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Von Benjamin von Wyl

Journalist

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6. November 2017 um 08:20

Morgen ist die erste Versammlung nach der Revolution!

Was machen eine Alt-Nationalrätin, ein Kantonsrat, ehemalige und jetzige GSOA-Sekretärinnen und weitere Polit-Menschen mit einem Haufen Theaterschaffenden im Toni-Areal? Richtig, sie proben die erste Vollversammlung nach der Revolution 2017, die zum 100-Jahr-Jubiläum der Russischen Oktoberrevolution im Zürcher Volkshaus stattfindet.

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Sarah Verny und Nikolai Prawdzic – das Leitungsteam dieser Revolution – haben Tsüri erklärt, wie nach der Schweizer Revolution über die neue Gesellschaft diskutiert werden soll und wie man sie mitprägen kann.

Eure Revolution wird von einer Gruppe namens «Shift» angeführt – das tönt eher nach einer Kunstausstellung als nach einer Revolution. Wieso ist Revolution 2017 so kunstig?
Nikolai: Die letzte bahnbrechende politische Bewegung wurde vom Begriff «Change» angeführt. Der kam mit Obama dann leider nicht. Die Utopien sind tot. Die Mehrheit der Menschen kann sich eher den Weltuntergang vorstellen als das Ende des Kapitalismus. Shift knüpft dort an, wo Obama versagt hat: Bei der Formulierung einer echten Alternative.

«Change» war Politik. Weshalb macht ihr jetzt ein Theaterprojekt?
Sarah: Der Fokus liegt auf einem politischen Experiment und das ist so aufgebaut: Die Schweizer Bevölkerung möchte unseren Shift. Sie hat verstanden, dass Kapitalismus und Demokratie zwei unvereinbare Gegensätze sind und wollen eine radikale Demokratie, die auch die Wirtschaft mit einschliesst.

Nikolai: Unser Preenactment setzt in der Konjunktiv-Situation an, in der ein Grossteil der Menschen Alternativen will. Die Frage lautet: Was tun, jetzt, wo das Machbare möglich ist?

Sarah: Sich alleine mal den Fragen ernsthaft zu stellen, ändert die Perspektive völlig: Was ist meine Utopie von einem Leben in der Schweiz? Gibt es dort Gefängnisse? Ist das Essen gratis? Wie arbeitet man? Arbeite ich dann? Und für was?

Die Russische Revolution vor hundert Jahren war ein Putsch, keine Revolution. Ihr denkt den Putsch weg, aber umschifft trotzdem die Hauptherausforderung von Demokratie: Die Überzeugungsarbeit. Bei euch ist bereits die Mehrheit der Bevölkerung für die Revolution.

Nikolai: Du hast recht. Aber wir umschiffen die Hauptherausforderung, weil sie uns die Sicht auf die Alternativen nimmt. Das Setting ermöglicht uns, das Undenkbare zu denken. Die Basis für diesen Erlebnis- und Denkraum ist eine Recherche, in deren Rahmen wir 20 Aktivist*innen, Leute aus der autonomen Szene, Nationalrät*innen, Politiker*innen und Wissenschaftler*innen befragt haben, was hätte passieren müssen, damit es 2017 zur Revolution kommt. Daraus entstand ein Setting, in dem auch Pazifist*innen Platz haben.

Habt ihr auch Rechte befragt?

Nikolai: Nein. Wir haben nur die Leute befragt, die eine Alternative wollen. Uns hat nur die Frage nach der Alternative interessiert.

Aber es gibt ja rechte Utopien...

Nikolai: Das sind keine Utopien.

Sarah: Den Linken wird von den Rechten vorgeworfen, dass sie primär anti sind, aber keine eigenen Ideen liefern. Wir wollen linke Alternativen entwickeln.

