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Von Rahel Bains

Redaktionsleiterin

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20. Juni 2021 um 12:15

«Man spricht in Zürich lieber über Gentrifizierung als über Melancholie»

Unsere Redaktionsleiterin hat den Schriftsteller und Lyriker Jürg Halter getroffen. Bei strömenden Regen in einem Café neben dem Lochergut. Dort haben sie über Hipster, Gentrifizierung, lange Nächte und die Frage, ob Zürich Stoff für Melancholie bietet, gesprochen. Und natürlich auch über seinen Gedichtband «Gemeinsame Sprache», dessen Buchtaufe am 21. Juni im Kaufleuten stattfindet.

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Jürg Halter (Bild: Rob Lewis)

Rahel Bains: Du hast bei Zürcher Labels und Verlagen Musik und Bücher veröffentlicht. Und deinen neuen Gedichtband «Gemeinsame Sprache» taufst du am 21. Juni ebenfalls hier. Im Kaufleuten. Du bist ein Berner mit Zürcher Geschichte – was ist denn dein Lieblingsort in der Limmatstadt?

Jürg Halter: Meine ersten Auftritte, früher noch als Kutti MC, waren übrigens auch in Zürich. Zum Beispiel im Rohstofflager mit Golden Boy, einem damals bekannten Zürcher DJ. Im Schauspielhaus habe ich oft gespielt oder in der Zukunft. Mein Lieblingsort ist aber das Helsinki. In Bern gibt es keinen Ort, zu dem ich eine solche Verbindung habe und kein:e Veranstalter:in, der oder die einen Ort so geprägt hat.

Wo trifft man dich in Zürich sonst an?

Ich bin gerne am See, das Niederdorf bleibt auch reizvoll. Und über die Langstrasse schrieb ich gar ein Lied, «Dini Stadt». Ich mag Orte, an die «man» nicht mehr hingeht, wo die Hipster-Dichte klein ist. Das Problem ist: Irgendwann wird ein Ort so unhip, dass die Hipster ihn entdecken und wieder verhipstern. So ist man immer auf der Flucht (lacht). Aber eigentlich ist mir das nicht so wichtig. Wenn man sich zu fest darauf verkrampft, hat man ja irgendwann einen Hipster-Komplex. Im Allgemeinen verkehre ich gerne an Orten, an denen man ein durchmischtes Publikum antrifft. Das ist zum Beispiel im Helsinki so. Dort hat man es geschafft, die Vielfalt über die Jahre zu erhalten.

Ich fand ja, dass die Rothausbar jeweils auch ein gut durchmischtes Publikum vorzuweisen hatte. Leider gibt es sie nicht mehr.

Das ist ohnehin eine gute Ecke dort. Vis-à-vis davon ist ja der Strauss.

Diese Milieubar?

Ja, genau, dort war ich früher oft.

Vielleicht müssen wir dort später noch einkehren...

Oder in die Gräbli-Bar im Niederdorf. Und hier um die Ecke ist das «Meyer’s», entzückend, um nach dem Helsinki die Zeit zu überbrücken bis die Sonne aufgeht.

Jetzt sitzen wir aber beim Lochergut, das umliegende Quartier ist mittlerweile ein Sinnbild der Gentrifizierung geworden.

In einem Keller der Lochergut-Überbauung habe ich vor vielen Jahren mit zwei Zürcher Musikern einen Song für mein erstes Album aufgenommen. Passenderweise heisst dieser «Alternative Motherfuckers» und ist eine Abrechnung mit dem urbanen, selbstgefälligen und szenebewussten Milieu. Wenn man den Song heute hört, ist er noch immer ziemlich frisch.

Damals wusstest du wohl noch nicht, wie sich dieses Quartier hier verändern wird.

Ach diese Gentrifizierung. Ich brauche das Wort selten, denn es nervt mich so. Das Problem ist doch, dass viele, die über Gentrifizierung klagen, oft dieselben sind, die von ihr profitieren und sie selber vorantreiben. Sie wohnen an diesen Orten, führen nette Veranstaltungen durch und eröffnen Hipsterbars. Sie betreiben Concept-Stores, deren Waren sich nur Leute leisten können, die entsprechend verdienen. Gleichzeitig wählen sie links und kritisieren den mangelnden Wohnraum. Gegen Gentrifizierung zu sein hat übrigens manchmal auch etwas Konservatives.

Das heisst, dass man alles so bewahren will, wie es ist. Man will nicht, dass sich was verändert und wenn, dann nur nach dem eigenen Gusto – und sonst nennt man es eben anklagend Gentrifizierung. Es gibt überhaupt viele Begriffe, die oft gedankenlos verwendet werden, statt sie zu hinterfragen. Und dann gibt es noch all die Mode-Begriffe, die plötzlich viel verwendet werden, aber niemand weiss so richtig, was sie eigentlich bedeuten.

Was wäre zum Beispiel ein solcher Begriff?

