Brief an meine Tochter - Tsüri.ch #MirSindTsüri
account iconsearch
Von Rahel Bains

Redaktionsleiterin

emailwebsite

3. Juni 2020 um 06:27

Brief an meine Tochter

Anti-Rassismus-Proteste halten die USA seit Tagen in Atem. Auch in Zürich formieren sich Hunderte zu Solidaritätskundgebungen. Bereits Anfang Jahr hat unsere Redaktorin Rahel Bains einen Brief an ihre Tochter geschrieben und im Strassenmagazin Surprise veröffentlicht. Er handelt von Herkunft und Heimat, von Ausgrenzung und Zugehörigkeit – und ist an uns alle gerichtet.

Mood image for Brief an meine Tochter

Rahel Bains im Garten ihrer Grosseltern 1993.

Weisst du noch, als wir neulich das alte Buch über Pippi Langstrumpf gelesen haben, das wir am Strassenrand gefunden hatten? Plötzlich musste ich kurz innehalten, weil da stand, Pippis Papa sei der «König aller Neger». Das fühlte sich – aus vielen Gründen – nicht richtig an. Aber ich wusste nicht, wie ich dir das erklären sollte. Darum habe ich Pippis Papa kurzerhand zum «König des Dschungels» ernannt. Und deshalb schreibe ich dir diesen Brief.

Du lebst in einer Blase. Einer Blase aus rostroten Tonziegeln, blassgelben Fassaden, Türmchen, Erkern und grünen Holztüren, vor denen im Frühling die Magnolienbäume blühen – dazwischen breite Wiesen, auf denen dein kleiner Bruder laufen gelernt hat. Dein, unser kleiner Kosmos. Ein Kosmos, in den du nach einem langen Tag in der Schule hineinschlüpfst und mit deiner besten Freundin um die hundertjährigen, verwinkelten Häuser ziehst und wo wir an lauen Sommerabenden gemeinsam mit unseren Nachbarn im Garten an langen Holztischen sitzen. Wo alles gut ist.

Doch seit rechte Kräfte wieder erstarken und die Hemmschwelle immer mehr sinkt, fremdenfeindliches Gedankengut in aller Öffentlichkeit kund zu tun, müssen sich vor allem junge Menschen mit Migrationsgeschichte mit der Ambivalenz von Heimat und Herkunft, Zugehörigkeit und Ausgrenzung auseinandersetzen. Und das noch mehr als vor wenigen Jahren.

Eine von über 8000 Schweizer Rahels

Es ist von Alltagsrassismus die Rede und von «Racial Profiling». Weisst du, Alltagsrassismus bedeutet, dass manche Menschen andere nur aufgrund ihres Aussehens oder eines anders klingenden Nachnamens beurteilen und ausschliessen. Doof, nicht? Manchmal weiss ich gar nicht, wie ich das alles erklären soll. Auch wenn man immer denkt, Mütter würden alles wissen und erklären können.

Früher habe ich im Bus ab und zu bewusst ganz laut Schweizerdeutsch gesprochen, um in letzter Sekunde dem Stempel, dem man als Frau mit brauner Haut aufgedrückt bekommt, zu entwischen. Ich frage mich, ob auch du einmal das Gefühl haben wirst, fehl am Platz zu sein. Und eine Beklommenheit spüren wirst, die sich breitmacht, wenn im Bus alle Augen auf dich gerichtet sind – und das wohlgemerkt nicht in jenem kleinen Toggenburger Dorf, wo ich die ersten Jahre meines Lebens verbracht habe, sondern in der Stadt. Und ich frage mich, ob du hoffen wirst, dass du nicht im negativen Sinne ständig in den Fokus deiner Mitmenschen rückst.

Als du an der letzten Fasnacht mit schwarzen Tüpfchen auf den Wangen und einem Plüschanzug mit Leomuster losgezogen bist, marschierte keine fünfzig Kilometer entfernt eine Gruppe in weissen Kutten mit der Aufschrift «KKK» und brennenden Fackeln in der Hand umher. «KKK» steht für einen Geheimbund
mit Namen Ku-Klux-Klan. Er wurde vor mehr als 150 Jahren im Süden der Vereinigten Staaten mit dem Ziel gegründet, Dunkelhäutige zu unterdrücken. Moment, das war jetzt untertrieben, denn eigentlich haben sie noch viel schlimmere Sachen mit ihnen angestellt. Aber dazu ein anderes Mal mehr. Ein paar Tage später, da war die Fasnacht längst vorbei, nannte ein alter Mann ein Mädchen mit Kopftuch «eine beschissene Muslimin, die man verbrennen soll». Sie erwiderte ruhig: «Ich bin in der Schweiz geboren und Schweizerin.»

