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6. Oktober 2020 um 12:00

«Eine Pflegende bleibt nicht wegen Schnupfen und Husten zuhause, dann arbeitest du halt krank»

Krank arbeiten, unflexibler Schichtbetrieb und unterbesetzte Teams: «Held*innen der Krise» darüber, was ein halbes Jahr nach dem Ausbruch noch immer prekär ist – und wo jetzt gehandelt werden muss.

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Die Krise in der Pflege ist auch ein feministisches Thema: In der Pflege arbeiten zwischen 80 und 90 Prozent Frauen (Bild: unsplash)

Bis zum ersten bestätigten Corona-Fall in ihrer Klinik arbeitete Lea Daum ohne Maske – die 30-Jährige ist Psychiatrie-Pflegerin für Patient*innen mit Demenz oder in akutem Verwirrtheitszustand. Die Masken, die die Angestellten seither tragen, sind knappes Gut und werden zu lange getragen: «Eigentlich müsste man die Maske nach jedem Kontakt mit den Patient*innen wechseln, oder allerspätestens nach zwei Stunden. Das geht bei uns einfach nicht, wir haben zu wenige», sagt Daum. Sie hustet noch ein wenig, als wir am Telefon darüber sprechen, wie es den Pflegenden seit der Corona-Krise ergeht. Wie es ist, tagtäglich an vorderster Front zu stehen, Auge in Auge mit einem potenziell tödlichen Virus und mit Menschen, die zu Risikogruppen gehören. Es käme darauf an, in welchem Pflegebereich man arbeite, sagt Daum: «Bei Menschen, die kognitiv stark sind, ist es etwas einfacher». Diese Patient*innen verstehen, warum sie eine Maske tragen müssen.

Bei den Menschen auf Daums Station gestaltet sich das schwierig: «Sobald man mit dementen oder psychisch kranken Leuten arbeitet, die für ihre Gesundheit die körperliche Nähe brauchen, ist schon das Abstandhalten sehr schwierig. Unsere Patient*innen werden aber auch immer wieder körperlich aggressiv oder sind in einem deliranten Zustand und kennen die Grenzen nicht mehr». Es komme dann vor, dass ihr die Maske vom Gesicht gerissen und sie angespuckt wird, erzählt Daum. «Aggressionen aushalten können, ist normal in unserem Beruf, aber dass wir eine Maske tragen macht vielen Patient*innen Angst. So ist der Schutz für uns einfach nicht gewährleistet – und für die Patient*innen schon gar nicht».

«Dann arbeitest du halt krank»

Schutzmassnahmen waren auf Daums Station lange kein Thema. Auch dann nicht, als sich die Pflegerin selber mit dem Coronavirus infizierte: «Eine Pflegende bleibt nicht wegen Schnupfen und Husten zuhause, dann arbeitest du halt krank», erzählt sie. Sie kann nicht genau sagen, wann sie krank wurde, testen lassen habe sie sich wohl viel zu lange nicht. Und: Gerade im Pflegebereich müsse man sich viel öfter testen als jemand, der im Homeoffice arbeitet. Als alleinerziehende Mutter, die Teilzeit arbeitet, musste sich Daum zweimal überlegen, ob sie sich die Ausgaben für einen Coronatest leisten kann – der Bund übernimmt die Kosten dafür erst seit Juni: «Ich habe sicher noch gearbeitet, als ich schon Covid19 hatte. Das macht man halt, du kannst ja auch dein Team nicht hängen lassen».

Bis zu dem Abend, als sechs neue infizierte Fälle auf der Station gemeldet wurde, liess sich die Klinikleitung Zeit mit Schutzmassnahmen. Und auch danach waren diese dürftig: Wenig später wurden zehn neue Patient*innen aufgenommen, die eigentlich zehn Tage von den Anderen hätten isoliert werden müssen. Das geschah nicht, laut Daum sei dies seitens der Klinikleitung als «unethisch» bezeichnet worden. «Das verstehe ich sogar noch ein Stück weit, du kannst psychisch kranke oder demente Menschen nicht so lange isolieren und wegsperren». Anders sei das etwa in Altersheimen, wo die Leute in Einzelzimmern wohnen und so besser isoliert werden können. Krank arbeiten, weil das Team sowieso schon unterbesetzt ist, scheint in der Pflege keine Seltenheit zu sein. «Jeden Tag ist jemand krank, meine Kolleg*innen mögen nicht mehr und viele haben auch gesundheitliche Probleme», führt Daum aus. Acht bis dreizehn Stunden konstant mit Maske arbeiten bedeutet auch eine grosse psychische Belastung, viele von Daums Kolleg*innen haben seit der Corona-Krise Panikattacken, können schlechter atmen, «aber ohne Maske geht es halt einfach nicht».

