurückzukehren, weil ich dachte, dass dieser junge Mann mit der Polizei sprechen würde und mich verraten könnte.

Ich betrat eine Kirche und dachte, dass dies ein sicherer Ort sein würde.

Nach einer Weile fühlte ich mich aber auch hier nicht mehr geschützt. Ich sass in einem Park und ging wieder weiter. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wie ich mich in den Augen der Menschen, denen ich begegnete, weniger misstrauisch fühlen sollte. Nach einer Weile rief ich einen Freund an und bat ihn, mich abzuholen. Schliesslich wurde mein Mitbewohner nach ein paar Tagen ausgeschafft und ich wagte es, in meine Wohnung zurückzukehren, obwohl ich mich an diesem Ort nicht mehr sicher fühlen konnte.

Ein anderes Mal, nachdem ich ein Jahr in der Schweiz verbracht hatte, beschloss ich, ein Risiko einzugehen und das Land zu verlassen. Im Juli 2002 fand in Barcelona ein internationaler Kongress zu HIV / AIDS statt. In Bolivien hatte ich viel an diesem Thema gearbeitet und mich entschlossen, mich freiwillig für die Organisation der Veranstaltung einzusetzen. Sie akzeptierten meine Kandidatur und ich musste nur das Ticket bezahlen, um nach Barcelona zu kommen.

Ich war sehr glücklich, weil ich endlich ein anderes Land kennenlernen würde. Ich konnte mich in meiner Sprache verständigen, insbesondere, wenn ich ein paar Wochen lang über ein Thema sprechen würde, das mich beruflich begeistert. Eine Freundin von mir begleitete mich. In der Schweiz hatte sie eine Aufenthaltsbewilligung und wollte in den Urlaub fahren. Ich war mir vom ersten Moment an bewusst, dass die Rückkehr in die Schweiz kompliziert werden würde.

Wir sind mit dem Zug durch Basel gefahren und dort umgestiegen. Bei der Grenzüberquerung wurden wir nicht kontrolliert, wir dachten, es liegt daran, weil wir in einem französischen Zug sassen und waren zuversichtlich für die Rückreise.

Wir waren derart zuversichtlich, dass wir nicht mitbekommen hatten, dass wir mit einem Zug der SBB zurückkehrten.

Als wir aus dem Zug stiegen, trafen wir auf ein paar Polizist*innen, die uns nach Dokumenten fragten. Sie brachten uns in ihr Büro und nachdem sie die Dokumente meiner Freundin überprüft hatten, liessen sie sie gehen. Vor meiner Reise war ich bereits auf eine solche Situation vorbereitet. Mein Telefon war ausgeschaltet, in meinem Portemonnaie hatte ich nichts, was einen Hinweis darauf geben könnte, dass ich vorher in der Schweiz gewesen war. Für diesen Fall wollten wir erzählen, dass wir uns erst gerade kennen gelernt hatten. Zum Glück mussten wir diese Geschichte nicht erzählen. Während wir der Polizei in ihr Büro folgten und darauf achteten, dass sie uns nicht sah, gab ich meiner Freundin mein ganzes Geld in Schweizer Franken, das ich hatte. Sie gab mir ein paar Euro.

Wieder kalter Schweiss über Wirbelsäule und Hände, trockener Mund und mein Kopf drehte.

Sie stellten mir viele Fragen. Ich sagte, dass ich im Zug eingeschlafen war, als wir nachts fuhren und ich den Bahnhof verpasste, an dem ich meine Verbindung nach Stuttgart zum Haus einer anderen Freundin nehmen musste. Nach einer Weile, ich weiss nicht mehr wie lange, kam ein Polizist und bat mich, ihm zu folgen. Er brachte mich zu einem Zug, der gleich abfahren würde, und befahl mir, einzusteigen. Es gelang mir zu lesen, dass der Zug nach Strassburg fuhr. Ich hatte insgesamt 30 Euro. Ich bezahlte die Fahrkarte und als wir am Strassburger Bahnhof ankamen, wollte ich eine Fahrkarte kaufen, um nach Stuttgart zu fahren. Aber ich hatte nicht genug Geld, um das Ticket zu bezahlen. Mit dem letzten Geld kaufte ich eine Telefonkarte, um drei Telefonate zu machen. Die Freundin, mit der ich nach Spanien gereist war, bat ich, mir Geld durch Western Union zu schicken, damit ich nach Deutschland fahren und dort ein paar Tage warten konnte. Der zweite Anruf betraf meine Freundin aus Stuttgart, um sie zu warnen, dass ich zu ihr kommen würde, und schliesslich kontaktierte ich eine Schweizer Freundin, die angeboten hatte, mir beim Überqueren der Grenze zu helfen. Es war Sommer und die Bedingung war, dass es gutes Wetter sein musste, um mit dieser Reise keinen Verdacht zu erregen.

