«Den Menschen zuhören, wenn sie von ihren Erfahrungen erzählen – auch das ist Aktivismus» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Isabel Brun

Redaktorin

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17. Mai 2021 um 16:20

Aktualisiert 24.01.2022

«Den Menschen zuhören, wenn sie von ihren Erfahrungen erzählen – auch das ist Aktivismus»

Auf den Dragqueen-Bühnen dieser Stadt thematisiert die Künstlerin Ray Belle politische Themen und bricht gesellschaftliche Normen auf. Nebst ihren Performances ist sie in den Sozialen Medien und in der Milchjugend aktiv; leistet Aufklärungsarbeit und versucht zu empoweren. Ihr Beispiel zeigt, wie vielseitig Aktivismus sein kann.

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Mal nennt sie sich Ray, mal Rebecca – aktivistisch tätig ist sie mit beiden Identitäten. (Foto: Elio Donauer)

Aktivismus ist ein Teil der Demokratie. Es braucht ihn, um Aufmerksamkeit zu generieren, auf Missstände hinzuweisen und die Politik voranzutreiben. Wir haben in dieser Serie verschiedene Zürcher Aktivist:innen zu ihrem Engagement befragt.

Steht die Aktivistin Rebecca Djuric als Ray Belle auf der Bühne, vergisst sie alles um sich herum. Dann geht es nur um den Moment, um die Performance – nicht darum, welche Hautfarbe sie hat oder welchen Namen sie trägt. Seit drei Jahren tritt die 26-Jährige als Dragqueen auf. «Political drag» ist ein zentrales Element, aber nur eine Facette ihres aktivistischen Lebens als Mitglied der Milchjugend.

Tsüri.ch: Wie, wann und weshalb bist du Aktivistin geworden?

Ray Belle: Als weibliche Person of Colour, die im Zürcher Kreis 4 aufgewachsen ist und einen -ic Namen hat, habe ich mein ganzes Leben lang immer wieder Diskriminierung und Ungleichheit erfahren. Ich habe dies nie so richtig verstanden, konnte nie nachvollziehen, weshalb man Menschen aufgrund irgendwelcher Merkmale diskriminieren wollen würde. Dieses Unverständnis wurde irgendwann zu Wut gegen das gesamte System. Mit 17 Jahren dann, war ich so wütend und verzweifelt, dass mir eine Sozialpädagogin, die mich betreute, empfohlen hat, einer Jungpartei beizutreten. Ich habe mir diese dann angeschaut und mich recht schnell für die JUSO (Jungsozialist:innen) entschieden, die bis heute meine politische Heimat ist.

Wo kann man in Aktivist:innenszenen/-gruppen einsteigen? Was empfiehlst du Neulingen und weshalb sollte man sich nicht einschüchtern lassen?

Ich würde sagen, dass es Sinn macht, zunächst mal zu recherchieren, welche Gruppen/Organisationen sich für die eigenen Anliegen einsetzen und mal bei diesen vorbeizuschauen. Wenn man sich nicht traut, einfach irgendwo aufzutauchen, kann man die jeweiligen Organisationen auch per Social Media oder Mail kontaktieren; meist findet man immer eine Lösung wie zum Beispiel, dass man sich mal im Voraus mit jemandem trifft. Wovon man sich auf keinen Fall abschrecken oder einschüchtern lassen sollte, ist «fehlende Bildung». Oftmals denkt man, alles über Politik zu wissen und jede Theorie auswendig zu kennen, sei eine Voraussetzung für politischen Aktivismus. Das stimmt schlicht nicht. (Weiter-)Bilden kann man sich auch noch, wenn man bereits aktiv ist. Viel wichtiger ist, dass man aktiv sein und etwas verändern will.

Wie engagierst du dich konkret?

Einerseits war ich schon an sehr vielen Strassenaktionen und Demonstrationen beteiligt entweder – im Vorder- und/oder im Hintergrund. Ich war auf Podien, habe ellenlange Social Media Posts verfasst und in diversen Vorständen mitgearbeitet. Ich habe aber auch Community Care gemacht, was ein sehr wichtiger Teil im Aktivismus ist und Dinge beinhaltet wie beispielsweise das Kochen in einem Lager oder die Neumitglieder-Betreuung einer Organisation/Partei. Ausserdem bin ich immer wieder daran, mich, meine Privilegien und mein Verhalten zu reflektieren. Ich habe in den letzten Jahren gelernt, dass man Menschen zuhören muss, wenn sie von ihrer Unterdrückungs-Erfahrungen erzählen und uns Nicht-Betroffenen sagen, was sie von uns brauchen. Auch das ist Aktivismus. Aktivistisch sein umfasst so viele verschiedene Bereiche und Aktionsformen, sehr viele Menschen haben hier meiner Meinung nach ein zu wenig breites Bild vom Aktivismus.

