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Von Jessica Sigerist

Gründerin untamed.love

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30. Oktober 2021 um 06:00

Meine monogame Freundin ist schwanger

Als unsere Kolumnistin Jessica Sigerist schwanger war, musste sie aufgrund ihrer offenen Beziehung einige indiskrete Fragen über sich ergehen lassen. Heute stellt sie sich vor, wie es wäre, wenn sie auf die gleiche Art mit Menschen reden würde, die in monogamen Beziehungen schwanger sind.

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Illustration: Artemisia Astolfi

Kürzlich habe ich meine monogame Freundin wieder getroffen, die ihr bereits von Teil 1 kennt. Sie war mit ihrem Partner unterwegs. Ja, richtig gelesen. Ihrem Partner. In Einzahl. Klingt ganz schön komisch, ist aber so: Sie hat wirklich nur den einen.

Die beiden kommen mir freudestrahlend entgegen. Sie haben Neuigkeiten: «Wir erwarten ein Baby!», verkünden sie mir stolz. Ich muss erstmal leer schlucken und kann meinen ersten Schock nicht verbergen: «Ein Baby? Ihr? In eurer Situation?», platzt es aus mir heraus, «Das war bestimmt ein Unfall!?»

Nein, nein, versichern sie mir schnell, das Baby sei geplant gewesen, ein absolutes Wunschkind. «Ach so», seufze ich erleichtert, «dann bedeutet das, ihr hört jetzt auf damit? Mit der monogamen Beziehung?». Die beiden tauschen Blicke aus und meinen dann zögerlich, nein, sie hätten schon vor, auch mit Kind weiterhin monogam zu leben.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Wie sie sich das denn vorstellen, frage ich. «Ein Kind grossziehen in einer Zweierkiste? Ohne andere Partner:innen, die als Babysitter einspringen können? Ohne Wahlgrosseltern, ohne Metamours und ohne queere Community? Ohne Mitbewohnende, ohne Co-Parents und ohne Tonkels? Nur Mutter, Vater, Kind in einem Kleinfamilienhaushalt?

Das ist doch kein Umfeld für ein Kind! Das berühmte senegalesische Sprichwort sagt schliesslich ‘Es braucht ein Dorf’ und nicht ‘Es braucht ein Einfamilienhaus mit Zaun drum herum’.»

Die beiden schauen betreten zu Boden und sagen nichts. Ich gerate erst richtig in Fahrt: «Natürlich ist das Ganze ja auch nicht. Da genügt ein Blick in die Tierwelt. Tiere ziehen ihre Jungen in Herden auf, in Schwärmen, Rudel, Kolonien,...» – «Stimmt schon», unterbricht mich meine Freundin, «aber die Pinguine zum Beispiel...» – «Ja, wisst ihr denn überhaupt wer der Vater ist!?», rufe ich dazwischen, um von den Tieren wegzukommen.

Das Kind muss ja nicht mitbekommen, dass ihr hetero und monogam lebt.

Jessica Sigerist

Der monogame Partner meiner monogamen Freundin wird rot und räuspert sich hörbar. «Ja, also er. Er ist der Vater! Ganz sicher», sagt meine monogame Freundin schnell, um das unangenehme Schweigen zu durchbrechen. Ich muss zugeben, dass meine Frage vielleicht etwas indiskret war.

Aber bei diesen Monogamen weiss man halt nie. Bei uns offenen und poly Lebenden, wo alles immer offen ausdiskutiert wird, können ja keine Missverständnisse über etwaige Vaterschaften aufkommen. Aber bei diesen Monos!

Das weiss ja jedes Kind, dass heimlich fremdgehen bei denen quasi zur Kulturpraxis gehört. Da kann man sich ja nie ganz sicher sein, wer nun wirklich der Vater ist. Man wird ja wohl noch fragen dürfen.

«Ich unterstütze euch und euren Lebensentwurf ja», sage ich beschwichtigend, «ich finde es einfach wichtig, dass ihr dem Kind euren Lebensstil nicht aufdrängt. Was ihr im Schlafzimmer macht ist schliesslich eure Privatsache.

Ich denke bloss an das Kindeswohl

Das Kind muss ja nicht mitbekommen, dass ihr hetero und monogam lebt. Das könnte das Kind in seiner eigenen Sexualität nur verwirren.» Die beiden sind jetzt sichtlich verunsichert. «Ich denke wir werden ganz gute Eltern sein», murmelt meine monogame Freundin, «das hat doch nichts mit der sexuellen Orientierung oder der Beziehungsform zu tun, oder?» – «Jaaaa, klar», erwidere ich augenrollend.

Nicht dass ich am Schluss noch als intolerant hingestellt werde. «Ich finde diese speziellen Beziehungsformen ja super. Ich denke bloss an das Kindeswohl. Ihr solltet es vielleicht einfach nicht so an die grosse Glocke hängen, wie ihr lebt. Das arme Kind könnte später in der Schule deswegen gemobbt werden».

Ich verabschiede mich mit dem Verprechen, dass sie mich jederzeit als Babysitterin anfragen können. Insgeheim hoffe ich natürlich, dass ich in meinem queeren poly Kollektivhaushalt dem Kind auch ein Stück weit Normalität vorleben kann.

Später auf dem Nachhauseweg bin ich versöhnlich eingestellt. Ich überlege mir, was ich dem Kind wohl schenken soll. Vielleicht ein Kinderbuch, in dem eine monogame Kleinfamilie vorkommt. Damit das Kind Vorbilder hat und sich nicht so alleine fühlt. Eine Geschichte mit einem Vater, einer Mutter, einem Kind. Wird ganz schön schwierig, so etwas zu finden.

Kolumnistin Jessica Sigerist
Jessica Sigerist ist Zürich geboren und aufgewachsen. Sie wusste schon früh, woher die Babys kommen. In ihrer Jugend sammelte sie schöne Notizbücher, alte Kinokarten und Zungenküsse. Sie studierte Ethnologie (halbmotiviert) und das Nachtleben Zürichs (intensiv). Nach vielen Jahren in der Sozialen Arbeit hatte sie die Nase voll, nicht vom Sozialen, aber von der Arbeit. Sie packte wenig Dinge und viel Liebe in einen alten Fiat Panda und reiste kreuz und quer durch die Welt. Sie ritt auf einem Yak über das Pamirgebirge, überquerte das kaspische Meer in einem Kargoschiff und blieb im Dschungel von Sierra Leone im Schlamm stecken.

Auf ihren Reisen von Zürich nach Vladivostock, von Tokio nach Isla de Mujeres, von Tanger nach Kapstadt lernte sie, dass alle Menschen eigentlich dasselbe wollen und dass die Welt den Mutigen gehört. Wieder zurück beschloss sie, selbst mutig zu sein und gründete den ersten queer-feministischen Sexshop der Schweiz. Seither beglückt sie Menschen mit Sex Toys und macht lustige Internetvideos zu Analsex, Gleitmittel und Masturbation. Jessica liebt genderneutrale Sex Toys, Sonne auf nackter Haut und die Verbindung von Politik und Sexualität. Sie ist queer und glaubt, dass Liebe grösser wird, wenn man sie teilt. Mit ihrem Partner und ihrem Kind lebt sie in Zürich.
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