Und in der Mitte sind die Pflegenden und werden zerdrückt.

Migmar Dhakyel, Zentralsekretärin der Gewerkschaft Syna

Die Pflege in der Krise – tschüss Vereinbarkeit

Was Daum beschreibt, bestätigt auch Migmar Dhakyel, Zentralsekretärin der Gewerkschaft Syna, die sich für gute Arbeitsbedingungen einsetzt. Für sie ist klar: «Die Pflege befindet sich in einer Krise». In den letzten 15 Jahren beobachte man einen klaren Trend, immer mehr Pflegende stürzen in ein Burn Out, verlassen den Job oder die ganze Branche, weil sie dem Stress nicht mehr standhalten können – oder wollen. «Die Anforderungen an Pflegende werden immer grösser, auch seitens der Patient*innen», sagt Dhakyel. Auf der anderen Seite stehen der konstante Stress, der Personalmangel und die schlechte Bezahlung. «Und in der Mitte sind die Pflegenden und werden zerdrückt. Und sie werden vor allem ihren eigenen Anforderungen an den Job nicht mehr gerecht», führt Dhakyel aus.

Diese Misere hat für Dhakyel klar einen politischen Hintergrund: Die Sparmassnahmen der letzten Jahren in vielen Heimen, Kliniken und Spitälern wirken sich zuerst auf die Löhnen der Pflegenden aus. «Der Fakt, dass dieser Service Public privatisiert und einer Profitlogik unterworfen wurde, ist ein Skandal. Von diesen Einrichtungen sollte eigentlich in erster Linie das Gemeinschaftswesen profitieren, damit darf kein Gewinn erwirtschaftet werden». Auch N.B.* spürt den Personalmangel. Die 30-Jährige arbeitet seit sieben Jahren als Pflegefachfrau FH in einem Spital in Zürich und erzählt: «Eigentlich arbeitest du als Managerin für alles. Du agierst als Bindeglied zwischen jeder Instanz im Spital, eigentlich bist du ein Mädchen für alles. Das ist so schade, eigentlich wollen wir pflegen und uns nicht um solche Dinge kümmern müssen».

Dass diplomierte Pfleger*innen Jobs erledigen müssen, für die sie eigentlich gar nicht zuständig sind, kommt immer öfter vor, erzählt auch Migmar Dhakyel. Und das hat eine Kehrseite: «Es gibt viele Pfleger*innen, die nicht diplomiert sind und die dann in Altersheimen im Schichtbetrieb für 3900 Franken monatlich arbeiten». Die Krise in der Pflege ist auch ein feministisches Dilemma: In der Pflege arbeiten zwischen 80 und 90 Prozent Frauen, und wer im Schichtbetrieb in einem krass unterbesetzten Team arbeitet, kann es mit der Gleichstellung vergessen. Wenn dich der Pikettdienst braucht, dann musst du rennen – egal, ob deine Kinder zuhause betreut werden können oder nicht. Lea Daum hat eine zweijährige Tochter und erzählt, sie wünscht sich nichts mehr als ein Job, mit dem sie ihr Kind morgens in die Kita bringen und am Abend wieder abholen könnte: «Aber mit einem Job in der Pflege ist das schlicht nicht machbar. In den zehn Jahren, die ich in der Pflege arbeite, wurde der Stress nicht weniger, im Gegenteil. Ich kenne keine Pflegende, die sich noch nie überlegt hat, den Job komplett hinzuschmeissen».

Podium: Schuften für die Gesundheit?
Während der ersten Corona-Welle haben wir für die Held*innen zum Klatschen aufgerufen. «Klatschen bringt nichts!», sagen die Angestellten im Gesundheitswesen. Sie fordern bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn. Wie prekär sind die Arbeitsverhältnisse im Pflegebereich und was tun die Spitäler, um diese zu verbessern? Wir diskutieren, was man dagegen tun muss. Am 8. Oktober um 19 Uhr an der Fabrikstrasse 54 in Zürich.