Ein:e ausgebrannte:r Aktivist:in ist nicht ein:e bessere:r Aktivist:in und hilft weder der Bewegung noch bringt es der betroffenen Person viel.

Rebecca Djuric a.k.a. Ray Belle

Nebst dem politischen Engagement in Organisationen und Parteien, habe ich 2018 auch noch eine künstlerische Art des Aktivismus für mich entdeckt – ich bin Dragqueen. Drag ist ja schon per se eine politische Kunstform. Ich gehe noch einen Schritt weiter und mache «political drag». Konkret bedeutet das, dass ich in meinen Performances und meinen Social Media Aktivitäten politische Themen wie zum Beispiel Femizid oder Fatshaming aufgreife und mein Publikum so versuche zu empowern und zum Nachdenken anzuregen.

Auf was für Hürden bist du dabei schon gestossen?

Für mich persönlich sind auslaugende Diskussionen mit politischen Kontrahent:innen, auf Social Media oder im privaten Umfeld die grösste Hürde. Dann gibt es aber natürlich auch die klassischen Hürden wie stressiges Unterschriftensammeln oder verlorene Abstimmungen. Diese Dinge können negative Emotionen wie Trauer, Wut und Ohnmacht auslösen und ein:e Aktivist:in sehr frustrieren und demotivieren. In solchen Momenten bin ich immer froh um meine Community, welche mich auffängt und dazu anspornt, mich weiter zu engagieren!

Wie bringst du deine sonstigen Verpflichtungen und dein aktivistisches Engagement unter einen Hut?

Ich denke das Wichtigste ist, dass man lernt, die eigenen Ressourcen wie Zeit und Energie einzuteilen. Ein:e ausgebrannte:r Aktivist:in ist nicht ein:e bessere:r Aktivist:in und hilft weder der Bewegung noch bringt es der betroffenen Person viel.

Eine Zeit lang war das für mich tatsächlich sehr schwierig, nämlich während meiner Ausbildung. Damals wollte ich am liebsten nebst der Lehre nochmal acht Stunden pro Tag in meinen Aktivismus investieren, was zu Problemen wie Müdigkeit am Arbeitsplatz oder emotionaler Überforderung geführt und mich auch ein-, zweimal fast meinen Ausbildungsplatz gekostet hat. Zum Glück ist mir diese Einteilung der Ressourcen mittlerweile mehr oder weniger gelungen, sodass ich meistens eine gute Balance zwischen Aktivismus und dem Rest habe.

Trennst du aktivistische Arbeit und Privates oder verschmilzt das mit der Zeit?

Ich will und kann das gar nicht wirklich trennen, da ich Aktivismus als etwas sehe, was sich in vielen kleinen und grossen Handlungen manifestiert. Ich sehe das Thematisieren von Queerness im Kindergarten genauso als Aktivismus, wie das Teilnehmen an einer Demonstration, das Lesen eines politischen Textes, das Diskutieren am Familienessen oder das Performen einer politischen Dragshow.

Gerade aber im Zusammenhang mit dem Einteilen meiner Ressourcen habe ich gelernt, auch mal einen Anlass ausfallen zu lassen, wenn ich viel für die Arbeit zu tun habe oder eine Diskussion halt nicht zu führen, wenn mir gerade die Energie fehlt.

Weshalb ist es so wichtig, sich aktiv in politische Prozesse einzumischen?

Wir dürfen nicht vergessen, dass alles in unserem Leben politisch ist. Wie viel Lohn wir erhalten, wie teuer unsere Miete ist, wen wir heiraten oder nicht heiraten dürfen, was unsere Kinder in der Schule beigebracht bekommen und so weiter. Alles. Ist. Politisch. Deshalb ist es für mich nur logisch, dass wir uns einmischen müssen.

Was bringt Aktivismus, wenn schlussendlich sowieso alle bewegenden Entscheidungen über die (langsame) Politik laufen?

Als Aktivist:innen haben wir die Möglichkeit, Themen aufs politische Parkett zu bringen, welche sonst zu wenig oder gar nicht beachtet werden. Gerade gesellschaftspolitisch wären wir ohne Aktivismus heute niemals an dem Punkt, an dem wir sind. Ohne queeren Aktivismus gäbe es wahrscheinlich bis heute keinen Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung. Ohne Aktivismus der BIPoC Bevölkerung würden wahrscheinlich noch weniger Massnahmen gegen Racial Profiling ergriffen werden. Ohne feministischen Aktivismus hätten am 14. Juni 2019 vermutlich nicht 500’000 Menschen am feministischen Streik teilgenommen und so ein massives Zeichen gegen unsere Unterdrückung gesetzt. Diese Liste könnte man noch lange weiterführen. Meiner Meinung nach zeigen diese Beispiel ziemlich klar auf, dass, auch wenn Entscheidungen nicht direkt von Aktivist:innen gefällt werden, Aktivismus sehr viel bewegen kann.

