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6. November 2018 um 13:24

Aktualisiert 26.01.2022

Mein Abgrund: Ein Loch, das Alkohol nicht füllen kann

Mit Anfang zwanzig merkt sie, dass sich eine Abhängigkeit entwickelt und trinkt ein knappes Jahr keinen Alkohol. Eine Sucht kommt schleichend. Redaktorin Arjuna Brütsch erklärt, was in ihr vorging und warum es gut ist, dass sie wieder trinkt.

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(Illustration: Arjuna Brütsch)

Billige Strobo-Lichter wandern suchend über junge Körper, die noch nicht genau wissen, wie man schwitzt. Ich tanze mittendrin, lache, schüttle mich im Rhythmus zum scheppernden Bass. Ich bin zu jung, um zu wissen, wie sich mein Körper im Club «richtig» zu bewegen hat. Intuitiv und trotzdem unbeholfen schwinge ich meine Glieder, wie frisch geschlüpft.

Das war vor acht Jahren. Ein Hit nach dem anderen wird gespielt, unsere Kehlen sind heiser vom schrägen Mitsingen. Es geht weder darum, die Töne zu treffen noch darum, wer am besten tanzt, sondern darum unbekümmert zu sein – darum sich gehen zu lassen.

Einige Jahre später werde ich ins Stadtleben katapultiert: Journalismus-Studium in Zürich, WG-Leben, Gastro-Job und ein Praktikum in der Tsüri.ch-Redaktion.
Früh am Morgen verirre ich mich ins Hive. Meine Freunde sind betrunken, ich fast nüchtern. Ich ekle mich vor dem klebrigen Boden, vor dem Trinken bis zur Besinnungslosigkeit, vor dem Bedürfnis sich abzuschiessen, nur um zu tanzen. Der Techno ist dreckig, im Keller läuft Drum 'n' Bass. Ich bewege mich zögerlich, ich habe das Loslassen irgendwo zwischen Pubertät und Erwachsenwerden verlernt und verurteile mich dafür: Früher wusste ich noch, wie es ist, nüchtern zu tanzen und meine Sorgen zu vergessen. Und so schiesse ich mich ab wie alle anderen, um nicht mehr daran denken zu müssen.

Ein Loch und ein Haufen Dreck

Wenn ich umgeben bin von Leuten, die mich nicht gut kennen, bin ich unentspannt. Natürlich will ich einen guten Eindruck machen, das Richtige sagen, an den richtigen Stellen lachen, mich korrekt bewegen – so als würde mich niemand beobachten. Akzeptiert werden ist ein menschliches Grundbedürfnis.

Ich mag mich selbst jedoch nicht so. Jedes Mal, wenn mir jemand sagt, dass ich gut bin, habe ich Mühe, es zu glauben. Ich kenne mich selbst am besten, und was ich nicht an mir mag, kehre ich unter den Teppich – zum Beispiel meinen inneren Stress frühmorgens im Hive. Trotzdem will ich stark sein, also setze ich eine Maske auf. Mit dem Alkohol ist das so eine Sache: In vino veritas – im Wein liegt die Wahrheit. Alkohol macht es mir unmöglich, mich zu verstecken und bringt somit alle meine Unsicherheiten zum Vorschein. Alkohol lässt mich aber auch fühlen wie die Königin der Welt, eine selbstbewusste, laut lachende, wunderbare Herrscherin ­– das behauptet wohl jede*r Süchtige über seine Droge.

Noch sechs Mal schlafen!

Ich habe es spät gemerkt: Erst als meine Beziehung darunter litt. Betrunken zu streiten ist das Schlimmste. Die Unsicherheit gepaart mit dem verfälschten Selbstbewusstsein ruft das Dunkelste in mir hervor. Und um das zu vergessen, hilft mehr Trinken. Ein Teufelskreis.
Ausgerechnet an meinem Geburtstag letzten Sommer führen wir das ausschlaggebende Gespräch: Es kann so nicht weitergehen! Von heute auf morgen gilt folgendes: keinen Alkohol auf unbestimmte Zeit. Mein Freund schliesst sich an. Keine Deadlines. Denn einen Monat lang keinen Alkohol zu trinken oder sich nur an Wochenenden zu besaufen, führt nur zum einen: Alkohol wird zur Belohnung. «Jaa, nur noch sechs Mal schlafen, dann kann ich endlich wieder saufen. Komm, wir gehen dann in den Ausgang, uns richtig abschiessen! Geil!». Genug oft habe ich dies bei Kolleg*innen beobachten müssen.

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Huch, ist das kein Sirup in meiner Hand? Doch, es ist Hopfensirup mit Blöterli. (Illustration: Arjuna Brütsch)

«Meitli, du hast ein Problem»

Der Anfang war schwierig: Ich komme Heim, setze mich auf die Couch und merkte erst nach dem dritten Schluck, wie sich eine Dose Bier in meine Hand verirrt hat.

Die Alkoholpause auf unbestimmt habe ich anfänglich wegen meiner Beziehung eingelegt. Die Ausreden häufen sich – Ausreden, um die Realität nicht akzeptieren zu müssen. Ich dachte immer, ich sei Genusstrinkerin, doch der Irrtum wird schnell klar. Ich rege mich auf, meine Geduld ist an jenem Tag überstrapaziert worden. Die Erkenntnis: Ich brauche ein Bier, damit es mir besser geht. Und doch weiss ich, ein Bier wird nichts an der Situation ändern. Ich muss mir eingestehen «Meitli, du bist Anfang zwanzig und du hast ein Problem».

