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Von Rahel Bains

Redaktionsleiterin

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5. November 2020 um 15:04

Musiklabel Ozelot will «Traditionelles auf ein nächstes Level beamen»

Manuel Fischer, Yannick Steitz, Etienne Pavoncello und Nadim Elhady vom Zürcher Musiklabel Ozelot Records vermischen analoge und digitale Realitäten und das nicht nur auf musikalischer Ebene. Angesichts der Aussicht eines Winters mit Kultur, die sich vor allem online abspielen wird, fragen sie zu Recht: «Welche virtuellen Tools helfen Kulturschaffenden?»

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Manuel Fischer, Etienne Pavoncello, Yannick Steitz, und Nadim Elhady. (v.l.n.r.) Bild: Evan Ruetsch

Yannick (30) und Manu (29) sitzen in ihrem Büro, das nur wenige Gehminuten von der Bäckeranlage entfernt liegt. Ende Sommer haben sie dort Eröffnung gefeiert. Aus den Boxen schallte Musik, auf der Strasse vor dem Studio versammelten sich Freund*innen und Akteur*innen aus der Kreativszene auf ein Bier. Das war vor der zweiten Coronawelle, welche die Stadt nun fest im Griff hat. An der Wand ihres Studios, das sie befristet für einige Monate mieten können, ist eine Leuchtreklame befestigt. Darauf blinkt der Schriftzug Ozelot, der Name ihres Musiklabels und Kreativstudios. An einer Kleiderstange hängen Shirts mit dem Logo des Community Streams, den sie während dem ersten Lockdown produzierten.

Vor wenigen Wochen wurde bekannt, dass Ozelot vom Migros Kulturprozent unterstützt wird. Mit diesem finanziellen Zustupf sollen Trendforscher Manu, Yannick, gelernter Tontechniker und Zimmermann, Ingenieur Etienne sowie Nadim, der visuelle Kommunikation studiert hat, ihr internes Projekt «Agentur für Virtualität» vorantreiben und sich mit Fragen beschäftigen können wie: «Was bedeutet es, wenn die virtuelle Realität in Zukunft als Ort der Kulturrezeption und -produktion an Bedeutung gewinnt?», «Müssen Kunstschaffende programmieren können um partizipieren zu können oder werden Softwareentwickler*innen die Kunstschaffenden der Zukunft – gerade auch im Hinblick auf Corona?»

Im vergangenen halben Jahr sei viel passiert, erzählen Manu und Yannick, während sie an ihrem Kaffee nippen. «Im März haben wir zum Beispiel davon gesprochen, das Model Bella Hadid zu scannen. Und soeben haben wir ein Video gesehen, in dem sie tatsächlich gescannt worden ist.» Das und viele andere Dinge, die man sich Anfang Jahr überlegt habe, seien mittlerweile von Firmen umgesetzt worden.

Community-Bildung par excellence

Doch Programmierer im klassischen Sinne, das sind Manu und Yannick nicht. Bevor sie vor vier Jahren Ozelot gründeten, waren sie unter den Namen Manuel Fischer und Prioleau bereits als etablierte DJ’s der nationalen sowie internationalen Technoszene bekannt und veranstalteten ihre eigenen Partys. «Das war damals Community-Bildung par excellence, in unserem ersten Kollektiv waren etwa 20 Leute aktiv und jeder davon brachte seine Leute an die jeweiligen Anlässe. Beim ersten Mal waren es 20, beim nächsten 50, beim übernächsten Mal 100 Menschen – und irgendwann war der Club voll.»

Kaum hatten sie das neue Musiklabel gegründet, kam auch schon die erste Platte raus. «Black Belt Academy 1» wurde von gestandenen DJ’s etwa im Londoner Club «Fabric London» oder an diversen Festivals gespielt und war in Japan sogar ausverkauft. Manu und Yannick nennen dies «einen soliden Start», der sie dazu motivierte, weiterzumachen.

Schlaf? Verschnaufpause? Braucht der Avatar nicht.

Yannick Steitz

Da Ozelot, das bereits für das Bundesamt für Kultur (BAK) sowie die Art Basel Sounddesigns erstellt und nebst der Musik auch audiovisuellem Design von Beginn weg einen grossen Stellenwert zugemessen hat, schien die Idee einer virtuellen Agentur nichts anderes als eine logische Schlussfolgerung ihrer Arbeit. Und als sich durch die grassierende Pandemie plötzlich alle fragten, was denn nun mit Theatervorstellungen, Konzerten, Fashion-Shows, Festivals – sprich allen kulturellen Veranstaltungen – passiert, habe das Ganze den letzten notwendigen Schub verpasst bekommen.