Das ‹Negerdörfli› war mit über 50'000 Eintritten ein Publikumsmagnet und nicht das einzige seiner Art.

Ich kenne diesen Satz. Also den Letzteren. Auch ich musste mich schon so erklären. Und das, obwohl nicht nur ich, sondern alle unmittelbaren Vorfahren meines Vaters in der Schweiz geboren sind. Obwohl ich Rahel heisse und eine von 8283 Frauen in der Schweiz bin, die diesen Namen tragen. Dennoch sprechen viele Leute, die mich kennenlernen, zuerst einmal Hochdeutsch mit mir, danach wollen sie wissen, woher ich «wirklich» stamme. Sie fragen das, weil ich – so wie du – schwarze Augen habe, dunkle Haare und eine Hautfarbe, für deren Beschreibung den meisten nicht viel anderes in den Sinn kommt als: Milchschokolade.

Was dann folgt, ist eine komplexe Erklärung, die ich mittlerweile wie ein Roboter immer und immer wieder nach dem gleichen Muster abspule. «Also», sage ich dann, «meine Mutter kam in den Siebzigerjahren als vierjähriges Waisenkind aus Vietnam zu einer gut situierten Schweizer Familie nach St. Gallen. Es wird jedoch vermutet, dass ihr biologischer Vater aufgrund ihrer dunklen Haut und dem krausen Lockenkopf Afroamerikaner war. Vietnamkrieg und so, du weisst schon. Er war wahrscheinlich Soldat. Ja genau, nicht wirklich romantisch, im Gegenteil. Und nein, sie kann kein Vietnamesisch und war seit ihrer Flucht auch nicht mehr dort. Ein Bedürfnis, das Ganze aufzuarbeiten? Hat sie nicht. Mein Vater? Der stammt aus dem Toggenburg.»

Ein «Negerdörfli» mitten in Zürich

Ich bin froh, dass du noch nie Wurzel-Smalltalk führen musstest. In unserer Siedlung nahe dem Waldrand, in jenem Stadtteil, wo die Sonne am längsten scheint und sich abends der Fuchs in die Gartenbeete setzt, weiss jeder, wer du bist. So wolltest du im Gegensatz zu deinem kleinen Bruder auch noch nie wissen, weshalb deine Hautfarbe so ist, wie sie ist. Doch stell dir vor: Dort, wo heute das Letzigrund-Stadion steht, das du nachts von deinem Fenster aus leuchten siehst, war vor fast hundert Jahren nur eine Wiese. Die Letziwiese. Auf ebendieser standen im Sommer 1925 rund zwanzig notdürftig eingerichtete Holzhütten mit Dächern aus Stroh. 74 Frauen, Kinder und Männer aus Westafrika gewährten neugierigen Schweizern Einblick in ihren Alltag.

Das «Negerdörfli» war mit über 50'000 Eintritten ein Publikumsmagnet und nicht das einzige seiner Art. Solche «Völkerschauen» waren damals nichts Ungewöhnliches und gründeten – wenn auch in erster Linie auf Sensationslust – in vielen Fällen wohl auch auf echtem Interesse. Wahrscheinlich beruht mindestens die Hälfte aller Anfragen bezüglich meiner Herkunft ebenfalls darauf und nicht auf dem bewussten Willen, die Nichtzugehörigkeit oder sogar meinen Ausschluss aus der Gesellschaft deutlich zu machen – auch wenn es am Ende den gleichen Effekt hat. Und auch wenn also die Neugierde und Faszination am Fremden und Exotischen scheinbar tief im Menschen verwurzelt ist, schlagen sie letztlich oft in Ablehnung um. «Geht zurück nach Hause!» ist zum Beispiel so ein Satz, der gerne und oft von Menschen verwendet wird, die andere Menschen ausgrenzen.

Das macht mir Angst. Angst, dass die Spirale niemals enden wird. Dass auch du dich in einigen Jahren mit einem ‹Äxgüsi, ich cha imfal Schwizerdütsch› erklären musst.