Alkoholfreies Bier wird zu meinem treuen Begleiter: Als Feierabendgetränk, zuhause, an Partys. Meine Gedanken werden klarer. Ich merke, dass nicht nur die eine Nacht im Hive unter dem Teppich lauert. Nicht ein kleiner Haufen verbirgt sich unter dem Teppich, sondern ein grosses schwarzes Loch. Mit Alkohol habe ich versucht, ein Loch in mir zu stopfen, dass sich in Wirklichkeit nicht stopfen lässt.

Die Zeit verfliegt. Schon ein halbes Jahr ist vergangen. Langsam kann ich das mit dem Alkohol wieder etwas lockerer sehen. Die neue Regel lautet: Wenn mein Freund und ich trinken, geben wir einander vorher Bescheid. Ein Versprechen. Dabei trinke ich nur, wenn es mir gut geht – ich baue mich damit nicht auf.

Alkohol ist nicht okay, Drogen schon?

Nach einiger Zeit verplappert sich der beste Freund meines Freundes. Nichtsahnend vom Versprechen berichtet er, wie toll sie es am Wochenende auf Drogen hatten. Ich schäume vor Wut, mein Freund sitzt schulterzuckend da, auf den Tisch starrend, der beste Freund vermittelt unbeholfen: «Aah, jetzt verstehe ich, warum du nur ein oder zwei Bier trinkst und ich immer hackedicht bin!».
Er gibt zu, dass er nicht daran geglaubt hat, dass ich es so lange ohne Alkohol schaffen würde. Ich war wütend und enttäuscht. Ich fühlte mich verraten. Trotzdem war ich entschlossen, weiter zu machen. Das klappte anfänglich auch ganz gut – das alkoholfreie Bier wich nicht von meiner Seite. Doch mein emotionaler Zustand, meine Beziehung und mein Antrieb zerfällt.

Sucht bleibt Sucht

Meine Mutter sagte mir als Kind: «Um eine Angewohnheit loszuwerden, musst du sie mit einem neuen, besseren Ritual ersetzen». Leider gibt mir alkoholfreies Bier nicht den Mut, den ich brauche, um endlich in den Abgrund zu sehen.

Auf den Alkohol folgt das Internet – ich verschwende Stunden, gar Tage. Aus Angst vor dem Abgrund suche ich so viel Zerstreuung wie möglich. Ich isoliere mich, denn die Leute, die mich kennen, stellen Fragen, die ich nicht beantworten will.
Ich weiss: Ich allein bin verantwortlich für meine Gefühle. Ich will keine Hilfe. Ich muss selbst damit klarkommen. Der Graben zwischen wie es mir wirklich geht und der äusseren Wahrnehmung wächst. Ich bin zwar nicht allein, aber trotzdem einsam. Ich sage es meinem Freund längst nicht mehr jedes Mal, wenn ich trinke. Ich lasse mich treiben. Es geht mir nicht gut.

Knock knock. Who's there? Reality

Wenn ich unter Kolleg*innen trinke, verstecke ich mich weniger vor mir selbst. Nach Monaten meinen Freund*innen zu zeigen, wie es mir wirklich geht, braucht Mut. Meine Beziehung zu beenden braucht Mut. Meinen Job zu kündigen braucht Mut. Emotionale und finanzielle Sicherheit ein Stück weit hinter mir zu lassen ist verdammt schwierig. Doch ich weiss, dass ich so nicht glücklich bin. Und dass ich das Glück nur in mir selbst finden kann.

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Ich hab Höhenangst – am Abgrund die Beine baumeln lassen ist eine ziemliche Mutprobe. (Illustration: Arjuna Brütsch)

Es klingt so, als hätte ich ein Geheimrezept gefunden. Gerne würde ich sagen, dass ich nie wieder Alkohol trinken werde, und alle meine Probleme sich in Luft aufgelöst haben – So ist es aber nicht. Ich will nicht davon abhängig sein: Entspannung, Ablenkung und Alkohol sollen Nitro für meinen Turbo-Motor sein, dass mir auf die Schnellspur hilft. In meinem Fall hat Alkohol mir geholfen, mich aus meiner lähmenden Isolation zu kämpfen; der Ethos, eine langfristige Lösung zu finden, hilft mir jetzt immer noch einen Mittelweg zu gehen.

Vielleicht rutsche ich näher an den Abgrund, traue mich, an den Rand zu sitzen und die Beine baumeln zu lassen. Vielleicht nehme ich eines Tages eine Angel mit, und schaue, ob eines meiner Monster anbeisst und vielleicht kuscheliger ist, als befürchtet. Vielleicht packe ich eines Tages eine Taschenlampe in meinen Rucksack, klettere hinunter, und erkunde die Tiefen des Lochs in meiner Seele.

Ich werfe ein paar Steine runter und warte auf das Echo, um zu erahnen, wie tief es ist. Ich versuche, den Abgrund nicht mehr zu füllen und zu vergessen.
Nicht mit Alkohol, nicht mit Einkäufen, nicht mit Netflixen.

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