Die Antwort der Ozelot-Jungs auf diese Frage lautet: Man muss Dinge «abfreaken» und zwar auf einer Ebene, die es in echt nicht gibt. «Wir möchten Sachen kreieren, die sonst nicht möglich wären. Sei es aufgrund von Statik, Corona oder der Gewerbepolizei. Traditionelles auf ein nächstes Level beamen: Zum Beispiel ein Theaterstück mit Visuals begleiten oder Digital Fashion kreieren, bei der Kleider digitalisiert und danach einem perfekt zugeschnittenen Avatar angezogen werden können.»

Theaterproduktion als «Future Podcast»

Konkret arbeiten die Kreativschaffenden im Moment daran, eine Theaterproduktion als audiovisuelles Erlebnis zu entwickeln. Eine Art «Future Podcast» soll es werden, den man sich nicht nur anhören, sondern auch anschauen kann. «Optimalerweise mit einer 360-Grad-Brille, durch die man sich mitten im Stück wähnt», so Yannick. Unterstützt wird das Projekt unter anderem durch die Schauspielerin Esther Gemsch.

Eine andere Vision der Zürcher ist das Erschaffen von digitalen Künstler*innen. Als Beispiel nennt Manu die virtuelle Band Gorillaz, die Ende der 90er-Jahre aus vier Comicfiguren geformt wurde. Die Band wurde nicht durch einen Kreis realer Personen repräsentiert, vielmehr arbeitete eine wechselnde Gruppe britischer Musiker*innen und Produzent*innen gemeinsam daran. Yannick: «Einen solchen digitalen Avatar kann man, weil er nicht echt ist, perfektionieren. Wenn du innerhalb eines Teams eine Artist Identity erschaffst, hast du auf einmal ein viel stärkeres Profil, weil mehrere Personen daran arbeiten können. Schlaf? Verschnaufpause? Braucht der Avatar nicht. Mehrere Menschen leben ein Leben und kreieren eine*n Künstler*in mit eigenem Lebenslauf, besonderen Vorlieben und spezifischem Aussehen.»

«Dinge einfach online zu stellen» ist nicht gleich Virtualität

Ihr Bestreben, das Tüfteln und Grenzen ausloten sei aber nicht als Flucht vor der realen Welt zu werten: «Unser Schaffen soll eine Ergänzung dazu sein.» Dies innerhalb eines Rahmens, für den im Voraus ethische Richtlinien und Wertvorstellungen definiert worden seien. Eines Rahmens, in dem man sich frage: «Welche virtuellen Tools helfen Kulturschaffenden? Und was lenkt uns nicht nur ab, wie es Influencer tun, die niemandem irgendetwas bringen?»

Virtualität sei indes nicht zu verwechseln mit «Dinge einfach online zu stellen», wie es Veranstalter*innen von Konzerten, Lesungen, Theaterproduktionen oder Podiumsgesprächen während des Lockdowns zu tun pflegten. «Streams bedeuten oft: Man macht das gleiche wie geplant und filmt sich einfach dabei. Das geht heute nicht mehr. Es braucht ein Storytelling. Etwas, das es nur im digitalen Raum gibt», so Yannick. Für ein Literaturfestival könne man zum Beispiel einen virtuellen Raum gestalten, in dem man sich bewegen und aktiv entscheiden könne, welche der zeitgleich laufenden Lesungen man besuchen wolle und welche nicht. «So sitzt man am Ende vielleicht tatsächlich mit anderen Menschen gemeinsam in diesem Raum, interagiert mit ihnen und kommt in den Genuss von Veranstaltungen, die im besten Fall gleich auch noch visuell untermalt werden.»

Die Jungs von Ozelot stellen viele Fragen. In Zeiten wie diesen, scheint das berechtigt. «Wie wäre es wohl, wenn man die Zeit, in der wir nun zu Hause sitzen müssen, nutzen könnte, um sich in einem solchen virtuellen Space inspirieren zu lassen und in andere Realitäten abzutauchen? Wo doch die aktuelle Realität so traurig ist?»

Migros Kulturprozent
Das Migros-Kulturprozent ist ein Engagement der Migros in den Bereichen Kultur, Gesellschaft, Bildung, Freizeit und Wirtschaft. Mit seinen Institutionen, Projekten und Aktivitäten will es einer breiten Bevölkerung Zugang zu kulturellen und sozialen Leistungen ermöglichen. Seit Anfang 2020 will man neu mit zeitlich beschränkten Ausschreibungen Impulse und zukunftsweisende Akzente in der Schweizer Kulturlandschaft setzen. Aus der ersten Ausschreibung vom Frühjahr 2020 haben drei Projektteams Förderbeiträge von insgesamt 150’000 Franken erhalten. Die unterstützten Projekte thematisieren das Zusammenspiel von Kulturproduktion und künstlicher Intelligenz, die zukünftige Rolle von Virtual Reality für Kulturrezeption sowie die ungenügenden Vergütungsstrukturen im Kultursektor. Derzeit läuft übrigens erneut eine Ausschreibung für Förderbeiträge: Interessierte Kunst- und Kulturschaffende können sich hier bewerben.

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