Jene «Völkerschauen» standen in direktem Zusammenhang mit der Kolonialzeit, diesem unschönen und teils in Vergessenheit geratenen Kapitel in der Geschichte der Menschheit. Auch die Schweiz spielte darin eine Rolle. Selbst wenn sie nie eigene Kolonien besass, haben Schweizer Unternehmer trotzdem vom Sklavenhandel profitiert und dabei ein Vermögen verdient. Man besass aber nicht nur schwarze Liftboys und gelangte wie ein Wunder an Kakao, den du so gerne magst, sondern pflegte auch das «Bastrock»-Stereotyp, sprich den ideologischen Rassismus. Weisst du, manche Leute meinten damals, einige Menschen
seien mehr wert als andere. Deshalb teilte man sie in Rassen ein. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie das – und sei es unbewusst und ohne böse Absicht – auch heute noch tun.

Was ist Heimat?

Dank einer Mutter aus dem Muotathal und einem Vater, der sein Leben lang auf einer winzigen Insel im karibischen Meer lebte, nennen alle deinen Papa ebenfalls eine «interessante Mischung». Als ich mit ihm neulich am Fluss entlang spazierte, zeigten zwei Jungs, wohl so alt wie du, mit dem Finger auf uns: «Guck mal, das sind Asylanten.» Das macht mir Angst. Angst, dass die Spirale niemals enden wird. Dass auch du dich in einigen Jahren mit einem «Äxgüsi, ich cha imfal Schwizerdütsch» erklären musst. Dass sich das Gefühl, fremd zu sein im eigenen Land – dem einzigen Land, das man wirklich kennt – auf die nächste Generation überträgt.

Der Wunsch nach Geborgenheit und Zugehörigkeit scheint ein menschliches Grundbedürfnis zu sein. Schon in den frühesten indogermanischen Sprachen existierten Wörter, welche die Bedeutung von Zuhause, Siedlung, materieller und spiritueller Sicherheit um fassen.

Unsere Siedlung ist 37 408 Quadratmeter gross. Jeder einzelne Quadratmeter bedeutet für dich Heimat, ist dir ein Zuhause. Aber auch der wild wuchernde Garten vor dem Haus deiner Grossmutter gibt dir ein Gefühl von Geborgenheit. Und erinnerst du dich noch daran, wie wir auf Grosspapis Insel deinen sechsten Geburtstag gefeiert haben? Wie wir in Grosstante Marbas Wohnzimmer Kuchen und Eiscreme gegessen und am Ende alle zu Shakira getanzt haben, während draussen die Sonne auf die Mangobäume brannte? Kurze, aber kostbare Szenen sind das.

Was denkst du: Ist Heimat zwingend an einen Ort gebunden? Oder bloss an Erinnerungen und Erfahrungen? Gibt es vielleicht sogar mehrere Zuhause? Und wer bestimmt, wer welchen Ort sein Zuhause, seine Heimat nennen darf? Der Wunsch nach Geborgenheit und Zugehörigkeit scheint ein menschliches Grundbedürfnis zu sein. Schon in den frühesten indogermanischen Sprachen existierten Wörter, welche die Bedeutung von Zuhause, Siedlung, materieller und spiritueller Sicherheit um fassen. Eine Philosophin nannte die Verwurzelung das wohl «wichtigste und gleichzeitig am meisten verkannte Gefühl der menschlichen Seele». Der Wunsch nach einem Zuhause sei nicht nur tief in jedem einzelnen von uns verankert, sondern auch in unserem kollektiven Unbewussten. Dieser Wunsch bestimme, wer wir sind und wie wir die Gesellschaft sehen, in der wir leben.

Manchmal macht es mich traurig, dass in meiner und damit auch in deiner zweiten «Heimat» Vietnam keine Grossmutter mit tiefen Runzeln im Gesicht auf uns wartet und auch keine Onkel oder Cousinen, die uns Geschichten von vergangenen Zeiten erzählen. Würden wir nach Vietnam reisen, was noch keiner von unserer
Familie getan hat, dann wohl wie all jene Backpacker, die sich von Globetrotter eine Reiseroute zusammenstellen lassen.