«Strukturell». Frag mal jemanden ganz explizit, was zum Beispiel «struktureller Rassismus» heisst. Viele könnten es dir nicht einfach verständlich erklären.

Aufwertung ist auch in Bern ein Thema. Wie unterscheiden sich die beiden Städte?

Wenn ein Berner nach Zürich kommt, sagt man ihm: «Oh ja Bern, da war ich zum letzten Mal vor 15 Jahren.» Berner fahren im Vergleich viel öfters nach Zürich. Viele Zürcher:innen haben das Gefühl, dass ihre Stadt der Nabel der Schweiz ist. Das ist ja auch medial so angelegt. Du merkst in vielen Beiträgen, dass Journalist:innen, die in Zürich leben und über Zürich berichten, so über die Stadt schreiben, als würden sie über die ganze Schweiz schreiben. Ich habe aber das Gefühl, dass Zürich in Bezug auf den ersten Kontakt offener ist als Bern.

Alles kann mich inspirieren, die Menschen, die Strasse, die Künste.

Jürg Halter

Tatsächlich?

In Bern braucht es zwar länger, bis du mit jemanden ins Gespräch kommst, dafür bedeutet es was. In Zürich kommst du eher ins Gespräch, das ist dann oft weniger verbindlich. Zürich ist mehr wie Kalifornien, Bern wie New York (lacht). Eine riskante, steile These, ich weiss. Und das sage ich als Antilokalpatriot (lacht).

In «Gemeinsame Sprache» schreibst du, «dass nichts Gespräche in tiefer Nacht mit fremden Menschen ersetzt, die einem plötzlich näher sind als die allermeisten, die man kennt». Hast du das auch schon in Zürich erlebt?

Ja, aber auch in Bern oder Berlin. Und natürlich hat es mit der Nacht zu tun und dem Alkohol und der Hemmschwelle, die sinkt. Das macht schon was aus.

Du gehst bekanntlich gerne alleine in Bars...

Ja, ich bin ein Solonachtflaneur. Wenn ich alleine ausgehe, lerne ich immer wieder Leute kennen, die ich sonst nicht in meinem Umfeld antreffen würde.

Bieten diese nächtliche Bartouren Inspiration für deine Kunst?

Also ich bin schon auch bei Tageslicht unterwegs... das tönt so...

...wie der gequälte Dichter, der abends...

...ich bin nicht gequält (lacht).

Aber ich nehme schon an, dass dich das inspiriert, diese Gespräche in tiefer Nacht. Und wie holst du dir am Tag Inspiration? Systematisch?

Nein, das wäre schrecklich. Ich würde ich mir dann vorkommen wie ein Forscher von der Uni, der bestimmte Stereotypen sucht, um sie in der freien Wildbahn zu beobachten. Ich war schon immer ein Nachtmensch. Deshalb war die Schule so schlimm für mich. Das Schweizer System, das die Schüler:innen bereits um 7 Uhr in die Schule zitiert – wie kaputt ist das denn? Natürlich ist die Offenheit in der Nacht grundsätzlich grösser, aber alles kann mich inspirieren, die Menschen, die Strasse, die Künste. Ich muss auf jeden Fall immer raus. Ich kann keinen Tag zu Hause sein, bin getrieben.

Von was?

Das frage ich mich auch. Ich bin unruhig.

Konstant?

Oft, ja. Die Leute merken es mir aber nicht an. Nach Aussen hin wirke ich stets ruhig.

In «Kommendes Paradies» geht es um das Unterwegssein, das «stete Nicht-Eindringen in Orte».

Das Stück handelt von globalen Nomaden. Von Menschen, die von einem Hotspot zum anderen reisen und sich nie wirklich auf einen Ort einlassen.

Meinst du, dass wir in dieser Pandemie gelernt haben, ja lernen mussten, zu verweilen?

Es wäre zu hoffen. Viele haben ja Sauerteigbrot gebacken und ein bisschen im Garten gearbeitet.

Ohne Humor kann man als sensibler Mensch nicht existieren.

Jürg Halter

Und im Winter ging man dann Eisschwimmen.

Ja, das waren solche Trends. Auch bei mir wurden gewisse Rituale unterbrochen, was gut war. Letzten Frühling gab es eine Zeit, in der kaum jemand sein Haus oder seine Wohnung verlassen hat. Ich bin dann durch die leere Stadt gestreift.

Dein Gedicht «Lockdown» handelt wohl von diesem Erlebnis?

Ja, ich habe mir dann vorgestellt, dass vielleicht schon alle weg sind und ich das Raumschiff, das uns alle rettet, verpasst habe. Dass ich der letzte Idiot bin, der zurückgeblieben ist (lacht).

In «Die beste Gesellschaft» schreibst du, wie du «mit der Last von allem, was ich je gekauft hast, ohne es zu brauchen», aus Angst, etwas verpasst zu haben, zurück nach Hause fährst. Hast du manchmal Fomo?

Was heisst das?

Fear of missing out.

Aha.

Fomo ist ja bezeichnend für die Generation Z. Wir gehören da ja nicht mehr dazu.

