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Von Michael Schallschmidt

Praktikant Redaktion

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25. November 2021 um 16:00

Aktualisiert 18.01.2022

Netto-Null in der Konsumgesellschaft: «Wer etwas zu verlieren hat, wehrt sich am stärksten»

Müssen wir für eine klimaneutrale Stadt unser Konsumverhalten verändern? Ja, sagen die Expert:innen: Weniger einkaufen, bessere Qualität und Kreislaufwirtschaft sind die Stichworte. Am Mittwoch diskutierten Vertreterinnen von Stadt, Wirtschaft und der Klimastreikbewegung.

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Von links nach rechts: Ursina Ingold, Franziska Barmettler, Anja Gada und Rahel Gessler (Alle Bilder: Ladina Cavelti).

Die Stadt setzt sich das Ziel, bis 2040 klimaneutral zu sein. Damit sendet Zürich eine klare Botschaft für mehr Engagement in Sachen Klimaschutz. Die jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse verdeutlichen den dringenden Handlungsbedarf für das Netto-Null-Ziel. Dies betonte die Hauptautorin des neusten UN-Klimaberichtes Sonia I. Seneviratne an der Pitch-Night zum Fokusmonat Netto-Null betonte.

Neben anderen lebensbereichen wie der Mobilität und der Ernährung spielt auch unser Konsumverhalten beim Erreichen der Klimaziele eine grosse Rolle: «Doch was ist nachhaltiger Konsum überhaupt?», fragt Moderatorin Ursina Ingold und eröffnet damit das Podium vom Mittwochabend. «Dass ich nur noch so viele Ressourcen verbrauche, wie auch natürlich nachwachsen», antwortet Rahel Gessler, Leiterin Netto-Null der Stadt Zürich. Darüber hinaus dürfte das eigene Konsumverhalten nur so viel Umweltbelastung verursachen, wie der Planet absorbieren könne.

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Anreize für ein nachhaltigeres Leben können auf allen politischen Ebenen geschaffen werden, findet Rahel Gessler (rechts).

«Im heutigen Wirtschaftssystem ist das jedoch nicht machbar», ergänzt Klimastreik-Aktivistin Anja Gada. Franziska Barmettler, Leiterin Nachhaltigkeit bei Ikea, sieht jedoch keinen Widerspruch zwischen Konsum und Klimaschutz: «Wir müssen diese Aspekte lediglich zusammenführen.» Jede:r habe das Recht auf ein schönes Zuhause. «Es kommt darauf an, wie und mit welchen Materialien wir diese Möbel produzieren.»

Für einen nachhaltigen Konsum seien alle verantwortlich und müssten stärker zusammenarbeiten: «Die Wirtschaft spielt dabei eine wichtige Rolle als Innovationstreiberin für nachhaltigere Technologien», hält Barmettler fest. Die Politik müsse dafür aber die richtigen Rahmenbedingungen festlegen, beispielsweise durch CO2-Grenzwerte.

Lobbygruppen verzerren das Bild

In der Theorie funktioniere diese Vorgehensweise sehr gut, würde jedoch in der Praxis versagen, findet Gada: «Durch die starken Lobbygruppen im Parlament, verzerrt sich das politische Bild in der Schweiz sehr stark.» Dadurch seien politische Vorstösse für mehr Klimaschutz sehr schwierig. «Wir können auf verschiedenen politischen Ebenen Rahmenbedingungen setzen», entgegnet Gessler.

So könnten Anreize für mehr Recycling und langlebigere Geräte auf einer hohen Ebene eingesetzt werden. Ökologische Steuerreformen oder höhere Verkehrsabgaben seien wiederum sehr schwer umzusetzen, sagt Gessler: «Das haben wir bei der Abstimmung zum CO2-Gesetz gesehen. Am Ende lehnt man solche Vorlagen ab, wahrscheinlich sogar, weil sie zu gut funktionieren würden.»

Wir müssen uns vom Gedanken lösen, Dinge immer nur zu verkaufen.

Franziska Barmettler, Leiterin Nachhaltigkeit Ikea

Auf Kantons- oder Gemeindeebene könne die Politik dennoch ein nachhaltigeres Leben fördern, sagt Gessler: «Mit einer verbesserten Infrastruktur für Fussgänger:innen und Velofahrer:innen können wir beispielsweise einen nachhaltigen Verkehr innerhalb einer Gemeinde fördern.» Dies ginge jedoch auf Kosten der Autofahrer:innen, weshalb auch solche Veränderungen nicht einfach wären.