Ein paar Stunden später hatte ich das Geld und konnte mein Ticket kaufen, ich musste nur noch ein paar Stunden warten. Ich erinnere mich, wie ich im Wartezimmer sass und dann ist mir bewusst geworden, was ich gerade erlebte. Bis zu diesem Moment arbeitete mein Kopf wegen des Adrenalins mit erstaunlicher Klarheit. Sobald sich mein Körper entspannte, fühlte ich mich eingesunken. Ich fing untröstlich an zu weinen. Ich hatte mich freiwillig entschlossen, in der Schweiz zu leben, und man liess mich nicht nach Hause zurück. Wo ich einen schlecht bezahlten Job hatte, meine Freund*innen, meine Bücher und die wenigen Dinge, die ich bis dann ansammeln konnte.

Ich habe eine Woche in Deutschland gewartet, bis uns das Wetter endlich das grosse Abenteuer des Grenzübertritts ermöglicht hat. Ich habe meine Freundin in einer Stadt nahe der Grenze getroffen. Ich war glücklich und ruhig, überzeugt, dass alles gut werden würde, aber ich erkannte, dass es für meine Freundin ein innerer Kampf war. Sie hatte grosse Angst, ich versuchte sie den ganzen Weg zu beruhigen. Ich konnte sehen, dass sie eine wahre Freundin war, die ein Risiko für mich einging. Ich werde ihr immer dankbar sein.

Alles lief gut, wir hatten keine Probleme und ich konnte zu meiner Normalität in Zürich zurückkehren.

Ich kann mich nicht erinnern, wie oft ich im Zug oder Bus gefahren bin und dann zufällig an der Haltestelle, an der ich aussteigen musste, einen Polizisten gesehen habe. Ich weiss auch nicht, wie oft ich ausgestiegen bin, bevor ich am Ziel war, weil die Polizei in den Bus oder die Tram gestiegen ist, wo ich war.

Ich mied Orte, an denen es mehr Polizeikontrollen gab, oder Orte, an denen viele Ausländer*innen waren.

Ich wollte unsichtbar sein und so unbemerkt wie möglich bleiben.

Auch nachdem ich meine Aufenthaltserlaubnis bekommen hatte und Polizist*innen antraf, konnte ich das Zittern meines Körpers nicht verhindern. Ich musste mir immer wieder einreden, dass ich keine Angst mehr haben musste.

Deshalb kann ich mich auch jetzt noch sehr gut in die Sans-Papiers hineinversetzen, wenn sie mir sagen, was sie fühlen, wenn sie die Polizei in der Nähe sehen. Vor ein paar Tagen kam zitternd eine Frau in das Büro der Sans-Papiers-Anlaufstelle. Denn als sie an der Schule ankam, wo sie einen Deutschkurs beginnen musste, parkte ein Polizeiauto vor der Tür. Sie fürchtete das Schlimmste, sie dachte, sie würde kontrolliert und die Schule sei kein sicherer Ort mehr. Sie konnte sich erst beruhigen, als die Schule versichern konnte, dass das Polizeiauto nur per Zufall vor dem Haus parkiert hatte.

Für eine Schweizerin oder einen Schweizer ist es sehr schwierig, diese Ängste zu verstehen. Sie glauben, dass die Sans-Papier übertreiben. Ich bitte euch alle, nicht zu urteilen. Vielleicht habt ihr die Möglichkeit, Sans-Papiers dabei zu unterstützen, ihnen vielleicht eine Umarmung oder ein Glas Wasser anzubieten, um sie zu beruhigen, ein Ohr, um ihnen zuzuhören. Niemand kennt die Umstände, unter denen sie leben oder die Gründe, die sie hierher gebracht haben. Wir alle verdienen es, in Würde zu leben!

Züri City Card
Diese Kolumne ist eine Kooperation zwischen der Züri City Card und dem Stadtmagazin Tsüri.ch. Die Züri City Card will einen städtischen Ausweis für alle lancieren, damit auch Sans-Papier an der Stadt teilhaben, sich vor Ausbeutung schützen und ärztlich behandeln lassen können. Du kannst das Projekt hier unterstützen. .

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