Merita Shabani gibt der multikulturellen Schweiz ein Gesicht - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Sie gibt der multikulturellen Schweiz ein Gesicht

Als stellvertretende Chefredaktorin des Onlinemagazins «baba news» spricht Merita Shabani für eine Generation von multikulturellen Schweizer:innen. Dabei wird sie selbst zu dem Vorbild, das ihr als Jugendliche gefehlt hat.

Sie hat viel zu sagen, und sie wird gehört: Merita Shabani vor der Kamera. (Fotos: Marion Bernet)

Manche behaupten, Zürich höre beim Milchbuck auf. Dass das nicht stimmt, wissen wir längst. Doch um deinen Horizont über die Stadtgrenzen noch ein bisschen mehr zu erweitern, wählen wir für dich jeden Sonntag eine Perle von unseren verlangsunabhängigen We.Publish-Partnermedien aus.

Dieser Text ist bereits auf unserem Partnerportal Hauptstadt erschienen. Das Onlinemagazin Hauptstadt gehört wie Tsüri.ch zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz und informiert seit Anfang 2022 Berner:innen und Nicht-Berner:innen über die Geschehnisse in der Schweizer Hauptstadt.

«Ich liebe meinen Job», sagt Merita Shabani, während sie ihre Jacke auszieht, noch bevor sie sich zu unserem ersten Treffen in einem Berner Café hingesetzt hat. Die Branche sei zwar unsicher und die Arbeit vielen Planänderungen unterworfen, aber ihr entspreche das. Schon in der Oberstufe habe sie ein ganzes Magazin über den Fussballer Hakan Yakin gestaltet. Doch: «Ich konnte mir als Jugendliche nicht vorstellen, Journalistin zu werden. Nicht mit meinem Namen.»

Nun ist Merita Shabani sogar stellvertretende Chefredaktorin. Wenn sie in einem Video für «baba news» erzählt, wie sie als Kind albanischstämmiger Eltern ihre Sommerferien «dune» in Nordmazedonien verbrachte, sehen ihr bis zu 30’000 Menschen dabei zu. So viele Follower:innen hat das Onlinemagazin auf Social Media.

Merita Shabani kam als Achtjährige aus Normazedonien in die Schweiz. Nach dem Übertritt in die Sekundarschulklasse in Muri-Gümligen war sie neben einem Jungen aus England das einzige Ausländer:innenkind in der Klasse.

«Doch England zählt irgendwie nicht, oder?», sagt sie nun und lacht. Es ist das breite Lachen, mit dem sie auch in ihren Videos oft einen Satz beendet. Das Lachen, mit dem sie ernsten Themen die Schwere nimmt – so dass das Zuhören leicht fällt.  

Die Suche

Als Jugendliche fand Merita Shabani in der Schweiz kaum Vorbilder mit albanischen Namen und einer der ihren ähnlichen Biografie. Gerade im Journalismus und in Lehrberufen hätte sie sich die Repräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte gewünscht, erinnert sich die heute 31-Jährige. Sie machte einen Abschluss an der Wirtschaftsmittelschule Bern. Daneben spielte sie Fussball bei den Juniorinnen der Femina Kickers Worb, arbeitete an der Coop-Kasse und im Service. Nach der Ausbildung fand sie eine Stelle beim Staatssekretariat für Migration (SEM), engagierte sich ehrenamtlich in diversen Vereinen und begann berufsbegleitend ein Wirtschaftsstudium.

«In der Schweiz herrscht die Meinung, dass man alles schaffen kann, wenn man nur will, doch das ist nicht der Fall.»

Merita Shabani, stellvertretende Chefredaktorin «baba news»

«Ich dachte, wenn ich wirklich etwas in dieser Welt verändern will, muss ich verstehen, wie Geld funktioniert», sagt Shabani. Doch bis zum Abschluss gelangte sie nicht: «Ich bin an der Mathematikprüfung gescheitert.» Den Traumberuf, durch den sie etwas bewirken kann, fand sie trotzdem – über Umwege.

