Pitch-Night: «Die Arbeitsbedingungen sind ‹scheisse›, nicht der Job» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Alice Britschgi

Praktikantin Redaktion

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14. April 2022 um 10:37

Pitch-Night: «Die Arbeitsbedingungen sind ‹scheisse›, nicht der Job»

Wie weiter mit dem Journalismus? Am Dienstagabend fand der Auftakt in den Fokusmonat Journalismus im Museum für Gestaltung statt. Sieben Redner:innen pitchten in je sieben Minuten ihre Perspektive auf die Zukunft des Journalismus.

Tsüri-Chefredaktor Simon Jacoby eröffnet die Pitch-Night. (Foto: Ladina Cavelti)

Nicht der Journalismus sei in der Krise, eröffnet Tsüri-Chefredaktor Simon Jacoby den Abend, das Geld sei das Problem. Im Publikum lacht eine Person. «Das ist eigentlich nicht lustig», findet Jacoby, denn wenig Geld, heisse wenig Zeit und bringe die Unabhängigkeit von Redaktionen in Gefahr.

Zwischen 2011 und 2019 wurden 2000 Stellen im Schweizer Journalismus gestrichen, 50 Zeitungstitel verschwanden. Die Werbeeinnahmen gehen seit Jahren zurück und den Medien fehlt es immer mehr an Geld. Dennoch sind wir als demokratische Gesellschaft auf guten Journalismus angewiesen. Wie eine Umfrage der Redaktion zeigt, ist davon auch die Mehrheit der Tsüri-Community überzeugt. Wie also weiter mit dem Journalismus? Jacoby gibt die Bühne frei für die sieben Redner:innen und ihre Perspektiven auf die Zukunft des Journalismus.

Das Publikum empfängt die Redner:innen mit Applaus. (Foto: Ladina Cavelti)

Prof. Dr. Matthias Künzler, Kommunikationswissenschaftler FH Graubünden: «Nicht der Journalismus hat ein Problem, sondern seine Finanzierung»

Der Kommunikationswissenschaftler beleuchtet die News Desert in den USA. In 50 Prozent der Gemeinden gebe es nur noch eine einzige Lokalzeitung, in 200 Ortschaften keine mehr. Die Konsequenzen: Das Interesse an Lokalpolitik und freiwilligem Engagement gehe zurück. Korruption nehme zu. Auch in der Schweiz sieht es nicht besser aus. Längerfristige Statistiken zeigen einen klaren Rückgang von Lokalzeitungen. Das habe natürlich mit der Werbung zu tun, so Künzler: «Die Presse hat über 60 Prozent der Werbeeinnahmen verloren in den letzten 20 Jahren». Im Online-Werbemarkt wachsen vor allem Bereiche, von denen der Schweizer Journalismus wenig profitiert.

Hinter ihm die Wüste: Kommunikationswissenschaftler Matthias Künzler. (Foto: Ladina Cavelti)

Doch Künzler hat auch positive Fakten für den Journalismus mitgebracht: «Es gibt eine hohe Nachfrage für journalistische Produkte.» Studien zeigen, dass die Verluste von Leser:innen im Print, durch Onlineangebote ausgeglichen werden. Das Problem: «Leser:innenzahlen kann man durch Onlinemedien kompensieren, Einnahmen nicht.» Künzlers Fazit? Auch in Zukunft müsse man über Medienförderung reden. Denn nicht der Journalismus als Funktion habe ein Problem, sondern seine Finanzierung.

Hier geht es zum Pitch von Matthias Künzler.

Susan Boos, Präsidentin Presserat: «Das höchste Gut der Journalist:innen ist Glaubwürdigkeit» 

«Der Presserat ist eigentlich der Anti-Fake-News-Rat der Schweiz», leitet Susan Boos ihren Pitch ein. 21 Presserät:innen beschäftigen sich mit journalistischen Beiträgen, gegen die Beschwerden eingereicht wurden. Im Grossen und Ganzen ist Boos zufrieden mit dem SchweizerJournalismus. Es gebe Momente, da brauche es Rügen, doch diese wirkten gut: «Niemand wird gern gerügt.» Obwohl der Presserat keine Sanktionsmöglichkeiten habe, sei er deshalb trotzdem kein «zahnloser Tiger».

«Der Presserat ist kein zahnloser Tiger», sagt Susan Boos, Präsidentin des Rats. (Foto: Ladina Cavelti)

Der Rat ist auf 80 Beschwerden pro Jahr ausgelegt. Jährlich erreichen ihn aber rund 170. Das führe dazu, dass die Geschäftsstelle masslos überfordert sei, so Boos. Nach dem Scheitern des Medienförderpakets, müsse sich der Presserat nun um neue Geldquellen bemühen, damit die Geschäftsstelle nicht kollabiere. Boos schliesst mit einem Plädoyer: Egal, wie schlecht es dem Journalismus gehe, Journalist:innen dürften sich nicht für das Verfassen von Werbetexten einspannen lassen; denn: «Dann geben wir das höchste Gut her, das wir im Journalismus haben: die Glaubwürdigkeit.» 

