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Von Rahel Bains

Redaktionsleiterin

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27. April 2021 um 07:33

«Reproduktion und romantische Liebe sind in meinem Leben voneinander getrennt»

Die Zürcher Künstlerin und Filmemacherin Marina Belobrovaja hat sich zu einer Samenspende und damit für das Leben als Alleinerziehende entschieden. In ihrem Film Menschenskind! setzt sie sich mit der Entstehungsgeschichte ihrer Tochter und bestehenden gesellschaftlichen Konventionen rund um das Thema Familie auseinander.

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Marina Belobrovaja (Foto: Elio Donauer)

Braucht eine Frau zwingend einen Mann, um ein Kind zu bekommen? Und wird er automatisch zum Vater, wenn es zur Zeugung mit seinem Samen kommt? Die Zürcher Filmemacherin Marina Belobrovaja hat einen radikalen Weg zur Mutterschaft gewählt, über den viele alleinstehende Frauen nachdenken, ihn aber doch nicht gehen. In ihrem Film Menschenskind! setzt sich die 44-Jährige, ausgehend von der Zeugungsgeschichte ihrer Tochter mit Hilfe eines Samenspenders, mit den bestehenden gesellschaftlichen Vorstellungen, Rollenmustern und Konventionen rund um das Thema «Familie» auseinander. Wir haben sie auf der Bullingerwiese, einer der vielen Zürcher Schauplätze des Films, getroffen. Ein Gespräch über die Trennung von Reproduktion und romantischer Liebe, der (politischen) Wirkung von Kunst und eine neue Generation, die ganz andere Konzepte von Geschlecht und Sexualität lebt.

Rahel Bains: Du hast in der Nacht, in der deine Tochter gezeugt wurde, mit der Handykamera zu filmen begonnen. War das eine spontane Aktion oder hast du zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst, dass du ihre Entstehungsgeschichte verfilmen wirst?

Marina Belobrovaja: Ich arbeite eigentlich immer autobiografisch. Distanz zu nehmen und als Künstlerin zu beobachten gibt mir extrem viel emanzipatorische Kraft, Dinge zu verarbeiten – sei es zum Beispiel meine Ausweisung aus der Schweiz oder eine Reise nach Tschernoby/Ukraine, von wo ich ursprünglich stamme. Bei diesem Film war es so, dass ich diesen Plan schon länger ausgeheckt habe im Wissen darum, mich dabei auf meine Kunst verlassen zu können. Und das, ohne konkret zu planen was genau dabei herauskommt.

In Menschenskind! kommen Protagonist:innen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und Moralvorstellungen zu Wort. Wie ist diese Zusammensetzung entstanden?

Ich habe Menschen einbezogen, von denen ich die meisten privat kenne und deren Positionen mir in Hinblick auf Familie interessant erschienen. Also zum Beispiel meine Freundin Sandra, die keine Kinder möchte. Oder Madeleine, die zwar ihre Rolle als Mutter und Ehefrau ausgeführt, diese Muster aber verlassen hat, als die Kinder gross genug waren.

Ich habe das grosse Privileg, nicht zuletzt auch finanziell soweit unabhängig zu sein, dass ich meine romantische Beziehung jenseits von diesem unmittelbaren Alltag frei gestalten kann.

Marina Belobrovaja

Unsere Kolumnistin beschreibt in ihren Texten, wie es ist, ein Kind ohne Vater zu erziehen. Deine Tochter ist nun acht Jahre alt – wie anstrengend waren die frühen Babyjahre rückblickend für dich?

Mein Vorteil war, dass ich von Anfang an wusste, dass ich in allen Belangen alleine verantwortlich sein werde. Ich habe mich deshalb schon sehr früh mit Dingen wie zum Beispiel der Kinderbetreuung auseinandergesetzt, mit denen sich sowohl hetero- als auch gleichgeschlechtliche Eltern erst später befassen. Trotzdem fühlte ich mich zu Beginn allein. Die Erwartungen, die ich – meist unbewusst – an mein Umfeld hatte, sind nicht ganz aufgegangen. Aber in den ersten Jahren der Elternschaft wirst du wohl zwangsläufig mit Enttäuschungen und Überforderungen konfrontiert. So geht es vielen Alleinerziehenden und zwar unabhängig davon, wie das Kind entstanden ist.