Das Treffen

Im Juni 2018 hört Merita Shabani von einem Freund, dass «baba news»-Gründerin Albina Muhtari Protagonist:innen für ein Video zum Fastenmonat Ramadan sucht. Merita Shabani ist Muslima und hat sich schon oft über Berichte zum Ramadan geärgert: «Medien stellen es als emanzipiert dar, wenn man keinen Ramadan macht, oder sie ziehen das Fasten ins Lächerliche.» Von «baba news» erhofft sich Merita Shabani eine differenziertere Darstellung. Sie trifft sich mit Albina Muhtari, die die Videos du dieser Zeit noch in ihrem Wohnzimmer dreht. Sie unterhalten sich bis in die Nacht hinein – der Dreh muss warten.

Am Tag darauf klappt es: In ihrem ersten Video für «baba news» erzählt Merita Shabani, dass sie den Ramadan jeweils als eine Zeit erlebt, in der sie ihr Verhalten besonders reflektiert. Und dass der Verzicht auf Kaffee für sie das Schwierigste ist, nebst den vielen Fragen, die ihr jedes Jahr wieder zum Fasten gestellt werden. «Baba news» publiziert das Video genau so, wie sie es abgesegnet hat. «Das hat mir so viel Vertrauen gegeben, mir gezeigt, dass es nicht um Klicks geht, sondern darum, die Perspektive von Menschen mit Migrationsgeschichte zu zeigen.»

Der Schritt ins Ungewisse

Viereinhalb Jahre später: Für unser zweites Treffen empfängt mich Merita Shabani im «baba news»-Büro am Zentweg. Über einem Getränkefachmarkt in einem umgenutzten Industriekomplex an der Grenze zu Ostermundigen liegt der Büroraum, der als Ton- und Videostudio, Arbeits- und Sitzungszimmer dient. Sie trägt Leggins und Finken und bittet, vor dem Büro die Schuhe auszuziehen. «Wir haben den Boden selbst gelegt und möchten ihn wie zu Hause pflegen.»

Merita Shabani arbeitet viel und lange. Ein Sofa im Büro sorgt für ein bisschen Wohnzimmergefühl.

Das Wohnzimmergefühl ist noch dasselbe, doch sonst ist alles anders. Chefredaktorin Albina Muhtari und Merita Shabani sind heute Freundinnen, Geschäftspartnerinnen und verantwortlich für ein Medienunternehmen mit zwei Angestellten, Praktikant:innen und freien Mitarbeiter:innen. «Es ist genau das, was ich machen wollte», sagt Merita Shabani. Nach dem Ramadan-Video folgen weitere, sie übernimmt immer mehr Aufgaben bei «baba news», lernt schneiden und Interviews führen – alles ehrenamtlich. Um mehr Zeit für die journalistische Arbeit zu haben, reduziert sie ihr Pensum beim SEM auf 80 Prozent. 

Humorvolle Kritikerin

Im Sommer 2021 reicht das Budget von «baba news» erstmals, um bescheidene Löhne zu zahlen. Merita Shabani kündigt ihren, wie sie selbst sagt, «gut bezahlten Job beim Staat» und stürzt sich in die unsichere Zukunft als stellvertretende Chefredaktorin bei einem Onlinemagazin, das von Jahr zu Jahr für seine Finanzierung kämpfen muss.

In ihren Videos bringt Merita Shabani nicht nur Migrationsthemen auf den Tisch. Anlässlich des Vatertags zieht sie mit Mikrofon und Kamera durch Berns Gassen, stellt Männern Fragen, die sonst oft Frauen hören: Wie hoch ihr Arbeitspensum sei; ob sie ihre Karriere über ihre Kinder stellen; ob ihr:e Partner:in sie bei Haushalt und Kindererziehung unterstütze. Die Väter reagieren irritiert bis beleidigt. Das hält Shabani jedoch nicht davon ab, freundlich, aber unbeirrt weiter ihre Fragen zu stellen und die Antworten auch mal mit einem Lachen zu quittieren. 

Es ist diese Mischung aus Humor, Beharrlichkeit und schonungsloser Offenheit, die Merita Shabani auszeichnet. Als Gast bei einer Podiumsdiskussion zu den Einbürgerungsvoraussetzungen im Kanton Bern kritisiert sie das langwierige, teure und von ihr als demütigend empfundene Prozedere, das sie durchlaufen musste, um Schweizerin zu werden. Sie plädiert dafür, das Verfahren zu erleichtern. «Es ist extrem problematisch, wenn Menschen jahrzehntelang hier leben, Steuern bezahlen und trotzdem nicht mündige, gleichberechtigte Bürger:innen sein dürfen.»