«Ist es für die Stadt überhaupt möglich bis 2040 Netto-Null zu erreichen und gleichzeitig ein Wirtschaftswachstum anstrebt?», fragt die Moderatorin Ingold in die Runde. Das ginge durchaus, solange die Gesellschaft nach einem qualitativen Wachstum arbeite, antwortet Barmettler: «Indem wir uns weiter zu einer Dienstleistungsgesellschaft entwickeln und den Fokus auf qualitativ höhere, langlebigere Waren legen, können wir wachsen und dennoch nachhaltig leben.»

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Nachhaltigkeit soll für alle Zugänglich sein, sagt Franziska Barmettler.

Konsument:innen brauchen mehr Transparenz

Gada stellt die Ausführungen von Barmettler jedoch in Frage: «Wenn ich in eine Ikea-Filiale laufe, dann werde ich mit günstigen Waren überhäuft und kaufe Dinge, die ich nicht brauche.» Solche Produkte würden auch schneller weggeworfen werden, was nicht mit einem Netto-Null-Ziel zu vereinbaren wäre. Günstige Produkte automatisch als weniger nachhaltig zu erachten, hält Barmettler für einen überholten Gedanken: «Wir wollen klimafreundliche Produkte zu erschwinglichen Preisen anbieten. Nachhaltigkeit soll für alle zugänglich sein.»

Die Konsument:innen bei ihren Kaufentscheidungen zu unterstützen sei schwierig, antwortet Gessler auf die Frage, ob städtische Labels ein geeignetes Werkzeug seien. «Es ist vor allem die Aufgabe der Unternehmen, mehr Transparenz in diesem Bereich zu schaffen», sagt die Netto-Null-Leiterin der Stadt.

Gerade Labels, die von den Unternehmen selbst mitinitiiert wurde, seien jedoch wenig vertrauenswürdig, findet Gada: «Ikea ist Mitgründerin von ‹Better Cotton›, weshalb ich dieses Label nicht als vertrauenswürdig ansehe.» Die Gründung eines Labels durch ein Unternehmen, erfülle dennoch einen Zweck, sagt Barmettler: «Es ist wichtig, dass sich auch Unternehmen darum bemühen, nachhaltige Standards durchzusetzen.» Dafür arbeite Ikea mit lokalen NGOs zusammen.

Die Stadt kann nur den Anstoss machen

Auch die Kreislaufwirtschaft sei ein wichtiges Element für das Netto-Null-Ziel, hält die Moderatorin fest. Dafür müssten Konsumgüter jedoch anders hergestellt werden, damit ihre Bestandteile im Sinne einer Kreislaufwirtschaft wieder aufgetrennt werden könnten, sagt Gessler: «Die grossen Emissionen verursachen wir durch den Konsum neuwertiger Güter. Die Lösung dafür liegt in der Wiederverwendung von Waren.»

Dies wäre auch im Sinne einer Kreislaufwirtschaft: «Indem wir mehr Güter teilen und länger benutzen, können wir unseren CO2-Fussabdruck erheblich verringern.» Für Unternehmen wie Ikea sei ein solches Umdenken mit Herausforderungen verbunden. «Wir müssen uns dafür vom Gedanken lösen, Dinge immer nur zu verkaufen», sagt Barmettler. Dies biete die Chance, neue Wege zu gehen. So könnten Möbel in Zukunft vermietet statt verkauft werden: «Einen Kühlschrank will ich nicht besitzen, sondern die Möglichkeit eine Kühlfläche zu nutzen. Dasselbe gilt auch für viele Möbel.»

Wir haben 40 Jahre lang auf Eigenverantwortung gesetzt und sehen jetzt, wo es uns hingebracht hat.

Anja Gada, Klimastreik

«In einer Kreislaufwirtschaft gehen auch Energie und Ressourcen verloren», hält Gada fest. Die Lösung bleibe deshalb ein verringerter Konsum, findet die Klima-Aktivistin. Obwohl die Unternehmen für diese Entwicklung verantwortlich wären, würden die meisten diesen Trend aus Profitgründen nicht unterstützen. Die Stadt könne den Anstoss machen, um eine Kreislaufwirtschaft zu fördern, sagt Gessler.