Stimmt. Aber ich bin noch immer getrieben und habe auch nicht das Gefühl, dass das aufhört. Aber die Angst, etwas Bestimmtes zu verpassen, habe ich nicht.

Du schreibst von den «ewig gleichen Spielchen, in und um die Clubs. Scheisse labern, lachen, posen, tanzen, schüchtern sein» und «Eitelkeit. Selfie. Isolation. Selfie.» In Zürich zelebrierte man vor der Pandemie das exzessive Clubben. Ist das ein Resultat unserer Leistungsgesellschaft, brauchen wir diesen Ausgleich, um am Montagmorgen wieder wie gewohnt zu funktionieren?

Ich habe im Milieu rumgefragt, ob der Drogenkonsum während der Pandemie abgenommen hat. Die Antwort lautete: Nein. Ich dachte davor, dass die meisten Menschen nur im Ausgang, angeregt durch andere, konsumieren. Es war aber offenbar nicht so, dass die Gesellschaft ein Jahr lang nüchtern war und reflektiert hat.

Du hast auch ein Gedicht über eine Pfütze geschrieben. Ich finde das ja nicht so toll, wenn meine Kinder auf Schweizerdeutsch trotzdem Pfütze sagen. Das ist ja eigentlich...

...ein Glungge...

...ich sage Gunte...

Lustig. In Zürich würde man glaub auch Glungge sagen.

Egal, auf jeden Fall nicht Pfütze.

Dazu müsste man vielleicht in Zürich eine Pfütze persönlich befragen. (lacht)

Deine Pfütze beobachtet «die am Leben leidenden Melancholiker». Würdest du dich auch als so einen bezeichnen? Hat die Pfütze dich beobachtet?

Vielleicht bin ich auch eine Pfütze, eine in verschiedenen Aggregatzuständen. Mobil und auch mal kurz vor der Auflösung. Ich habe manchmal das Gefühl, zu wenig pragmatisch zu sein für das Leben. Es fällt mir zum Beispiel schwer Gespräche mit Menschen zu führen, die keinen Humor haben. Ohne Humor kann man als sensibler Mensch nicht existieren. Und schwarzen Humor braucht’s manchmal auch. Und damit meine ich nicht Zynismus. Dieser Unterschied ist wichtig: Du kannst dich zynisch äussern, sei es aus Verzweiflung oder um auf etwas besonders Kaputtes in der Gesellschaft aufmerksam zu machen, man muss aber aufpassen, nicht zum/zur Zyniker:in werden. Weil wenn du Zyniker:in bist, dann wirst du lebensverächtlich.

Musst du manchmal aufpassen, kein Zyniker zu werden?

Nein, ich bin kein Zyniker, das weiss ich. Zyniker:innen erfahre ich als sehr selbstgerecht, fast schon menschenfeindlich. Sie sind oft frustriert. Zynismus und Nihilismus sind nahe beieinander – und nahe beim Hass.

Zurück zur Melancholie. Glaubst du, dass Zürich Stoff bietet, um melancholisch sein?

Zürich ist glaub «melancholiefeindlich». Es gibt die Melancholie schon, aber sie ist nicht etwas, dass man hier als Lebensgefühl zelebriert, respektiert oder fördert. Man spricht in Zürich lieber über Gentrifizierung als über Melancholie.

Melancholie ist nichts Politisches, da geht es nicht um ja oder nein. Sie hat aber etwas Verbindendes.

Jürg Halter

Müssten wir denn mehr über Melancholie sprechen?

Du kannst es ja mal ausprobieren. Jedes Mal wenn jemand das Wort Gentrifizierung braucht, sagst du: Interessant, aber lass uns mal über Melancholie sprechen. Das würde wohl viele Menschen erst mal peinlich berühren. Über Melancholie zu sprechen braucht mehr Mut.

Weil man dann plötzlich auf sich selber zurückgeworfen wird.

Melancholie ist nichts Politisches, da geht es nicht um ja oder nein. Sie hat aber etwas Verbindendes. Ein SVP-Nationalrat, der alleine im 1. Klasse-Zugabteil sitzt, kann genauso vom Gefühl der Melancholie erfasst werden, wie ein Teenager auf dem Nachhauseweg vom Ausgang. Wenn die beiden sich kreuzten, schauten sie sich vielleicht kurz an, aber es wäre ihnen in dem Moment wahrscheinlich nicht bewusst, dass sie sich im gleichen Zustand befänden.

Dass sie in diesem Moment viel mehr verbindet als dass sie trennt. Ich glaube es ist wichtig, dass man nicht immer nur nach dem Trennenden, sondern auch nach dem Verbindenden sucht. Man macht es sich oft zu einfach, wenn man einander nur aufgrund vom Äusseren und politischen Einstellungen begegnet oder respektive nicht begegnet. Klar, man kann das nicht erzwingen, aber eine gewisse Grundoffenheit und aufrichtige Empathie können es möglich machen.

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