Jung, integriert, Sans-Papiers: Wie eine 12-Jährige zu träumen wagt - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Isabel Brun

Redaktorin

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9. Juni 2022 um 12:00

Zwischen Bubble-Tea und Bleiberecht: Der Alltag einer 12-jährigen Sans-Papiers

Die 12-jährige Valeria* ist in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Trotzdem hat sie kein Aufenthaltsrecht, denn ihre Familie lebt irregulär hier – sie sind Sans-Papiers. Ein ganz normales Mädchen über seine Ängste, Notlügen und den Traum von einer Reise in die USA.

Ob sie extra ein rot-weisses T-Shirt angezogen habe, frage ich. «Nein», lacht Valeria, das sei Zufall gewesen. (Foto: Isabel Brun)

Am liebsten mag Valeria* den Bubble-Tea mit Blaubeergeschmack. Ihre besten Freundinnen sagen von ihr, sie sei «handysüchtig», weil sie viel Zeit auf TikTok verbringt. Trotzdem geht sie gerne mit ihnen raus, zum Glattzentrum, abhängen, wo sie über Jungs, den neuesten Klatsch aus der Promiwelt oder vermasselte Prüfungen reden. Was Mädchen in ihrem Alter eben so machen. Doch so ähnlich Valeria anderen Gleichaltrigen ist, es gibt etwas, das sie von ihnen unterscheidet. Sie ist ein Sans-Papiers-Kind, hat kein Aufenthaltsrecht in der Schweiz – und das, obwohl sie hier geboren und aufgewachsen ist.

Ich treffe Valeria vor einem Café in der Zürcher Innenstadt. Sie ist erst zwölf, überragt mich aber bereits um einige Zentimeter. Ihre langen, dunklen Haare trägt sie offen über die Schultern. Sie habe heute Nachmittag schulfrei, erzählt sie, aber sonst sei es gerade ziemlich streng, weil es so kurz vor den Sommerferien in allen Fächern noch Tests gäbe. Valeria steht vor dem Übertritt in die Oberstufe. Ihr Note seien sehr gut, ausser in Deutsch und Mathematik, so die Schülerin, «das sind aber auch nicht meine Lieblingsfächer». 

In wenigen Tagen wird sich entscheiden, wo Valeria die Sekundarschule besuchen wird – dann wird für Valeria ein neuer Lebensabschnitt beginnen. (Foto: Isabel Brun)

Lieber leise als laut

Dass sie in der Rechtschreibung manchmal Mühe hat, begründet sie damit, dass sie Zuhause spanisch spricht. «Ich finde, man hört es mir schon an, dass ich nicht in einer Schweizer Familie aufgewachsen bin», sagt Valeria. Ich hingegen höre nichts anderes als die Sprache, die ich von vielen Teenagern kenne; viele Anglizismen, Abkürzungen und ein bisschen Slang. Sie rede gerne, so die 12-Jährige, manchmal auch ein bisschen zu viel. Sie lacht auf, verstummt sogleich wieder und streicht sich etwas verlegen eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Früher war ich sehr laut, sprach über alles und jede:n, egal wann und wo.» Das habe sich geändert, seit sie wisse, dass sie irregulär hier lebt. Aus Angst aufzufallen oder sich zu verplappern, bleibe sie lieber still.

«Ich kann mir nicht vorstellen aus der Schweiz wegzugehen. Ich habe hier mein Umfeld.»

Valeria

Erfahren, dass sie eine Sans-Papiers ist, hat Valeria erst vor zwei Jahren, während Corona. «Eines Morgens nach dem Frühstück sagte meine Mutter, dass sie mir etwas Wichtiges erzählen müsse. Sie wurde richtig emotional, da wusste ich, dass es ernst ist», erinnert sich das Mädchen. Klar, es sei ein Schock gewesen, aber so richtig verstanden hätte sie es damals noch nicht. Das sei erst nach und nach gekommen. Eine Situation habe sich besonders in ihr Gedächtnis gebrannt: «Vor ein paar Monaten erzählte mir meine Mutter, dass ein guter Freund von ihr verschwunden war.» Deshalb seien sie bei seiner Wohnung vorbei gegangen, um nach ihm zu sehen. «Doch er war nicht da.» Also hätten sie noch vor Ort die Sans-Papiers Anlaufstelle (SPAZ) informiert. Diese riet ihnen, das Wohnhaus schnellstmöglich wieder zu verlassen, was sie sofort getan hätten. Zum Glück: «Als wir auf der anderen Strassenseite standen, sahen wir gerade zwei Polizisten in das Haus gehen. Es war richtig knapp.» Valerias Augen blitzen auf, als sie das sagt.