Schluss mit Pflege à la minute

Krisen akzentuieren Missstände. Corona hat aufgezeigt, wie wichtig der Pflegeberuf in der Gesellschaft ist – als Dank gab es Klatsch-Aktionen auf dem Balkon. Es klatschten vor allem diejenigen die gemütlich zuhause im Homeoffice sassen. Eliane T.* ist 26 und arbeitet seit drei Jahren als angehende Expertin Intensiv in einem Kinderspital in Luzern. Gehört hat sie das Klatschen nicht, sie hat gearbeitet, natürlich. «Irgendwie fand ich die Aktion schon schön, aber ich habe nicht das Gefühl, dass sich jetzt wirklich etwas ändert», erzählt sie. Und ergänzt: «Vielleicht bin ich mittlerweile etwas zu zynisch».

Seit der Krise höre sie öfter, dass man ihren Job respektiert, und dass sie es jetzt sicher ganz schön streng hätten im Spital. «Wir haben es immer streng! Und wir sind immer unterbesetzt, auch ohne Corona», sagt sie. Auch Lea Daum hält nicht viel vom Klatschkonzert: «Mir gefiel zwar der solidarische Gedanke und ich weiss, dass die Leute das gut gemeint haben. Aber ich fühle mich auch verarscht – die Leute, die hätten klatschen sollen, haben eben nicht geklatscht. Das sind die, die uns Pflegende sowieso nicht hören». Hinhören sollten jetzt eigentlich die Leitungen der Spitäler, Altersheimen und Kliniken. Bis Redaktionsschluss war niemand der Zuständigen aus den Spitälern Limmattal, Triemli, dem Universitätsspital Zürich und der Hirslanden Klinik Zürich für eine Stellungnahme verfügbar.

Die grössten Universitäts-, Kantons- und Regionalspitäler in zehn Deutschschweizer Kantonen liessen kürzlich verlauten, dass für 2021 keine flächendeckenden Lohnerhöhungen geplant seien, obwohl sie vom Personal gefordert wurde. Ein nettes Dankeschön für die Angestellten, die noch vor wenigen Monaten als Held*innen der Krise betitelt wurden. «Das ist noch das Tüpfelchen auf dem i, es wird im Gesundheitswesen einfach am falschen Ort gespart», sagt N.B.* «Eigentlich haben wir einen so schönen und wichtigen Job, aber es gibt einfach so vieles, das die Leute vergrault. Dabei braucht es uns, der Job müsste attraktiver gemacht werden, nicht abgewertet».

Die Dringlichkeit, zu handeln, steht auch seitens der Gewerkschaft Syna schon lange fest: «Wir machen seit Jahren auf die miserablen Zustände in der Pflege aufmerksam. Die Krise könnte wirklich eine Chance dafür sein, dass wir als Gesellschaft ein für allemal verstehen, wer die systemrelevante Arbeit leistet – das hat nichts mehr mit kleinen gewerkschaftlichen Forderungen zu tun», sagt Migmar Dhakyel. Um mehr Druck auf die Politik zu machen, plant die Syna zusammen mit dem Schweizerischen Verband des Personals öffentlicher Dienste VPOD eine Protestwoche Ende Oktober: Alle Schweizer Gruppierungen aus den Bereichen Gesundheit und Pflege organisieren sich regional und machen im Rahmen einer Protestwoche auf die prekären Zustände aufmerksam.

«Es wird viele kleinere und grössere Aktionen geben, vielleicht auch ein paar Streiks», erzählt Dhakyel. Es sei höchste Zeit, Schluss zu machen mit «Pflege à la minute», miserablen Löhnen, mit einem Pflegeschlüssel, der verlangt, innerhalb einer Stunde zehn Patient*innen betreuen zu müssen und dem Verlangen nach der Bereitschaft, rund um die Uhr sehr spontan einsatzfähig zu sein. Am 31. Oktober soll die Aktionswoche mit einer Aktion auf dem Bundesplatz enden, um den Forderungen Gehör zu verschaffen. «Wir gehen schwer davon aus, dass der Appel gehört wird», sagt Dhakyel. Es wäre höchste Zeit.

Mehr Infos: Auf der Plattform «Pflegedurchbruch» haben sich verschiedene Pflegende zusammengeschlossen, um ihre Anliegen zu vertreten.

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