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28. März 2020 um 07:00

Sans-Papiers-Kolumne: Corona als Bedrohung der Existenz

Geschätzt leben 10’000 Menschen ohne Papiere in Zürich, sogenannte Sans-Papiers. Sie leben hier, sie arbeiten hier, aber sie haben (fast) keine Rechte und keine Stimme. Licett Valverde, die als Sans-Papier in die Schweiz kam, schreibt einmal im Monat auf Tsüri.ch über ihre Erlebnisse.

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Photo by Melanie Wasser on Unsplash

Das Corona-Virus hat in vielen von uns unsere primitivsten Ängste geweckt. Die Angst vor dem Tod, vor dem Unbekannten, vor der Unsicherheit. Wir haben plötzlich gemerkt, wie verletzlich und endlich wir sind. Plötzlich verlieren wir die Kontrolle.

Aber auch ganz andere Gefühle kommen zum Vorschein; Solidarität und Hoffnung. Jede Krise ist auch eine Chance für persönliches, inneres Wachstum. Es ist Zeit, in uns hinein zu schauen, auf unsere Resilienz zurückzugreifen und herauszufinden, welche Lehren wir aus dieser Situation ziehen können. Ich bin überzeugt davon, dass wir als Menschen gestärkt hervorgehen werden. Die sozialen Netzwerke sind voller Hilfsangebote. Als Gesellschaft wachsen wir angesichts Widrigkeiten.

Ich persönlich lerne mehr Geduld zu haben, die Gesellschaft meiner Familie noch mehr zu geniessen und eine tägliche Struktur aufrechtzuerhalten, welche einen Sturz ins Chaos vermeidet. Dass ich jetzt so leben kann, ist nicht selbstverständlich. Ich gehöre zu der privilegierten Gruppe derer, die von zu Hause aus arbeiten können. Mein Mann gehört zur Risikogruppe, daher haben wir uns beide entschlossen, zu Hause zu bleiben. Der Fernunterricht meiner Mädchen läuft dank der Bemühungen und des Engagements ihrer Lehrer*innen und unserer Unterstützung als Eltern gut.

Diese Ängste werden unbedeutend, wenn ich mich mit den Schwächsten unter den Verwundbaren in unserer Gesellschaft vergleiche.

Licett Valverde

Meine Ängste tauchen dann auf, wenn ich im Supermarkt einkaufen gehe, weil das bedeutet, dass ich mich der Möglichkeit einer Ansteckung aussetze – wie es jetzt Millionen von Menschen auf der Welt tun.

Aber diese Ängste, die in mir und in der Mehrheit der Bevölkerung aufkommen, werden unbedeutend, wenn ich mich mit den Schwächsten unter den Verwundbaren in unserer Gesellschaft vergleiche: den Sans-Papiers, den Obdachlosen oder den Asylant*innen, die in Notunterkünften leben.

Als ehemalige Sans-Papier möchte ich über sie sprechen. Ich weiss, was es bedeutet, mit einer permanenten Angst zu leben, die durch deine Adern fliesst. Angst vor der Polizei, Angst, krank zu werden, Angst, Jobs zu verlieren und deshalb die Miete nicht mehr bezahlen zu können und so das Dach über dem Kopf zu verlieren. Kurz gesagt: Angst ist die ewige Konstante. All dies unter «normalen» Bedingungen. Hinzu kommt jetzt die Pandemie, durch welche die meisten Sans-Papiers über Nacht arbeitslos geworden sind.

Züri City Card
Diese Kolumne ist eine Kooperation zwischen der Züri City Card und dem Stadtmagazin Tsüri.ch. Die Züri City Card will einen städtischen Ausweis für alle lancieren, damit auch Sans-Papier an der Stadt teilhaben, sich vor Ausbeutung schützen und ärztlich behandeln lassen können. Du kannst das Projekt hier unterstützen.

Täglich nimmt die Sans-Papiers Anlaufsstelle verzweifelte Anrufe entgegen: Anrufe von alleinerziehenden Müttern mit kleinen Kindern, die die Miete nicht bezahlen können, oder von Vätern, die kein Geld haben, um Lebensmittel für ihre Kinder zu kaufen, oder von den wenigen, die krankenversichert sind, und nun die monatliche Prämie nicht bezahlen können.

Viele sind verzweifelt. Nicht nur, weil sie nicht nach draussen gehen sollten, um eine Ansteckung zu vermeiden, sondern auch aus Angst, in eine Polizeikontrolle zu geraten. Es ist eine völlig katastrophale Situation.

Mir ist bewusst, dass viele Schweizer Männer und Frauen sowie Ausländer*innen mit Aufenthaltsbewilligung wegen des Coronavirus arbeitslos geworden sind. Ich vertraue aber auch darauf, dass der Schweizer Staat sie unterstützen kann und wird. Die Situation der Sans-Papiers ist anders, sie haben niemanden, an den sie sich wenden können. Ihre einzige Möglichkeit ist, sich an die Solidarität der Menschen zu wenden und auf einen finanziellen Beitrag zu hoffen. Auf diese Weise können viele akute Probleme und Ängste bis zu einem gewissen Grad behoben werden.

Als ehemalige Sans-Papiers möchte ich diesen Menschen von ganzem Herzen für ihre Unterstützung danken. Ich weiss nicht, was aus mir geworden wäre, wäre ich jetzt in dieser prekären Situation. Die Angst, die ich jetzt fühle, würde sich sicherlich in Panik verwandeln.

Die aktuelle Corona-Krise ist für Sans-Papiers existenzbedrohend, hier kannst du sie unterstützen.

Die Kolumnen auf Tsüri
Jeden Samstag erscheint mindestens eine neue Kolumne, manchmal sogar zwei. Damit wollen wir dir Einblicke in andere Leben geben, dich inspirieren, anregen und vielleicht auch mal aufregen. Unsere Kolumnist*innen diskutieren gerne mit dir in den Kommentaren. Seid lieb!

– Die Feminismus-Kolumne von Pascale Niederer & Laila Gutknecht Co-Gründerinnen von «das da unten».
– Die Collaboration-Booster-Kolumne von Nadja Schnetzler, Co-Gründerin von Generation Purpose.
– Die Papi-Kolumne von Antoine Schnegg, Co-Gründer seines Kindes.
– Die Sans-Papiers-Kolumne von Licett Valverde, frühere Sans-Papiers.
– Die Food-Kolumne von Cathrin Michael, Food-Bloggerin.
– Die Veganismus-Kolumne von Laura Lombardini, Geschäftsführerin der Veganen Gesellschaft Schweiz.

Alle Kolumnen findest du hier.

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