Nikolai: Es gibt so viele Alternativvorschläge! Aber die Vorschläge fruchten nicht oder sind bloss einem kleinen Teil der Bevölkerung bekannt. 100 Jahre nach dem Beginn der grössten, brachial gescheiterten Alternative müssen wir die Frage nach der Alternative neu stellen, denn ohne Shift wird es keine Zukunft geben.

Es wird viel demonstriert und protestiert. Dieser Widerstand wird von den Regierungen ignoriert.

Sarah

Welche Politiker*innen spielen im Preenactement Schweizer Revolution mit?
Sarah: Die ehemalige grüne Nationalrätin Aline Trede, SP-Kantonsrat Fabian Molina, aber auch weniger Prominente.

Was hat den revolutionären Geist in der Schweizer Bevölkerung geweckt?
Sarah: Wir setzen in unserer Fiktion vor zwei Jahren an. Die internationalen Abkommen wie TTIP haben in der Fiktion sehr viel mehr Wut ausgelöst als in der Realität. Es wird viel demonstriert und protestiert. Dieser Widerstand wird von den Regierungen ignoriert – das entspricht auch der Realität, aber bei uns ist daraus eine leidenschaftliche Empörung entstanden.

Nikolai: Dabei entsteht das Bewusstsein, dass die Macht nicht bei der Bevölkerung sondern bei den Konzernen liegt, dass die eine politische Wahl ähnlich wie die zwischen Pepsi und Cola ist. Die Wahl ändert nichts mehr.

Wer begeistert sich in eurer Realfiktion für die Gruppe Shift?
Nikolai: Shift schafft es, die Leute mit ihrer Utopie einer radikaldemokratischen Gesellschaft, die den technologischen Fortschritt nicht als Gefahr, sondern als Chance für ein besseres Leben sieht, zu catchen. Wir glauben, in einer Welt, in der man gegenüber Konzernen Kontrollverlust erlebt, kann uns nur eine radikale Demokratisierung der Wirtschaft die Kontrolle über unser Leben zurückgeben.

Also wie ... Operation Libero?
Sarah: Ähm.

Nikolai: Es geht um ein neues Verständnis von Demokratie. Operation Liberos Verständnis von Demokratie macht vor den Toren der Wirtschaft Halt.

Sarah: Vielleicht ist Shift ähnlich zusammengesetzt wie eine Operation Libero. Viele Junge sind dabei. Die Arbeitslosigkeit liegt in unserer Fiktion bei 20 Prozent.

20 Prozent Arbeitslosigkeit in der Schweiz?
Nikolai: Wir knüpfen an eine Studie von zwei Oxford-Professoren an, die besagt, dass in den nächsten 20 Jahren jeder zweite Arbeitsplatz verschwindet – als Folge des technologischen Fortschritts. Aufgrund dieser explodierenden Arbeitslosigkeit und der zunehmenden Machtkonzentration in den Händen der Konzerne findet in der Fiktion eine Diskursverschiebung statt. CVPler, Arbeiter*innen, die momentan SVP wählen, stehen für Shift ein. Auch echte Liberale!

Mit Theater kann man in der Fiktion reale Momente schaffen, die Spuren hinterlassen.

Nikolai

Das tönt nach dem Wunschtraum von Operation Libero.
Nikolai: Unsere Schweizer Revolution knüpft an den Idealen der Bundesstaatsgründung von 1848 an. Macht und Privilegien wurde der Kampf angesagt. Shift greift das auf, zieht aber die Lehren aus der Geschichte: Wenn die Wirtschaft nicht auch demokratisiert wird, können wir das Ideal von 1848 nie erreichen.

Sarah, du bist Theaterpädagogin. Mit wem arbeitest du sonst so?
Sarah: Mit Jugendlichen und Erwachsenen.

Wie ist es mit Politiker*innen zu arbeiten?
Sarah: Megaspannend! Hab ich tatsächlich noch nie gemacht. Sie sind sehr gut darin, vor einem Publikum aufzutreten. Sie können frei reden, haben ein gutes Pokerface und denken extrem schnell. Sie können eigentlich auf alles reagieren, improvisieren daher sehr gut. Zumindest Fabian Molina und Aline Trede – ich kann nicht beurteilen, inwiefern die beiden exemplarisch für alle Politiker*innen stehen.

