Meine 7 Erkenntnisse nach einem Monat «Sucht» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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30. November 2018 um 11:37

Aktualisiert 26.01.2022

Meine 7 Erkenntnisse nach einem Monat «Sucht»

Während einem Monat hat Tsüri.ch sich gemeinsam mit euch mit dem Thema Sucht auseinandergesetzt. Projektleiter Simon Jacoby hat dabei einiges gelernt.

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Wir haben diskutiert, sind spaziert, haben unsere eigenen Süchte getestet. Es war ein spannender und intensiver November. An den Events und in den Gesprächen mit euch und mit den Expert*innen wurde mir vieles klar. Eins vorneweg: Sucht ist ein sehr feines und sensibles Thema. Die Moral steht uns oftmals im Weg, um anständig darüber zu sprechen.

1. Nicht problematisieren

Jeden Abend einen Joint? Täglich ein Feierabendbier? Das halbe Leben findet in Games statt? Wöchentlich eine Line Koks oder eine Liebespille? Das klingt nach einem problematischen Umgang. Im Gespräch mit vielen sehr unterschiedlichen Sucht-Expert*innen habe ich eines ganz besonders mitgenommen: Nur weil ein Verhalten oder ein Konsum-Muster auf eine Sucht hindeutet, heisst das noch lange nicht, dass ein Problem besteht. Einige Menschen, auch in meinem nahen Umfeld, neigen zu moralischen Urteilen. Während der eine Joint am Abend verteufelt wird, ist es voll okay, bis zum Erbrechen Sport zu treiben. Es wird mit zwei Ellen gemessen. Ein Problem besteht dann, wenn jemand negative psychische und/oder körperliche Konsequenzen erfährt. Insofern kann der tägliche Joint oder die wöchentliche Portion Koks ein Problem darstellen, muss aber nicht. Schluss mit dem Moralisieren!

2. Die Grenze zwischen Sucht und Genuss ist unscharf

Auf Punkt 1 ergibt sich eine Frage: Wo hört der Genuss auf und wo beginnt die Sucht? Die Antwort ist einfach: Keine Ahnung. Es gibt keine rote Linie, die das Schöne vom Bösen trennt. Das exzessive Treiben von Sport kann ein Genuss sein und glücklich machen – es kann aber auch zum Zwang werden, wo jegliche Freiheit fern ist. Genauso beim Essen, beim Nicht-Essen, beim Shoppen, beim Sex, beim Arbeiten, beim Trinken, beim Kiffen, beim Koksen, beim Pillen-Spicken. Das genau gleiche Muster kann bei jemandem bedeuten, dass er*sie suchtkrank ist. Bei einem anderen Menschen ist dagegen alles im grünen Bereich. Wir sind alles Individuen, das gilt auch bei Süchten.

3. Eine Sucht entsteht nicht im Vakuum

Wie Dr. Thilo Beck in seinem Interview ausgeführt hat, ist die Suchtanfälligkeit bei jedem Menschen anders und von vielen Faktoren abhängig. Natürlich ist ein Teil genetisch bedingt, aber wie bei allem spielen äussere Faktoren wie das Einkommen, das Elternhaus, der Freundeskreis usw. auch eine grosse Rollen. Oft ist es von den Lebensumständen abhängig, ob Genuss in Sucht umschlägt.

4. Einige Süchte sind mir peinlich

Ja, ich rauche – und bin süchtig nach Nikotin und dem Pause-Moment, welcher mir meine Sucht verschafft. Es fällt mir leicht, dies zuzugeben. Obwohl ich die Nikotin-Sucht ziemlich blöd finde, weil sie gesellschaftlich akzeptiert ist. Andere Süchte oder Abhängigkeiten gebe ich nicht gerne zu. Ich tabuisiere sie – vor anderen, aber auch vor mir selber. Es ist mir peinlich und unangenehm und ich will auf keinen Fall entlarvt werden.

So ist das eben mit den Süchten. Die einen sind mitten in der Gesellschaft, sind akzeptiert und werden vielleicht sogar gefördert. Die anderen sind tabuisiert, stigmatisiert und finden im Geheimen und Verborgenen statt. Was Jacqueline Fehr über die Drogenpolitik der Schweiz sagte, gilt wohl allgemein für Süchte: Wir sollten als Gesellschaft viel unverkrampfter darüber reden. Toleranz ist das Stichwort.

5. Eine Sucht kann gefährlich sein

Wer nicht mehr ohne Sport, Zigarette, Kokain, Heroin, Games, Casino-Besuche, Cannabis, Arbeiten oder Einkaufen sein kann und dadurch das gewünschte Leben nicht mehr leben kann, ist potenziell in grosser Gefahr. Es gibt viele Schicksale von suchtkranken Menschen in unserer Gesellschaft, die alles verlieren: Die Familie, die Freund*innen, den Job, die Wohnung, das Leben...

Falls du denkst, dass du Unterstützung brauchst, findest du hier eine Liste mit Angeboten in Zürich.

6. Es kann auch ohne Alkohol lustig sein

Soweit ich mich erinnern kann, war ich noch nie ohne Rauschmittel im Ausgang. Ich bin nicht jedes Mal hacke-tschüss, aber mindestens zwei Aperol Spritz oder ein paar Bier geniesse ich eigentlich immer. Nicht aber an unserer alkoholfreien Party am 2. November. Wir hatten zwar Drinks und Bier – aber ohne Schwips. Die Stimmung war nicht die gleiche, wie wenn die Leute berauscht an einer Party sind. Aber es war lustig, schön, friedlich und ausgelassen. Ja, es war der Beweis, dass es auch ohne Alkohol lustig sein kann. Mit Alkohol jedoch auch. Vielleicht trinke ich auch in Zukunft mal nichts an einer Party. Vielleicht auch nicht.

7. Rausch macht Spass

Eine rauschmittelfreie Gesellschaft will ich mir nicht vorstellen. Zum Beispiel liebe ich den leichten Schwips des Feierabendbiers auf leeren Magen oder verrauchte Nächte am Küchentisch mit viel Rotwein. Es macht grossen Spass, berauscht zu sein. Das bewusste Berauschtsein ist wohl der Clou. Denn unreflektierter Konsum kann zu Sucht führen.

Titelbild: Conradin Zellweger

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