«Ich war noch nie am Meer»

Der besagte Freund wurde mittlerweile ausgeschafft, bestätigt mir die SPAZ. Es gehe ihm aber den Umständen entsprechend gut, weiss Valeria. Wie es für sie wäre, wenn ihr das passieren würde, frage ich. «Das überlege ich mir nur sehr selten», lautet ihre Antwort. «Ich kann mir nicht vorstellen aus der Schweiz wegzugehen. Ich habe hier mein Umfeld.» Anders als in Südamerika, woher ihre Mutter ursprünglich stammt und wohin auch Valeria im Falle einer Ausschaffung gehen müsste. Zwar habe sie dort auch Verwandte, sie selber sei jedoch noch nie dort gewesen. Ins Ausland zu gehen, würde für die junge Sans-Papiers bedeuten, dass sie sich dem Risiko aussetzen müsste, entdeckt zu werden. Nicht frei umherreisen zu können, belastet die Jugendliche: «Ich war noch nie am Meer, noch nie in einem anderen Land in den Ferien. Das macht mich manchmal sehr traurig.» Im Alltag werde sie immer wieder damit konfrontiert. Auch, weil nur ganz wenige Personen über die Situation ihrer Familie Bescheid wissen. Anders ihre Teeniekolleginnen: «Meine beste Freundin sagte letztens: ‹Komm wir fahren mal zusammen weg, nach Italien oder so.› Dann muss ich irgendeine Ausrede erfinden. Dabei hasse ich es, zu lügen!» 

Wie den meisten Sans-Papiers in Zürich sieht man auch Valeria nicht an, dass sie rechtlich gesehen nicht hier sein dürfte. (Foto: Isabel Brun)

Ihre offene und direkte Art beeindruckt mich – ein taffes Mädchen, das viel älter wirkt, als es tatsächlich ist. Vielleicht auch, weil es schneller erwachsen werden musste als andere. Ihre Mutter habe immer sehr viel gearbeitet, erzählt Valeria. Früher verstand sie nicht, weshalb am Ende des Monats trotzdem nur wenig Geld übrig blieb. Oder warum sie alle paar Monate umziehen mussten. «Seit ich mich erinnern kann, haben wir neun Mal die Wohnung gewechselt.» Ihr Daheim definiere sie deshalb nicht als einen Ort, sondern als ein Gefühl. Das Gefühl, bei ihrer Familie zu sein. Sie seien ein gutes Team; ihre Mutter, ihr Bruder Rico* und sie. Anders als Valeria wuchs Rico zeitweise bei Verwandten in seinem Ursprungsland auf und kam erst letztes Jahr in die Schweiz. Gemeldet habe er sich bisher nicht; seine Aussichten auf eine Aufenthaltsbewilligung wären gleich null, wenn er ein Gesuch stellen würde. Das mache ihr manchmal Sorgen, sagt Valeria.

Von der Zukunft träumen

Wenn sie über die Dinge spricht, die ihr aufgrund ihres Rechtsstatus verwehrt bleiben oder ihr Leben verkomplizieren, spüre ich die Verzweiflung der Jugendlichen. Die ständige Angst, entdeckt und ausgeschafft zu werden, obwohl sie hier aufgewachsen und in unser System integriert ist. Praktisch gesehen ist sie Schweizerin, theoretisch gesehen Südamerikanerin. Nach zwölf Jahren sei nun der Zeitpunkt gekommen, dies zu ändern. Mit Unterstützung der SPAZ will Valeria ein Härtefallgesuch einreichen. Es soll sie endlich regularisieren. Das bedeutet aber auch, dass sie alle Informationen von ihrem Namen über die Wohnadresse bis hin zu einem Foto offenlegen muss.

Es wäre ein mutiger Schritt von Valeria, denn wird das Gesuch nicht gutgeheissen, droht ihrer ganzen Familie die Abschiebung nach Südamerika. Wird es bewilligt, würde auch Valerias Mutter den Aufenthaltsstatus B erhalten. Die Chancen stünden gut, sonst hätte die SPAZ vom Gesuch abgeraten. Das stimmt die Sans-Papiers optimistisch: «Ich glaube fest daran, dass es klappt. Schliesslich wäre es hier ziemlich langweilig, wenn es nicht Menschen wie uns gäbe.» Verschiedene Kulturen täten uns gut, findet das Mädchen. Und ausserdem gehöre die Schweiz ja nicht nur den Schweizer:innen.

Ob sie für immer hier bleiben will, kann Valeria noch nicht sagen. Zürich gefalle ihr, aber ihr grosser Traum sei es, mal ein Jahr in die USA zu gehen: «Dorthin will ich schon seit ich ein kleines Mädchen bin und Hollywood-Filme geschaut habe», ihre Augen fangen an zu strahlen und für einen kurzen Moment wird sie zum ganz normalen Teenager, der von der grossen weiten Welt träumt. Danach sagt sie ernst: «Aber ich glaube nicht, dass das in Erfüllung geht, weil eine solche Reise kostet sehr viel Geld.» Doch noch bleibt ein wenig Zeit. Zeit, die Valeria hoffentlich bald genauso geniessen kann, wie das ihre Freundinnen tun – inklusive Urlaub am Meer. 

*Name aus Schutzgründen geändert. 

Dieser Artikel wurde mit Unterstützung von JournaFONDS recherchiert und umgesetzt.

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