Zu Hause wartete Oma mit dem Nachtisch auf uns

Die einzige Verbindung zu unserem asiatischen Hintergrund, der durch deinen Urgrossvater – du weisst schon, den unbekannten Soldaten – zu einem afroamerikanischen Hintergrund mutierte, ist die Erinnerung meiner Mutter, wie sie in Vietnam als dreijähriges Mädchen alleine auf einer Schaukel sitzt und an einer Bananenschale knabbert. Über ihr sind Leuchtkörper – wohl Raketen –, die durch den Himmel rauschen. Den Rest bezeichnet sie als grosses schwarzes Loch. «Ich hätte vergangenes Jahr die Chance gehabt, zum ersten Mal nach fast fünfzig Jahren nach Vietnam zu reisen. Und was habe ich gemacht? Ich bin nach Hawaii geflogen», erzählte mir sie neulich. Manchmal muss man wohl verdrängen, um zu überleben.

Was mir bleibt, das ist die Schweiz. Und dieses Gefühl. Ein Gefühl, das ich als Kind nicht kannte. Als ich so alt war wie du, besuchte ich oft die Eltern meines Vaters in jenem kleinen Dorf, in dem man sich an sonnigen Tagen gleich unterhalb des Säntis wähnt. In jenem Tal, in dem unsere Vorfahren seit Generationen lebten.

Einmal durfte ich Opa in die Berge begleiten. Durchs Fernglas beobachteten wir Gämse und Hirsche und suchten den mit Laub übersäten Waldboden nach abgeworfenen Hirschgeweihen ab. «Schau, das sind die sieben Churfirsten», sagte er auf der Heimfahrt, während der Fahrtwind meine schwer zu zähmende Lockenmähne durcheinanderwirbelte. «Hinterrugg, Schibenstoll, Zuestoll, Brisi, Frümsel, Selun.» Zuhause wartete Oma mit dem Nachtisch, den gab es immer. Ich schlich oft ins Schafzimmer von Opa und Oma, um in der schwarzen, mit einem goldenen Rand verzierten Schmuckschatulle zu stöbern. Wenn ich dann vor dem ovalen Spiegel stand, sah ich keine Hautfarbe, sondern ein ganz normales Mädchen mit Perlenketten um den Hals und dunkelgrünen Plastikclips an den Ohren, die immer ein wenig zwickten.

Das war meine Blase. Während in deiner Blase Vögel zwitschern und Blumen blühen, herrschen draussen Wut und Angst. Wut über kriminelle Ausländer. Angst vor ungebremster Migration. Wut darüber, dass man als über 50-jähriger Stellensuchen der keinen Job mehr findet. Angst vor der Digitalisierung und den Folgen des Klimawandels. Wut über die Lethargie der Politiker. Oder über einen 27-Jährigen, der in einer neuseeländischen Moschee über fünfzig Muslime erschiesst. Angst vor einem weiteren Angriff der «Gegenseite». Ein Gefühl der Ohnmacht angesichts der allseits verhärteten Fronten. Und über allem schwebt die Tatsache, dass es uns hier in der Schweiz doch ganz gut geht. Eigentlich.

Pantone 59-5 C. Gemäss dem Farbsystem von Angélica Dass ist das deine Hautfarbe. Nicht braun, caramel- oder milchschokoladenfarben, sondern einfach nur: 59-5 C.

Ein Leben in Schubladen

Hier also ein weiterer Erklärungsversuch: Stecken uns die Mitmenschen – allein aufgrund äusserlicher Merkmale wohlgemerkt – in eine Schublade, weil sie sich sonst in dieser immer komplexer werdenden Welt nicht mehr zurechtfinden? Nehmen wir die Schublade «schwarz». Falle ich mit meinem Viertel afroamerikanischen Blutes bereits in diese Kategorie? Und was ist mit deinem Onkel, meinem Bruder und seiner eigentlich hellen Haut, die im Sommer einen olivfarbenen Teint hat? Ist auch er schwarz, obwohl auf den ersten Blick weiss? Und was ist das eigentlich für eine limitierte Auswahl an Bezeichnungen für unsere immer buntere und gemischtere Welt?