Der Faktor Herkunft

Gleichberechtigung und Chancengleichheit, unabhängig von Herkunft oder Geschlecht, dafür setzt sich Merita Shabani ein. Es sind Werte, die auch die «baba news»-Community beschäftigen, besonders wenn es um die Bildungschancen von Kindern mit ausländischen Wurzeln geht. «Wenn wir in einem Video das Thema Schule aufgreifen, schnellt die Zahl der Rückmeldungen in die Höhe.» Da sei sehr viel Frust vorhanden, das Gefühl, nicht gesehen zu werden.

«In der Schweiz herrscht die Meinung, dass man alles schaffen kann, wenn man nur will», sagt sie, «doch das ist nicht der Fall». Die Herkunft entscheide massgeblich über den Bildungserfolg. «Wie Kinder von Lehrer:innen behandelt und beurteilt werden, hängt auch davon ab, wie gut sich die Eltern auf Deutsch ausdrücken können.» Und als müsste sie diese Aussagen belegen, zitiert Merita Shabani eine Studie zum Schweizer Bildungssystem. Diese kommt unter anderem zum Schluss, dass Lehrpersonen von vornherein von Migrantenkindern schwächere Leistungen erwarten als von deren Schweizer Mitschüler:innen. Dies führt dazu, dass Erstere bei vergleichbarer Leistung signifikant schlechter eingeschätzt werden als Kinder ohne Migrationshintergrund.

Unermüdliche Aufklärerin

Um dieser Ungerechtigkeit etwas entgegenzusetzen, haben Merita Shabani und Albina Muhtari vor anderthalb Jahren zusätzlich die «baba academy» gegründet. In Workshops leiten sie Lehrpersonen an, eigene unbewusste Vorurteile zu entdecken. Sie erklären, warum auch gut gemeinte Äusserungen diskriminierend sein können – etwa die Frage nach der Herkunft. «Sie impliziert, dass die befragte Person anders ist», sagt Merita Shabani. Zudem sei die Antwort eine recht intime Information, die man nicht jeder und jedem  preisgeben möge. 

Erst wurden sie Freundinnen, dann Geschäftspartnerinnen: Merita Shabani (links) mit Albina Muhtari, Gründerin und Chefredaktorin von «baba news».

Wieder und wieder über Diskriminierung aufzuklären, dabei die persönliche Geschichte zu erzählen und auch heikle Themen anzusprechen, kann ermüdend sein. Merita Shabani tut es trotzdem. In ihren Videos schildert sie Kommentare ihrer Verwandten zu ihrem Singledasein oder ihrem Körper. Sie äussert ihr Entsetzen über die Vergewaltigung eines 11-jährigen Mädchens im Kosovo und über eine Gesellschaft, die die Verantwortung immer zuerst bei den Frauen sucht.

«Ich enttabuisiere gewisse Themen, das ist essenziell fürs Zusammenleben.» Als Frau, die abwechslungsweise Schweizer:innen und Albaner:innen meint, wenn sie «wir» sagt, kann Merita Shabani Missstände benennen, ohne die eine Ethnie gegen die andere auszuspielen – und gleichzeitig das Vorbild sein, das ihr selbst als Jugendliche gefehlt hat. 

Am 6. Mai 2023 veranstaltet die «baba academy» in Bern die Tagung «Frühjahrsputz in der Schule – räumen wir mit Vorurteilen auf». Die Themen: Rassismus und Vorurteile in der Schule und Lösungsansätze für mehr Chancengleichheit.

Über «baba news»

«Baba news» ist ein Onlinemagazin, das Menschen mit Migrationsgeschichte eine Plattform bieten will. In Videos, die auf Webseite und Social Media publiziert werden, erzählen meist junge Frauen und Männer, was sie bewegt, wie sie Vorurteilen begegnen und wie sie in der Schweiz ihre multikulturelle Identität leben. Zudem bietet «baba news» Workshops an, in denen Lehrpersonen unbewusste Vorurteile aufgezeigt und Schüler:innen für die Auswirkungen von Hassrede sensibilisiert werden. Finanziert wird «baba news» über Stiftungen, Beiträge vom Bund, Einnahmen aus den Workshops und jährliche Mitgliederbeiträge von Unterstützer:innen. 

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