Hier geht es zum Pitch von Susan Boos.

Désirée Pomper, stellvertretende Chefredaktorin 20 Minuten: «Das Zauberwort im Journalismus heisst nicht Haltung sondern Empathie»

«Für die gute Sache Stellung beziehen, statt nur neutral Bericht erstatten», das klinge gut meint Pomper. Doch sie mahnt zur Vorsicht: «Ich glaube das Zauberwort im Journalismus heisst nicht Haltung sondern Empathie.» Journalist:innen müssten sich selbst zurücknehmen und sich in andere Menschen hineinfühlen – auch oder gerade in die Menschen, deren Mindset sie nicht teilen. 

Journalist:innen dürfen sich nicht für eine Sache aussprechen, findet Désirée Pomper, stellvertretende Chefredaktorin 20 Minuten. (Foto: Ladina Cavelti)

Distanz zu halten, sich nicht für eine Sache auszusprechen – auch nicht für eine Gute – sei wichtig, weil Journalist:innen als grundlegender Bestandteil der Demokratie zur Meinungsbildung beitragen würden: «Zur freien Meinungsbildung gehört, dass ich als Bürgerin möglichst alle Facetten eines Themas kenne.» Deshalb nehme 20 Minuten explizit keine politische Position ein und setzte sich zum Ziel, ein Medium für alle zu sein. Weil aber natürlich kein:e Journalist:in ganz neutral berichten könne, sei es umso wichtiger, dass die Redaktionen diverser würden. «Empathie und Dialog bringen der Gesellschaft mehr als Haltung», ist sich Pomper sicher.

Hier geht es zum Pitch von Désirée Pomper.

Jolanda Spiess-Hegglin, NetzCourage: «Das Präzedenzurteil könnte einen Systemwechsel bedeuten»

«Sie kennen mich», beginnt Jolanda Spiess-Hegglin ihren Pitch, «über mich wurden in den letzten Jahren 1000 Zeitungsartikel mit geringem Wahrheitsgehalt geschrieben.» Der Schweizer Boulevard habe mit ihr Millionen verdient. Spiess-Hegglin spürt die Folgen dieser Hetzjagd bis heute. Hartnäckige Stalker meldeten sich bis heute täglich bei ihr. «Was würden sie tun?», fragt sie das Publikum. Warten, bis Gras darüber wächst, hätten ihr alle geraten. «Dabei hatte ich nicht das geringste Interesse daran, dass über diese Ungerechtigkeit auch noch Gras wächst», so Spiess-Hegglin, «ich wollte mich wehren.»

Jolanda Spiess-Hegglin untersreicht ihren Pitch mit Zitaten aus Heinrich Bölls Roman «Die verlorene Ehre der Katharina Blum». (Foto: Ladina Cavelti)

Und so gründete sie den Verein NetzCourage: «Die Organisation, die mir damals gefehlt hat.» Jährlich unterstützen sie und ihre drei Mitarbeiter:innen hunderte Betroffene von digitaler Gewalt, bauten Menschen, die von rücksichtslosen Medienschaffenden und Wutbürgern gejagt würden, wieder auf. «Dass ich heute noch da bin und noch immer laut meine Rechte gegenüber dem Ringier-Verlag einfordere oder gegenüber Tamedia verteidige, hat bereits jetzt Auswirkungen», sagt Spiess-Hegglin. Gerade ist sie dabei mit dem Prozess um die Gewinnherausgabe ein Urteil zu erkämpfen. «Das Präzedenzurteil könnte einen Systemwechsel bedeuten», so die Hoffnung von Spiess-Hegglin. 

Hier geht es zum Pitch von Jolanda Spiess-Hegglin.

Natalia Widla, Gewerkschaft Syndicom: «Die Medienschaffenden, die unter einem GAV arbeiten, sind deutlich besser gestellt als die ohne»

Als Gewerkschafterin will Natalia Widla die Arbeitsbedingungen der Medienschaffenden strukturell verbessern. Zum Beispiel mit einem Gesamtarbeitsvertrag. In der Schweiz sind nur knapp 50 Prozent der Arbeitnehmer:innen dem Schutz eines GAV unterstellt, in den Medien sieht es noch schlechter aus. In der Deutschschweiz lief der GAV der Medienbranche 2004 aus. Und seither habe sich trotz Bemühungen nichts getan, so Widla.

