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Von Laura Lombardini

Kolumnistin / Geschäftsführerin Vegane Gesellschaft Schweiz

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5. September 2020 um 08:00

Veganismus Kolumne: Normal, natürlich und notwendig

Das sind die häufigsten Argumente, die gegen eine vegane und für eine herkömmliche Ernährungsweise angeführt werden. Darin spiegelt sich aber vor allem eines: Wir wollen festhalten, an dem was wir kennen.

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Bild: Unsplash / Erik Dungan

Fleisch und Milch sind normal

Der Mensch ist ein soziales Wesen und braucht das Gefühl von Zugehörigkeit. Nur schon deshalb fällt es nicht leicht, Dinge zu hinterfragen, die im eigenen Umfeld als normal gelten. Vermutlich konsumiert deshalb auch die überwiegende Mehrheit der Menschen noch (so viele) Fleisch- und Milchprodukte: Alle tun es, es ist halt normal. Diese Tatsache alleine sagt aber noch nichts darüber aus, ob es auch sinnvoll ist und unseren persönlichen Werten entspricht. Zum Glück haben wir als Gesellschaft unsere Definition von «normal» immer und immer wieder kritisch hinterfragt. Das Frauenstimmrecht war in der Schweiz bis in den 70er Jahren zum Beispiel nicht normal. Auch Sklaven zu halten war lange Zeit nichts falsches. Wenn wir heute daran denken, kommt uns das völlig absurd vor. Es brauchte viele Menschen und hunderte von Jahren, um das zu ändern. Die vegane Bewegung ist eine der am schnellsten wachsenden sozialen Bewegungen. Der grosse Unterschied zu anderen: Die Opfer sind nicht direkt Teil der Bewegung, beziehungsweise können nicht für sich selber sprechen.

Fleisch und Milch sind natürlich

Wenn es um Ernährung geht, bekommt Natürlichkeit bei vielen Menschen einen ganz hohen Stellenwert. Schon oft habe ich zu hören oder zu lesen bekommen, dass ja schon unsere Vorfahren Fleisch gegessen haben. Deshalb sei es natürlich. Gleichzeitig wird «natürlich» mit «gut» gleichgesetzt. Dass in der Steinzeit keine Milch getrunken oder Fahrrad gefahren wurde, wird dabei ignoriert. Und wer entscheidet eigentlich, zu welchem Zeitpunkt etwas natürlich (und gut) war und deshalb noch heute erstrebenswert wäre? Bei Krankheit Medikamente zu nehmen, auf einem kleinen technischen Gerät diese Zeilen zu lesen oder in einem Bett mit Kissen und Decke zu schlafen, sind auch sehr unnatürlich. Darauf verzichten möchten wir aber lieber nicht.

Mit Unnatürlichkeit ist auch häufig die Einnahme von Vitamin B12 gemeint. Die ist bei einer veganen Ernährung nämlich zwingend. Ich dachte früher auch mal so: «Wenn stets supplementiert werden muss, kann das ja nicht natürlich (und deshalb nicht gut) sein.» Als ich diese Einstellung vertrat, hatte ich mich noch keine Sekunde mit Vitamin B12 oder irgendwelchen anderen Vitaminen, Nährstoffen oder allgemein Ernährung vertieft auseinandergesetzt. Ich hatte also ganz schön viel Meinung und wenig Ahnung. Nach kurzer Recherche lernte ich die Basics: B12 wird durch Bakterien hergestellt, den meisten Tieren ins Futter gemischt und so kam ich bisher zu dem Vitamin. Einen vernünftigen Grund den Umweg übers Tier zu machen, fand ich nicht. Ausserdem supplementieren wir bereits alle: Unsere Böden sind arm an Jod und deshalb wurde es dem Kochsalz hinzugefügt. Auch Vitamin D zu supplementieren wird der Schweizer Bevölkerung in den Wintermonaten empfohlen. Und für das Fluor in der Zahnpasta sind meine Zähne und ich auch ziemlich dankbar.