Was läuft in der Stadt Zürich so richtig falsch?

Puh, da gibt es einiges. Was mich vermutlich am meisten stört, ist die Gentrifizierung. Ärmere Menschen werden immer mehr aus der Stadt verdrängt, um Platz für wohlhabende Menschen zu machen. Die Geschichte der Stadt und der Menschen, die sie aufgebaut haben, wird so komplett ausradiert. Ausserdem nervt es mich, dass wir es noch immer nicht geschafft haben, Menschen ohne Schweizer Pass das Stimmrecht zu geben. Diese Menschen leben hier, also sollen sie meiner Meinung nach auch mitreden dürfen.

Hast du einen Verbesserungsvorschlag?

Bezüglich der genannten Punkte fände ich es grossartig, wenn die Stadt wieder mehr den Fokus darauf legen würde, Zürich zu einer bezahlbaren, lebenswerten Stadt für Menschen aller Bevölkerungsschichten zu machen. Konkret: Tiefere Mieten, gratis ÖV, Orte, an denen man sich ohne Konsumpflicht aufhalten kann. Zudem, ganz klar: Stimmrecht für alle!

Wie hat sich der Aktivismus durch Corona verändert?

Da wir Aktivist:innen uns nicht so schnell geschlagen geben, hat sich natürlich ein Grossteil des Aktivismus relativ schnell ins Internet verschoben. Darüber bin ich sehr froh, denn die Gesellschaft vergisst politische Themen tendenziell eher schnell und wenn der Aktivismus komplett verschwunden wäre, hätten wir wohl einige Mitstreiter:innen ganz verloren.

Was aber halt mehr oder weniger komplett wegfällt, sind all die sozialen Aspekte des Aktivismus’. Gemeinsam noch etwas trinken zu gehen nach einer langen Sitzung, an einem Sonntagmorgen Schilder für eine Strassenaktion zu bemalen, in einem politischen Lager nachts um zwei Uhr über den Zusammenhang von Katzen und der sozialistischen Weltrevolution zu diskutieren – all diese Dinge sind für uns Aktivist:innen essentiell. Essentiell, weil durch sie Freund:innenschaften entstehen. Und diese sind wichtig, weil sie uns dabei helfen, den manchmal auslaugenden aktivistischen Alltag zu meistern und weil wir durch sie ein politisches Netzwerk aufbauen können, welches fähig ist, die Welt zu verändern.

Mit welchen Aktionen haben du und deinen Mitstreiter:innen einen sicht- und messbaren Erfolg verzeichnet? Was konntet ihr konkret bewirken?

Einige Beispiele habe ich ja bereits genannt. Was aber meines Erachtens auch ein riesiger Erfolg ist, ist, dass immer mehr junge Menschen politisch aktiv werden. Gerade zum Beispiel die queere Jugendbewegung oder der Klimastreik zeigen, dass Jugendliche sehr wohl politisch interessiert sind, wenn man ihnen die Inhalte auf eine sinnvolle Art und Weise vermittelt. Ich finde, das haben wir in den letzten Jahren ziemlich gut gemacht und ich freue mich enorm darüber, wie viele junge Menschen sich in den verschiedenen Bereichen engagieren.

Was habt ihr/hast du für Pläne für die kommenden Monate?

Es kommen ja bald diverse wichtige Abstimmungen, wie die Ehe für alle oder die 99%-Initiative der JUSO. Da werden wir sicher versuchen, so viel wie möglich zu machen, sei dies on- oder offline. Zudem ist bald Pride-Saison, da werden sicher auch einige coole Dinge passieren. Am Besten folgt man den Organisationen/Parteien/Bewegungen die einem interessieren auf ihren Social Media Kanälen, dann bleibt man informiert über alles, was so passiert.

Serie «Zürcher Aktivist:innen»
Aktivist:innen bewegen mit ihrem Engagement eine Stadt. Für diese Serie haben wir sechs Aktivist:innen getroffen und sie gefragt, wieso sie sich für etwas einsetzen und was es für Schwierigkeiten gibt.

1. Matteo Masserini – Vélorution
2. Anna-Béatrice – Aktivistin.ch
3. Yuvviki Dioh – Netzwerk Bipoc.woc
4. Cyrill Hermann – Klimastreik
5. Annika Lutzke – Klimagerechtigeitsbewegung, humanitäre Hilfe für Menschen auf der Flucht
6. Ray Belle – Milchjugend

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