Natalia Widla von Syndicom sieht die Überidentifizierung mit dem Job im Journalismus kritisch. (Foto: Ladina Cavelti)

Eine Studie von Syndicom aus dem Jahr 2020 zeigt, dass Medienschaffende, die unter einem GAV arbeiten, rund 800 Franken mehr im Monat verdienen als die ohne – nämlich 7’756 Franken Medianlohn. Als Gewerkschaft sei die Syndicom allerdings in einer schwierigen Position bei den Journalist:innen. Die Überidentifizierung mit dem Job in der Branche führe dazu, dass sich Arbeitnehmer:innen ausbeuten liessen, sagt Widla. Ein GAV wäre die Lösung für dieses Problem. Denn er würde das System ändern, ohne dass sich einzelne Leute exponieren müssten. Vor drei Wochen habe die Syndicom die Verhandlungen mit den Verlagen wieder aufgenommen. Die Hoffnung: ein GAV ab Januar 2023.

Hier geht es zum Pitch von Natalia Widla.

Susanne Lebrument, Delegierte Verwaltungsrätin Somedia: «Wir sind davon überzeugt, dass es einen guten und starken Lokal- und Regionaljournalismus braucht»

Susanne Lebruments Vater war sich sicher: Der Lokaljournalismus interessiert die Churer Leser:innen am meisten. 2018 haben sich Lebrument und ihre Brüder dazu entschieden, das Familienunternehmen Somedia unabhängig und selbstständig weiterzuführen. Wegen der gesellschaftspolitischen Verantwortung, so Lebrument, denn sie finde es kritisch, dass es heute in einzelnen Kantonen keine Zentralredaktion mehr gebe.

Susanne Lebrument, Verwaltungsrätin Somedia, will jeden Franken in guten und unabhängigen Journalismus investieren. (Foto: Ladina Cavelti)

Lebrument hält auch good News bereit: «Die Online-Reichweite von journalistischen Angeboten ist in den letzten Jahren um mehr als das Doppelte gestiegen und die Leserzahlen sind über die Jahre stabil.» Man müsse also einfach einen neuen Betriebskanal bespielen. Somedia setzt auf die Digitalisierung des Lokal- und Regionaljournalismus – denn dieser sei ihre DNA. «Wir wollen jeden Franken in das Unternehmen investieren, weil wir an guten, unabhängigen und familiengeführten Journalismus glauben», schliesst Lebrument ihren Pitch.

Hier geht es zum Pitch von Susanne Lebrument.

Simon Schaffer, Co-Präsident Junge Journalistinnen und Journalisten Schweiz: «Praktika sind eine gute Sache – aber halt nicht vier hintereinander»

«Das hier soll der Blickwinkel sein von denjenigen, die schlussendlich an der Zukunft mitschreiben, mitschneiden, miterzählen werden», beginnt Simon Schaffer seinen Pitch. Auf die Begeisterung am Geschichten erzählen, folgten für die meisten jungen Journalist:innen Praktika. An sich eine gute Sache, so Schaffer, «aber halt nicht vier hintereinander». Die niedrigen Praktikumslöhne würden zudem so viele Leute ausschliessen, dass es wehtue und dem Ziel der Branche, mehr Diversität zuzulassen, entgegenwirke.

«Ich habe im Journalismus gelernt, was gehen kann, wenn man sich gegenseitig unterstützt», sagt Simon Schaffer, Co-Präsident der JJS. (Foto: Ladina Cavelti)

Der Rohstoff Zeit sei Mangelware, thematisiert Schaffer ein weiteres Problem der Branche. Momentan müssten weniger Leute in weniger Zeit mehr Inhalte produzieren. Nur gehe diese Rechnung nicht auf. Die JJS wollen nicht jammern, aber sie wollen es anders machen – und zwar für alle. «Es ist nicht der Job, der scheisse ist, es sind die Arbeitsbedingungen und die Aussichten», ist sich Schaffer sicher. Richtig guter Journalismus brauche richtig gute Leute und die seien da. Wie weiter? Gemeinsam findet Schaffer: «Ich habe im Journalismus gelernt, was gehen kann, wenn man sich gegenseitig unterstützt.»

Hier geht es zum Pitch von Simon Schaffer.

«Was kannst du für deine Zeitung machen?», fragt Simon Jacoby nach dem siebten und letzten Pitch. Die Antwort sei relativ einfach: Wo man Journalismus gerne konsumiere, könne man ein Abo lösen. Nicht nur, aber auch bei Tsüri.ch. Und dann geht es zum Apéro ins Foyer des Museums. Das ganze Programm des aktuellen Fokusmonates findest du hier.

Wie weiter mit dem Journalismus? Zuerst einmal ein Gläschen Wein trinken. (Foto: Ladina Cavelti)

Fokus Journalismus

Der Journalismus kriselt, wir reden darüber! Während des Monats April setzen wir uns intensiv mit dem Journalismus auseinander. Dabei beleuchten wir Themen wie die Gleichstellung im Journalismus, die Rolle von Diversität im Journalismus bei der Integration (und inwiefern es sie überhaupt gibt) und die Grenzen zwischen Klimajournalismus und Aktivismus. Im Rahmen des Fokusmonats finden eine Pitch-Night sowie drei thematische Podiumsveranstaltungen statt. Alle Infos findest du auf tsri.ch/journalismus

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