Oben ohne in der Badi: Wer bestimmt, was normal ist? - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Isabel Brun

Redaktorin

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24. Mai 2022 um 09:00

Oben ohne in der Badi: Wer bestimmt, was normal ist?

In den meisten Stadtzürcher Badeanstalten ist es weiblich gelesenen Personen nicht erlaubt, sich oben ohne zu zeigen. Weil es das «sittliche Empfinden» anderer Badegäste verletzen könnte, heisst es von offizieller Seite. Doch was ist genau störend daran und hätte eine Aufhebung des Verbots einen positiven Einfluss auf die Geschlechtergleichstellung? Auf der Suche nach Antworten – in der Community und bei einer Expertin.

Keine Abdrücke, weil es sich befreiend oder im Wasser gut anfühlt – die Gründe, auch mal oben ohne baden zu gehen, sind vielfältig. (Illustration: Daria Locher)

Die Wassertemperatur zeigt an diesem Freitagnachmittag Ende Mai kühle 18 Grad an, trotzdem ragen ein paar wenige Köpfe aus dem Schwimmbecken der Frauenbadi am Stadthausquai. Ich lasse mir von den Sonnenstrahlen meinen nackten Rücken wärmen und nippe am Eiskaffee. Währenddessen schweift mein Blick über das Liegedeck: Da sitze ich, zwischen all diesen Frauen, all diesen Brüsten – die einen verdeckt, die anderen unverdeckt. Und nach den Berichterstattungen der letzten Wochen frage ich mich, weshalb das eigentlich nur an Orten wie hier, wo männlichen Badegästen den Zugang verwehrt bleibt, möglich ist.

Die emotionale Debatte

Der weibliche Körper. Mal ist er zu eingepackt, mal zu freizügig, nie macht er es allen recht. Ob er will oder nicht, er polarisiert. Und er ist das Paradebeispiel davon, dass das Private politisch ist. Dabei immer wieder im Fokus der Debatte: Die weibliche Brust. Sie gilt in westlichen Kulturen seit Jahrhunderten als Sinnbild der Weiblichkeit, wird erotisiert, dabei würden wohl die wenigsten ihren ursprünglichen Zweck als sexuell anregend bezeichnen. Nichtsdestotrotz ist der Diskurs, ob Frauen ihre Brüste in der Öffentlichkeit zeigen dürfen oder nicht, emotional aufgeladen.

Rückblick: Anfang Mai 2022 in einem Freibad in Göttingen, Deutschland – gut 600 Kilometer nördlich von Zürich. Eine non-binäre Person erhält Hausverbot, weil sie obenrum blank zieht. Die Bevölkerung reagiert empört, sodass das Schwimmbad sich dafür entscheidet, künftig auch Frauen das Oben-ohne-Baden zu erlauben – allerdings nur an den Wochenenden. Mit ihrem Entscheid stachen sie in ein Wespennest. So forderte auch die SP-Nationalrätin Tamara Funiciello eine Überarbeitung der hiesigen Baderegeln: «Frauen sollten herumlaufen, baden und sünnelen können, wie sie wollen. Es ist problematisch, dass die weibliche Brust bis heute dermassen sexualisiert wird», wurde sie auf 20 Minuten zitiert.

«Ich trage meine Wampe ja auch spazieren.»

Teilnehmer der Umfrage zum Thema «Oben-ohne-Baden»

Tatsächlich könnte sich ein ähnliches Szenario wie in Göttingen theoretisch auch in der Stadt Zürich abspielen, zumal auch hier das Sonnen und Baden mit freiem Oberkörper für weiblich gelesene Personen nicht erlaubt ist – ausser in Extrazonen. Als Grund nennt das Zürcher Sportamt gegenüber dem Tages-Anzeiger, dass «alle unterschiedliche Schutzbedürfnisse und ein ganz individuelles Empfinden von angemessener Badebekleidung haben.» Darauf gebe es Rücksicht zu nehmen. Was genau unter «angemessener Badekleidung» verstanden wird, dazu gibt das Departement jedoch keine Antwort. An nackten Brüsten würden sich laut Aussagen der Stadt wohl alle Badegäste gestört fühlen: Kinder, Familien, Jugendliche und Erwachsene.

In einer anonymen Umfrage von Tsüri.ch mit 45 Männern, 87 Frauen und zwei non-binären Personen, gaben nur vier an, dass sie sich unwohl fühlen würden, wenn Frauen in der Badi obenrum nackt seien. «Ich schaue aktiv weg, weil ich habe Angst, dass sie sich von mir belästigt fühlen könnte», lautet die Erklärung eines Mannes. Ein anderer meint, dass er sich gerade als Jugendlicher dadurch erregt gefühlt hätte: «Biologie kann man schlecht abschalten.» Die grosse Mehrheit der Teilnehmenden aber sieht kein Problem darin, wenn weiblich gelesene Menschen ihrem Busen beim Baden Freiheit gewähren. Es sei «normal», «natürlich» oder «nur ein Körper».

Das sexualisierte Organ

Nur ein Körper? Leider nein: «Der weibliche Körper wird in der westlichen Kultur stark sexualisiert», erklärt die Historikerin und Geschlechterforscherin Fabienne Amlinger von der Universität Bern. Das sei auch der Grund, weshalb eine Frauenbrust von der Gesellschaft anders wahrgenommen werde als die Männerbrust; «selbst wenn diese teilweise kaum von der einer Frau unterschieden werden kann.» Seit wann das so ist, sei jedoch schwer zu eruieren, so Amlinger. Einen Hinweis drauf gibt der 2020 erschienene Essayband von der französischen Philosophin Camille Froidevaux-Metterie: Ihren Aussagen zufolge begann man in Europa ab der Renaissance, die weibliche Brust zu sexualisieren.