Wie waren die Reaktionen auf die Art und Weise, wie deine Tochter gezeugt worden ist?

Dazu muss ich vorausschicken, dass ich in einer Bubble von Kulturschaffenden und sich politisch vorwiegend links positionierenden Leuten unterwegs bin. Auch dort habe ich viele ethisch moralische Bedenken vernommen. Viele Reaktionen waren überraschend, einige haarsträubend.

Deine Entscheidung war aber nicht ideologisch geprägt. Im Film sagst du, dass du in der Vergangenheit bereits in romantischen Beziehungen warst, die aber nicht zu einem Kind geführt haben. Trotzdem wolltest du nicht darauf verzichten. Die ersten Jahre waren zwar streng, gab es aber auch Vorteile?

Reproduktion und romantische Liebe sind in meinem Leben – dem Leben einer heterosexuellen Cis-Frau – tatsächlich voneinander getrennt. Der in vielen Beziehungen aufkommende Konflikt zwischen dem erotischen Verhältnis und der Elternrolle bleibt mir und meinem jetzigen Partner dadurch erspart.

Es scheint mir anspruchsvoll, das Begehren über die Jahre hinweg trotz der physischen Nähe aufrechtzuerhalten und das jeden Tag mit allen Bedürfnissen, Zwängen und Banalitäten. Ich habe das grosse Privileg, nicht zuletzt auch finanziell soweit unabhängig zu sein, dass ich meine romantische Beziehung jenseits von diesem unmittelbaren Alltag frei gestalten kann.

Vor kurzem kam zum Beispiel das Referendum gegen die Initiative ‹Ehe für alle› zustande. Was ist das für ein Signal und was sagt das über diese Gesellschaft aus?

Marina Belobrovaja

Was für eine Rolle nimmt dein Partner in deiner Familie ein?

Die Samenspende war für mich wie gesagt keine ideologische Entscheidung. Sie war in erster Linie situationsbedingt, wie bei ganz vielen heterosexuellen Menschen, die einen Kinderwunsch haben, aber keine Partnerschaft führen. Hinzu kam der Zeitfaktor: Als ich meine Tochter bekommen habe war ich 37 Jahre alt. Die ominöse biologische Uhr tickte.

Nachträglich einen Partner in die Familie zu bringen, der für meiner Tochter allenfalls die Vaterrolle übernimmt, war für mich nie wirklich eine Option. Meine Tochter und ich waren von Anfang an eine Einheit, wir hatten unsere Geschichte, über die ich mit ihr, sobald sie kognitiv so weit war, in einer kindgerechten Form geteilt habe. Es war von Beginn an klar, dass jede Person, die dazukommt, eine Bezugsperson werden kann, aber nicht Teil unserer Familie.

In deinem Film wird sicht- und spürbar, wie nah du deinen Eltern bist und wie sie dich in deinen Entscheidungen unterstützen. Was bedeutet für dich Familie?

Familie bedeutet für mich eine bedingungslose Verpflichtung, die ich gegenüber meiner Tochter und meine Eltern mir gegenüber empfinden. Ich kann mir heute keine Partnerschaft oder Freundschaft vorstellen, die so bedingungslos wäre.

Du brichst mit Konventionen, lebst das Gegenteil des gängigen Kleinfamilien-Konzeptes. Wie sehr ist dieses noch immer in der Art und Weise, wie wir in unserer westlichen Industriegesellschaft leben und wohnen verankert?

Wir leben ja gewissermassen in vorgegebenen Strukturen, in vordefinierten Räumen. Ich denke, dass wenn unsere gebauten Räume ebenso wie unsere Gesetzgebung, auch andere Lebensmodelle berücksichtigen würden, hätten wir andere Spielräume und somit auch eine diversere gesellschaftliche Realität. Vor kurzem kam zum Beispiel das Referendum gegen die Initiative «Ehe für alle» zustande. Was ist das für ein Signal und was sagt das über diese Gesellschaft aus, wenn wir über gewisse Themen entscheiden und gewisse Gruppen dabei komplett ausschliessen?