Die Möglichkeiten der Stadt seien aber auch hier beschränkt: «Wir können Unternehmen mit einem nachhaltigen Konzept fördern, aber nicht das ganze Wirtschaftssystem verändern.» Ein Verbot von kommerzieller Werbung auf öffentlichem Grund sei jedoch eine Möglichkeit, die Wirtschaft zu steuern, findet Gada.

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Klimaschutz bringe nicht nur neue Verbote mit sich, sondern auch neue Chancen, betont Anja Gada.

Nachhaltiger Konsum muss gerecht sein

«Diejenigen, die etwas zu verlieren haben, wehren sich am stärksten», findet Barmettler. Damit spricht sie auf die Erdölindustrie an, die politische Vorstösse durch Lobbyarbeit untergrabe. «Andere Firmen müssen deshalb versuchen schlauer zu sein, indem sie nachhaltigen Konsum so günstig und einfach wie möglich anbieten.»

«Dann müsste Ikea in ihren Filialen die gebrauchten Möbel zuvorderst aufstellen, um das zu ermöglichen», stellt Gessler fest. Die Massnahmen für nachhaltigeren Konsum müssten auch sozial gerecht sein, ergänzt Gada. «Wir dürfen uns dafür nicht nur auf die Stadtbewohner:innen konzentrieren. Leute, die sich eine Stadtwohnung nicht leisten können und deshalb mit dem Auto pendeln, leiden nur unter höheren Benzinpreisen», nennt Gada als Beispiel.

Die Politik müsste sich deshalb genau überlegen, welche Güter sie wie hoch besteuert, sagt Gessler: «Wir müssten schon bei den Rohstoffen beginnen, beispielsweise mit einer höheren Steuer für Aluminium.»

Es ist unsere grösste Aufgabe als Firma, nachhaltigen Konsum möglichst einfach zu machen.

Franziska Barmettler, Leiterin Nachhaltigkeit Ikea

Gerade eine grosse Firma könnte viel erreichen mit effizienzsteigernden Massnahmen, sagt Barmettler. Dies sei auch lukrativ, da fossile Energieträger mittlerweile teurer für Ikea wären: «Die Frage ist, ob uns als Grossunternehmen eine gute Absicht hinter unserem Vorgehen zugetraut wird.» Der grosse Einfluss, den Unternehmen wie Ikea haben, bereitet Gada sorgen: «Als kapitalistisches Unternehmen in solch einer Grössenordnung ist Ikea sehr schwierig zu durchschauen.»

Letztendlich hänge ein Systemwandel auch von dem Willen der Konsument:innen ab, hält Ingold fest. «Es ist unsere grösste Aufgabe als Firma, nachhaltigen Konsum möglichst einfach zu machen», sagt Barmettler dazu.

Die Bevölkerung könne Veränderungen nicht allein herbeiführen, sagt Gada. «Wir haben 40 Jahre lang auf Eigenverantwortung gesetzt und sehen jetzt, wo es uns hingebracht hat», fasst die Klima-Aktivistin zusammen. Das Narrativ hinter dem Klimaschutz müsse dafür neu gedacht werden, findet sie: «Die Leute denken schnell, dass es bei Klimaschutz nur um Verzicht und Verbote geht, dabei bieten sich uns auch neue Chancen.»

Klimaschutz müsse deshalb erlebbar sein, sagt Gessler und macht dafür ein Beispiel: «Dank nachhaltigem Konsum muss ich nicht mehr so viele Dinge in eine neue Wohnung zügeln und bleibe fit, weil ich nicht mehr alles mit dem Auto erledige.» Auch mit Werbeaktionen und Kampagnen könne dieses Bild besser transportiert werden.

«Haben wir genug Zeit, um so zaghaft und mit netten Kampagnen das Netto-Null-Ziel zu verfolgen?», lautet eine Frage aus dem Publikum. Solche Kampagnen wären ein Element von vielen Massnahmen, antwortet Gessler. «Viele Menschen schätzen das niederschwellige Informationsangebot sehr. Für das Energiegesetz hat sich wiederum der gesamte Stadtrat eingesetzt und für ein Ja ausgesprochen, weil der Stadt das Anliegen überaus wichtig ist.»

Damit geht die Podiumsdiskussion zum Thema «Netto-Null vs. Konsumgesellschaft» zu Ende. Die ganze Diskussion kann man sich hier als Video anschauen. Der Fokusmonat ist jedoch noch lange nicht vorbei. Am 28. November geht es mit dem Dokumentarfilm «Youth Unstoppable» im Kosmos weiter.

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