Fleisch und Milch sind notwendig

«Fleisch liefert Protein und Eisen und von der Milch bekommen wir Kalzium.» Mit diesem Ernährungswissen bin ich aufgewachsen und hielt mich einfachheitshalber lange daran fest. Und wenn alle anderen das auch sagen und glauben, dann muss es stimmen. Nun ja, falsch ist es nicht. Aber brauchen wir deshalb Fleisch und Milch? Nein, das tun wir nicht. Den Werbespruch «Milch macht gesunde Knochen» darf die Milchlobby nicht umsonst nicht mehr verwenden - er stimmt so nämlich nicht. Zwar ist Kalzium wichtig für gesunde Knochen, aber nicht mehr als Sport oder Vitamin D. Und Kalzium findet sich unter anderem auch in angereicherter Sojamilch, Brokkoli oder Nüssen.

Vor einem echten Proteinmangel brauchen wir uns hier, unabhängig der Ernährungsweise, nicht zu fürchten. Solange wir genügend Kalorien zu uns nehmen, bekommen wir auch genug Proteine. Und zu Guter letzt: Eisenmangel ist generell vor allem für menstruierende Frauen ein Thema - komplett unabhängig von der Ernährung. Wobei fast: Vegetarier*innen scheinen (im Vergleich zu Veganer*innen und Mischköstler*innen) am ehesten an einem Mangel zu leiden. Das könnte daran liegen, dass sie eisenreiche Lebensmittel (Fleisch) durch andere, nicht eisenreiche Lebensmittel (Käse und andere Milchprodukte) ersetzen. Werden letztere weggelassen, gibt das wieder Platz für eisenreiche Lebensmittel wie Sojabohnen, Samen (Kürbiskerne, Sesam etc.), Nüsse, Tofu, dunkle Schokolade, Spinat, Kohlgemüse und Vollkornprodukte.

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Bild: Unsplash / Maddi Bazzocco

In Studien wurde herausgefunden, dass die Ernährung grossen Einfluss auf Zivilisationskrankheiten wie Diabetes Typ 2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Adipositas hat. Je höher der Anteil an pflanzlicher Kost war, desto geringer die Gefahr an diesen zu erkranken - teilweise konnten sie sogar rückgängig gemacht werden. Bedeutet das jetzt, die vegane Ernährung ist allgemein gesünder? Nein, nicht zwingend. Jede Ernährungsweise hat ihre Vor- und Nachteile. Jeden Tag Pommes und Oreos zu futtern wäre auch vegan, aber bestimmt nicht gesund. Eine gesunde Ernährung kann Fleisch oder Milch enthalten, ist aber nicht zwingend notwendig. Und überhaupt: Gesundheit beinhaltet noch mehr als nur die Ernährung. Auch mentales Wohlbefinden, Umwelt, Genetik und ausreichend Bewegung haben Einfluss darauf, wie gesund wir sind.

Das letzte Argument

Warum konsumieren wir also tierische Produkte? Als einziges Argument bleibt nur noch der Geschmack. Während sich die Food Industrie gerade selber revolutioniert und ein pflanzliches Produkt nach dem anderen rausbringt, die alle sehr nahe am Original sind, könnten wir uns währenddessen fragen: Sind mir die paar Minuten traditioneller Gaumenfreude es wirklich wert, dass ein anderes Lebewesen dafür leiden und sterben muss? Oder ist es Zeit, etwas Neues auszuprobieren? Bei den Auswirkungen, die unser täglicher Konsum hat, stehen wir alle in der Pflicht, uns mit diesen Fragen ernsthaft zu beschäftigen.

PS: Der Mensch ist übrigens kein Carnivor (= Fleischesser*in), sondern Omnivor ( = Allesesser*in). Das bedeutet, wir können alles essen, müssen es aber nicht.

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