Eine, die fest daran glaubt, dass Schwarz und Weiss gar nicht existieren, ist Angélica Dass. Die Fotografin stammt aus Brasilien, ein aufgrund seiner jahrhundertelangen Einwanderung multiethnisches Land, will heissen: In diesem Land sind mehr unterschiedliche Hautfarben vereint, als du dir vorstellen kannst. Angélica Dass hat diese Farben für ein Kunstprojekt in einer Art Katalog festgehalten. Damit möchte sie beweisen, wie vielfältig wir alle sind und wie veraltet unsere bisherige – viel zu simple – Kategorisierung von Menschen ist. Pantone 59-5 C. Gemäss dem Farbsystem von Angélica Dass ist das deine Hautfarbe. Nicht braun, caramel- oder milchschokoladenfarben, sondern einfach nur: 59-5 C.

Wenn ich wütend bin, stelle ich manchmal doofe Vergleiche an. Ich sage dann, dass du verwöhnt bist. Oder dass du an deine Oma denken sollst, die vor mehr als vierzig Jahren aus dem vom Krieg versehrten Vietnam flüchtete. Alleine, ohne Mama und ohne Papa. Was du nicht weisst: Bevor sie mit weiteren 8000 Vietnamesen, Kambodschanern und Menschen anderer Nationen Indochinas in die Schweiz kam, galt sie zuhause aufgrund ihrer dunklen Haut, der breiten Nase und dem krausen Haar als «Kind des Krieges». Als Besatzungskind, das von einem US-Soldaten gezeugt und von einer einheimischen Frau geboren wurde. Die ungefähr 15 000 «Amerasians», die sich in der Nachkriegszeit auf den Strassen Saigons durchschlagen mussten, waren geächtet. Ihre oft europäisch oder – besser gesagt – amerikanisch anmutenden Gesichtszüge verrieten ihre Herkunft auf den ersten Blick. Unentdeckt zu bleiben war keine Option, sie wurden gehänselt und geschlagen, manchmal warf man Steine nach ihnen.

‹Ausgrenzung› – dieser Begriff scheint seit jeher am Leben deiner Oma zu haften wie der Kaugummi an der Sohle deines lila Turnschuhs. Zäh und hartnäckig.

Weder Groll noch Wut

«Ausgrenzung» – dieser Begriff scheint seit jeher am Leben deiner Oma zu haften wie der Kaugummi an der Sohle deines lila Turnschuhs. Zäh und hartnäckig. Dass sie später auch in der Schweiz beim Krippenspiel in ihrer Rolle als «Mohrenkönig» Melchior jedes Jahr aufs Neue erklären musste, weshalb ihre Haut so schwarz sei, hat sie genauso wenig gestört wie die «Neger! Neger!»-Schmährufe ihrer Klassenkameraden. Und auch gegen den Patienten, der sie, als sie später als Krankenpflegerin arbeitete, mit «Fahr ab, du schwarzer Teufel!» wegscheuchte, hegt sie keinen Groll. «Ich nehme meine Hautfarbe gar nicht wahr», sagte sie mir neulich in ihrem breiten St. Galler Akzent, den sie wohl nie mehr ablegen wird. «Ich bin in einer Schweizer Familie gross geworden, also bin ich Schweizerin», so ihre pragmatische Schlussforderung. «Weisst du, sobald du nicht der gängigen Norm entsprichst, beginnen die Menschen dich zu stigmatisieren und zu schubladisieren – das kann man ohnehin nicht ändern. Wut hilft da nicht weiter.»

Vielleicht sind die Leute hier müde, darüber nachzudenken, was okay ist und was nicht. Vielleicht haben sie sich einfach schon genug aufgeregt. Darüber, ob man jetzt «Mohrenkopf» sagen darf oder nicht. Ob man sich an der Fasnacht mit gutem Gewissen das Gesicht schwarz anmalen und sich eine Afro-Perücke über den Kopf stülpen darf – so wie die Kinder anno 1979. Vielleicht haben sie auch einfach keinen Bock mehr, sich für ihre Grosseltern zu entschuldigen, die finden, Schwarze seien halt Neger, die habe man schon immer so bezeichnet, und überhaupt sei das doch gar nicht böse gemeint.

«Woher kommst Du?»

Meine Tochter, ich bin gespannt auf Deine Antwort.

Dieser Artikel wurde automatisch in das neue CMS von Tsri.ch migriert. Wenn du Fehler bemerkst, darfst du diese sehr gerne unserem Computerflüsterer melden.

Das könnte dich auch interessieren