Niggi Scherr im Interview: «Der Immobilienmarkt ist finsteres Mittelalter» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Emilio Masullo

Projektleiter

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4. November 2020 um 08:29

Niggi Scherr im Interview: «Der Immobilienmarkt ist finsteres Mittelalter»

Wem gehört der Boden in Zürich? Mit dieser Frage starten wir in den Fokusmonat «Wohnen». Dazu haben wir mit Niggi Scherr, dem ehemaligen Gemeinderat der AL und Geschäftsleiter des Mieter- und Mieterinnenverbands Zürich gesprochen. Als Kenner der Immobilienbranche weiss er, wie intransparent der Zürcher Markt ist.

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Niggi Scherr auf dem Röntgenplatz. (Bild: Elio Donauer)

Tsüri: Wo wohnst du?

Niggi Scherr: Ich wohne seit über 40 Jahren in der selben günstigen Altbauwohnung im Kreis 4 an der Feldstrasse. Dank dem Mieter*innenschutz ist die Miete von den verheerenden Auswirkungen des freien Markts bisher verschont geblieben.

Wem gehört Zürich?

Diese Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten. Was man weiss, ist, dass ein Viertel der Mietwohnungen gemeinnützig sind. Diese gehören Genossenschaften oder der Stadt und sind somit der Spekulation entzogen. Das ist wichtig und diese Zahl will die Politik in Zukunft weiter erhöhen. Die anderen Wohnungen sind in den letzten Jahren oft von privaten Personen an institutionelle Investor*innen, wie Pensionskassen, Versicherungen, Immobilienfonds oder Immobilien AGs verkauft worden. Das ist nicht sehr erfreulich, da diese Vermieter*innen eine aggressivere Preispolitik führen als andere.

Wieso besitzen institutionelle Investor*innen immer mehr Immobilien?

Wenn Erbengemeinschaften ein Haus erben, ist die einfachste Lösung oft der Verkauf der Immobilie. So gibt es keinen Streit und alle bekommen ihren Anteil. Dies führt aber dazu, dass die Preise von Immobilien in die Höhe steigen und die institutionellen Investor*innen in Zürich immer mehr besitzen.

Sind die Verkäufe Privatsache und nicht öffentlich einsehbar?

Ja, der Immobilienmarkt ist nicht sehr transparent. Wenn man es mit der Börse vergleicht, ist es finsteres Mittelalter.

Wem der Boden, also das entsprechende Grundstück gehört, steht im Grundbuch. Dieses ist per Definition öffentlich. Wieso ist es im Kanton Zürich trotzdem nicht ganz einfach, an die Daten zu kommen?

Früher musste man am Schalter des Grundbuchamtes vorbei, um die Informationen zu bekommen. Heute ist auf den Notariaten eigentlich alles elektronisch vorhanden.

Ich fände es logisch und zeitgemäss, wenn man die Eigentümer*innendaten über das Geodatensystem vom Kanton abfragen könnte

Dies ist in fast allen Kantonen möglich, ausser hier im Kanton Zürich. Ein Grund könnte sein, dass die Verordnung, die das Grundbuch regelt, vom Obergericht und nicht vom Kantonsrat erlassen wird. Darum ist das Grundbuch ausserhalb der politischen Diskussion geblieben. Bis 2005 wurden in Zürich alle Verkäufe publiziert, weil es der Bund damals noch explizit verlangt hat. Als es dann fakultativ wurde, hat dies der Kanton Zürich, im Gegensatz zu vielen anderen Kantonen, nicht mehr weitergeführt.

Könnte dies wieder geändert werden?

Der Kantonsrat könnte eigentlich jederzeit das Einführungsgesetz zum ZGB anpassen und die elektronische Öffentlichkeit des Grundbuches vorschreiben. Das ist einfach noch nicht passiert. In meiner Herkunftsgemeinde werden zum Beispiel alle Handänderungen im Lokalblatt publiziert, ohne dass man danach fragen muss. Und in Genf werden wöchentlich alle Liegenschaften publiziert, die verkauft wurden, inklusive des Verkaufspreises. Es ist alles möglich. Die Kantone haben da weitgehende Freiheiten. In Zürich wäre dies eine wichtige Information, damit man auch Vermögenskonzentrationen feststellen könnte.

Bis 1996 gab es das Grundbuch in Buchform. Wieso heute nicht mehr?

Man muss sich diese Adressbücher wie eine Art Telefonbuch vorstellen. Darin fand man alle Namen der Bewohner*innen einer Adresse und zuoberst war vermerkt, wem die Immobilie gehört. Dieses Buch wurde bis 1996 teilweise sogar gratis in die Haushalte verteilt. Dass dies heute nicht mehr der Fall ist, hat mit dem Datenschutzgesetz zu tun. Am Anfang des Datenschutzes wurden viele Daten als sensibel eingestuft und deshalb gibt es das Buch nicht mehr. Meiner Meinung nach sind die Daten zur Eigentümer*innenschaft aber nicht besonders schützenswert.

Wann kann im Kanton Zürich damit gerechnet werden, dass die Daten online abgefragt werden können?

Eigentlich ist der Kanton Zürich im Geodatensystem relativ fortschrittlich, da man viel mehr Daten als in anderen Kantonen abrufen kann. Ausser eben das Grundbuchamt. Technisch wäre dies völlig problemlos. Es müsste wohl öffentlicher Druck aufgebaut werden, damit sich dies schnell ändern würde.

Wer hat heute bereits uneingeschränkten Einblick in das Grundbuch?

Nicht viele. Einigen Behördenstellen ist es erlaubt, grössere Eigentümer*innenabfragen vorzunehmen. Dies zum Beispiel, um Delikte zu bekämpfen, die mit Geldwäscherei zu tun haben.

Was würde man herausfinden, wenn die Daten vom Grundbuchamt online zugänglich wären?

Ein Problem ist, dass man bei einer Abfrage jeweils nur immer die letzte Handänderung bekommt. Interessant wäre zu sehen, wie viel mal ein Haus in den letzten Jahren verkauft worden ist. Häufig ist es so, dass Transaktionen über zwei oder mehr Personen umgeleitet werden. So bekommst du im Regelfall nur die alten und neuen Eigentümer*innenschaft und das Datum der letzten Transaktion. Gerade bei spekulativen Prozessen und Verschleierungsversuchen kommen solche Mehrfachtransaktionen oft vor.

Für Daten auf dem Grundbuchamt muss man bei mehr als drei Abfragen bezahlen. Was halten Sie davon?

Eine Gebühr für eine Auskunft zu bezahlen, die laut Bundesrecht öffentlich ist, ist ein No-Go. Es besteht ja ein Einsichtsrecht und wenn diese durch eine Gebühr ökonomisch eingeschränkt wird, führt dies am Schluss dazu, dass das Recht gar nicht mehr wahrgenommen werden kann. So wird das Anliegen des Gesetzgebers faktisch sabotiert.

Fokusmonat «Wohnen» 2020
Dieser Artikel ist im Rahmen unserer Fokusmonats «Wohnen» entstanden. Neben dem hier veröffentlichten Bericht, sammeln wir mit einem Crowdfunding momentan Geld, um herauszufinden, wem Zürich gehört. Zudem organisieren wir auch dieses Mal eine Pitch-Night, Podien und machen mit einer Stadtforscherin einen Spaziergang durch die Weststrasse.

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