Haben sie auch Schwächen?
Sarah: Innerhalb von unserem Setting sind sie super einsetzbar. Wie es jetzt wäre, mit Aline und Fabian ein Stück zu sexuellen Hemmungen zu machen, kann ich dir nicht sagen. Bei uns geht es um's Diskussionsverhalten.

Kannst du nach dieser Arbeit einfach wieder zurück ins Theater?
Sarah: Als Theaterpädagogin nehme ich sowieso immer gesellschaftspolitische Aktivitäten zum Anlass, aber neu versuche ich diese Arbeit mit konkretem, politischen Aktivismus zu verbinden.

Was ist mit all den Menschen, die keine Theatervorstellungen besuchen? Ich provozier’ euch nur darum dauernd mit Operation Libero, da Libero auch eine Elitenbewegung ist.
Nikolai: Die theatralen Möglichkeiten sind ein Tool. Ich seh das Potenzial von Theater, alternative Realitäten zu schaffen. Dort wo es Breitenwirkung hat, nicht nur in einer Blackbox im Schauspielhaus. Mit Theater kann man in der Fiktion reale Momente schaffen, die Spuren hinterlassen.

Sarah: Es stimmt natürlich, dass Theater nicht alle Menschen anspricht. Genauso bin ich aber überzeugt, dass sich Leute von Theater angesprochen fühlen, die sich von Politik nicht angesprochen fühlen.

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Sarah und Nikolai

Also habt ihr die kunstige Schriftart gewählt, weil ihr das Toni-Areal politisieren wollt?
Sarah: Vielleicht auch. Also ich kann ja nur von mir ausgehen. Ich bezeichne mich als politischen Menschen, aber tatsächlich engagiere ich mich viel zu wenig. Eine JUSO oder SP vertritt eben nicht meine Sprache. Wie kann ich ein Thema, das mich bewegt, in eine Form bringen, die mich bewegt und damit Menschen mitbewegen. Menschen, die sagen: Ich weiss, so ein SP-Positionspapier ist wichtig und weiss auch, dass interessante Dinge drinstehen. Aber es ist in einer Sprache geschrieben, die mir einfach ablöscht. Und ich weiss, dass so eine Parteiversammlung eigentlich interessant wäre, aber hey: Diä Lüüt chönd eifach nöd ufträte! Die Stimmbeteiligung ist so frappant tief – allgemein, aber vor allem in unserer Generation und der darunter. Das liegt zu grossen Teilen daran, dass NIEMAND DIESE POSITIONSPAPIERE VERSTEHT, oder Lust hat, sie zu lesen.

Nikolai, du hast eingangs gesagt, dass sich die meisten Leute eher den Weltuntergang vorstellen können als positive Veränderung. Was sichert ab, dass sich an eurem Abend nicht alle zerstreiten?
Nikolai: Nichts!

Erwartet ihr, dass aus dem Abend eine konstruktive Vision hervorgeht?
Sarah: Wir hoffen es. Wir lassen in dieser Versuchsanordnung die Leute mit ihren Positionen – Liberale, Sozialdemokrat*innen, revolutionäre Marxist*innen, Anarchist*innen – aufeinanderprallen. Was dann passiert, wissen wir nicht. Der Abend handelt von radikaler Demokratie, entsprechend darf das Publikum mitreden.

Das Preenactment der Schweizer Revolution findet morgen, 7. November, um 19 Uhr im Volkshaus Zürich statt. Der Eintritt ist frei; die Platzzahl auf 200 begrenzt. Es gibt aber auch ein Public Viewing im Volkshaus und die Veranstaltung wird gestreamt. Für weitere Informationen: www.shift-democracy.ch

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