Die Samenspende ist zum Beispiel für unverheiratete, alleinstehende Menschen in der Schweiz de facto verboten. Du hast trotzdem einen Weg gefunden. Bleibt der Spender anonym?

Es war für mich ganz entscheidend meiner Tochter die Möglichkeit zu geben, den Kontakt zu ihrem biologischen Vater aufnehmen zu können wenn sie das möchte.

Mir war es von Anfang an ein Anliegen, dass meine Tochter all die verschiedenen Konzepte von Geschlecht, Sexualität und Familie mitbekommt und im Bewusstsein einer grossen Diversität aufwächst.

Marina Belobrovaja

Ist deine Arbeit für dich ein Kanal, dich auch für politische Anliegen einzusetzen?

Hiermit stellst du im Grunde die Frage nach der Wirkung der Kunst. Ich bin ein politischer Mensch und meine Arbeit – egal ob im künstlerischen oder im cineastischen Feld – ist sicher politisch inspiriert. Aber ich denke, wir sollten die Wirkung der Kunst oder des Films nicht überschätzen. Sie können vielleicht Bilder liefern für gewisse politische Anliegen, die aber dann politisch anders geäussert und durchgesetzt werden müssen. Wenn ich auf Demos gehe, dann spreche ich Klartext. Der Film ist aber kein Manifest, er hat eine andere Aufgabe: Er stellt vielmehr Fragen statt Antworten zu liefern. Im besten Fall kann er Menschen dazu bringen, an gewissen Eindeutigkeiten zu zweifeln, ihre Sicht auf bestimmte Themen zu hinterfragen und Ambivalenzen und Unstimmigkeiten aufspüren.

Am 27. Mai kommt der Film in die Kinos. Er ist ein Langzeitprojekt – wie lange dauerte die Produktionszeit insgesamt?

Verdammt lange. Wir hatten Finanzierungsschwierigkeiten zu bewältigen, wodurch der Einstieg in die Arbeit extrem in die Länge gezogen wurde. Eine Protagonistin ist kurz vor dem Schnitt-Schluss abgesprungen, was uns ein weiteres Jahr an Arbeit beschert hat. Dafür kam aber eine neue Protagonistin hinzu, von deren Beteiligung der Film aber am Ende sehr profitiert hat.

Hat deine Tochter den Film bereits gesehen?

Ja und sie ist wahnsinnig stolz darauf, dass sie die Hauptrolle spielt. Es gab aber auch eine Stelle, an der sie geweint hat, weil wir in einer Szene streiten und sie es nicht so toll fand, dass das von anderen gesehen wird.

In Menschenskind! fragst du dich, wie deine Tochter Herkunft später definieren wird. Was bedeutet dir ihre Entstehungsgeschichte?

Natürlich ist die Entstehungsgeschichte meiner Tochter konträr zu hetero-romantischen Vorstellungen von Familie, die Kinder sozusagen als Früchte der Liebe definieren. Das sind ja im Grunde Konzepte, von denen unsere Gesellschaft und Kultur heute noch lebt. Mir war es von Anfang an ein Anliegen, dass meine Tochter all die verschiedenen Konzepte von Geschlecht, Sexualität und Familie mitbekommt und im Bewusstsein einer grossen Diversität aufwächst.

Ich habe eine grosse Hoffnung, dass wir als Gesellschaft dieser Diversität Rechnung tragen können. Diese Hoffnung wird nicht zuletzt auch durch meine Studierenden im Bachelor und Master Kunst an der Hochschule Luzern bestärkt. Das ist eine Generation, die andere Konzepte von Geschlecht und Sexualität lebt. Ich muss gestehen, dass ich sie um diese Offenheit ein bisschen beneide.

Wir gehen mit der Zeit und verwenden neu den Gender-Doppelpunkt anstelle des Gendersterns. Das sieht nicht nur schöner aus, sondern ist auch inklusiver, da es maschinenlesbar ist und sich dadurch sehschwache Menschen den Text vorlesen lassen können.

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