Fabienne Amlinger forscht und lehrt am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung (IZFG). (Foto: © Universität Bern/Vera Knöpfel)

Zuvor sei diesem Organ primär eine Funktion zugeschrieben worden, nämlich «die Ernährung eines Säuglings», so Amlinger. Und das sei auch nicht erotisch konnotiert gewesen. Wie stark die weibliche Brust heute in unserer Gesellschaft sexualisiert ist, zeige sich etwa daran, dass heute vermehrt schon kleine Mädchen ein Bikini-Oberteil tragen, während die gleichaltrigen Jungs mit freiem Oberkörper baden gehen. «Diese frühe Erfahrung hat auch einen Einfluss darauf, wie wir im Erwachsenenalter damit umgehen und somit auch, ob wir oben ohne baden gehen oder nicht.» Man hinterfrage es schlichtweg nicht.

Das nennen auch viele Frauen in der Tsüri-Umfrage als Grund, wenn es darum geht, sich oberkörperfrei in der Badi zu zeigen. So lautete eine Antwort: «Nein, habe mir das noch nie so überlegt, ob ich das machen sollte beziehungsweise könnte. Aber eigentlich wäre es schon cool.» Eine andere Teilnehmerin badete bisher nie oben ohne, weil sie als «Ausnahmeerscheinung» keine Blicke auf sich ziehen wolle. Würde es normaler sein, sei es für sie aber durchaus denkbar, in Zukunft auch mal ohne Bikini-Oberteil in die Limmat zu springen. Nicht Opfer von «Gaffer» zu werden, scheint der Hauptgrund zu sein, weshalb Frauen nicht gerne oben ohne baden gehen, das zeigen zumindest die Umfrageergebnisse. 

Die patriarchalen Strukturen

Etwas, das mir hier in der Frauenbadi nicht passieren kann. Hier, unter Gleichgesinnten, hüpfe auch ich ohne Bikinioberteil ins Becken. Neben mir lässt sich eine Frau treiben, ihr Busen blitzt aus der glitzernden Wasseroberfläche. Niemand starrt, niemand macht einen dummen Spruch, niemand scheint sich daran zu stören. Eigentlich schade, dass sowas in einer gemischten Badi nicht möglich zu sein scheint. Erlassen wurde die Badeordnung übrigens vom Sportamt im Jahr 2011 – also vor zwölf Jahren – das letzte Mal. Die Regelungen würden à jour gehalten und bei Bedarf angepasst werden, so die Medienverantwortliche.

«Es würde sicher in den Badeanstalten selbst die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern fördern, wenn alle so baden dürften, wie sie wollen.»

Fabienne Amlinger, Historikerin und Geschlechterforscherin

Wessen Empfinden durch Frauen, die oben ohne baden, gestört wird, scheint für die Geschlechterforscherin klar: «Der Hintergedanke dahinter ist, dass in der Öffentlichkeit keine nackten Frauenbrüste gesehen werden sollen.» Ist also das Patriarchat schuld daran, dass weiblich gelesene Personen in städtischen Badeanstalten nicht oben ohne baden dürfen? «Zugespitzt gesagt: Ja», so Amlinger, denn viele Kleiderordnungen würden aus einer Zeit stammen, in der Männer für deren Ausarbeitung zuständig gewesen seien: «Wenn es um die Frage geht, welcher Norm der weibliche Körper entsprechen muss und welche Regeln dieser in der Öffentlichkeit zu befolgen hat, dann ist das eng mit patriarchalen Strukturen verwoben.» 

Der immerwährende Kampf

Der Blick in die Vergangenheit zeigt: Im Kampf gegen das Patriarchat wurde der Körper der Frau immer wieder zum Instrument der Befreiung. Doch was ist aus den Bewegungen in den 80ern geworden, als die Freikörperkultur zelebriert wurde? «Solche Entwicklungen verliefen wellenartig», so Amlinger, «manchmal war das Oben-ohne-Baden mehr in, manchmal weniger.» Das werde vermutlich auch die nächsten 40 Jahre so weitergehen. Dass regelmässig darüber diskutiert werde, zeige aber, dass Körpernormen umstritten seien, sagt die Historikerin. Ein Grossteil der befragten Tsüri-Community findet es im Übrigen gut, dass darüber gesprochen wird: «Finde die Diskussion wichtig und richtig», schreibt beispielsweise eine der 87 Teilnehmerinnen. Andere finden den Diskurs zwar sinnvoll, «aber nicht das wichtigste Thema». Lediglich ein Mann nimmt die Worte «bescheuerte Debatte» in den Mund. 

Ob sinnvoll oder nicht, die Debatte darüber wird geführt. Doch was würde ein freier Busen in Stadtzürcher Badis bewirken? Mehr Gaffer oder mehr Gerechtigkeit? «Es würde sicher in den Badeanstalten selbst die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern fördern, wenn alle so baden dürften, wie sie wollen – sei das mit oder ohne bedeckten Brüsten», sagt die Geschlechterforscherin. Oder in den Worten eines Umfrageteilnehmers gesagt: «Ich trage meine Wampe ja auch spazieren.» Dass künftig mehr Frauen in Führungspositionen sitzen werden, dazu brauche es jedoch mehr als das Recht, sich oben ohne in der Badi zu bewegen, sagt Amlinger. Aber: «Es ist eines von vielen Mosaiksteinchen, das benötigt wird, um mehr Geschlechtergleichstellung in der Gesellschaft zu erreichen.»

Wir bedanken uns herzlich bei der Künstlerin Daria Locher, die uns ihre Illustrationen für diesen Beitrag zur Verfügung stellt!

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