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Von Jessica Sigerist

Gründerin untamed.love

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26. Februar 2022 um 07:24

Wieso ich keine Männer in Anzügen matche

Schmunzeln, Mitleid, Trauer – Männer in Anzügen lösen allerlei in unserer Kolumnistin aus. Wieso sie trotz grosser Emotionen bei Männern in Anzügen nach links swipet und was ihr Urgrosskind von ihnen halten wird, schreibt Jessica Sigerist hier.

Illustration: Artemisia Astolfi

Immer wenn ich Männer in Anzügen sehe, muss ich ein bisschen schmunzeln. Mit ihren polierten Schuhen und farbigen Krawatten, mit ihren wehenden Jacketten und schlingernden Hosenbeinen. Ob sie nicht merken, wie lächerlich sie aussehen? Männer in Anzügen wirken immer etwas gehetzt, als müssten sie dringend irgendwo hin. Sie erklimmen Treppen in grossen Häusern und Stufen auf Karriereleitern, im unbeirrbaren Glauben, dass es ein Ziel gibt.

Männer in Anzügen mögen grosse Uhren und schnelle Autos. Geschäftig flitzen sie hin und her, tragen Aktenkoffer vor sich her und sprechen in Mobiltelefone, überzeugt von ihrer eigenen Wichtigkeit. Männer in Anzügen meinen, Kontrolle ist Macht und dass Leistung wichtig und das System richtig sei. Männer in Anzügen haben ziemlich wenig verstanden und meinen doch, alles zu wissen.

Tussis in High Heels

Immer wenn ich Männer in Anzügen sehe, swipe ich nach links. Diese Regel steht in meinem Online-Dating-Profil: Ich matche keine Männer in Anzügen. (Das gilt übrigens nur für Männer in Anzügen. FLINTAS in Anzügen: Ihr seid hot, bitte schreibt mir.) Das hält Männer in Anzügen nicht davon ab, mir trotzdem Nachrichten zu schicken. Sie haben es nicht nötig zu lesen, was eine Frau schreibt.

Männer in Anzügen sind in meinen DMs und sie merken nicht mal, dass ich nie zurückschreibe. Ein Mann (ohne Anzug) schreibt mir: «Find ich cool, dass du keine Männer in Anzügen magst. Ich mag auch keine Tussis in High Heels.» Er hat es leider nicht verstanden. Ich liebe Tussis in High Heels. Nur Männer in Anzügen, die mag ich nicht.

Grosse Tiere

Manchmal werde ich ein bisschen traurig, wenn ich Männer in Anzügen sehe. Und würde sie am liebsten in den Arm nehmen. Sie können ja nichts dafür, dass sie sind, wie sie sind. Sie kennen nur diese Welt. Sie wurden grossgezogen von anderen Männern in Anzügen, gefüttert mit Zahlen, Gewinnmaximierung und Renditen, gebettet auf Aktien und Versicherungspolicen. Sie tun mir leid, die Männer in den Anzügen. Doch ich kann ihnen nicht helfen, es ist zu spät, sie haben sich entschieden. Männer in Anzügen tragen keine Fahne, doch die Krawatte ist ihre Flagge. Sie steht für Unterdrückung, Ausbeutung und Rücksichtslosigkeit. 

«Den Kometen, der schon längst über ihnen schwebt, sehen sie nicht.»

Jessica Sigerist

Die Männer in Anzügen, sie sehen mich nie. Sie drängen sich an mir vorbei, rempeln mich an, schneiden mir den Weg ab, wenn ich mit dem Kinderwagen in den Lift einsteigen will. Männer in Anzügen sehen nur andere Männer in Anzügen, aber Frauen mit Kinderwagen sehen sie nicht. Sie führen sich auf wie grosse Tiere, die keine natürlichen Feinde haben.

Sie bewegen sich über den Planeten mit der Selbstsicherheit grasender Dinosaurier, was sie nicht fressen, dass trampeln sie nieder. Den Kometen, der schon längst über ihnen schwebt, sehen sie nicht. Auch mich bemerken sie erst, wenn ich ihnen mit dem Kinderwagen über ihre frisch polierten Schuhe fahre.

Perücke der Kolonialherren

Wenn ich Männer in Anzügen sehe, muss ich immer ein bisschen schmunzeln. Der Mann neben mir im Lift versucht verzweifelt, seine Schuhe an seinen Anzugsbeinen sauber zu reiben, während er gehetzt ins Telefon spricht. Beschwingten Schrittes steige ich aus. Das Kind im Wagen quietsch vor Freude, es ist Frühling. Irgendwann in ferner Zukunft sehe ich mein Urgrosskind. Es besucht mit seinem Grosskind ein Museum.

Sie drücken sich die Nasen an den Scheiben platt, dahinter eine römische Legionsuniform, die Perücke der Kolonialherren und – ein Anzug. Daneben eine Krawatte, eine gestreifte vielleicht oder eine rote. Mein Urgrosskind liest seinem Grosskind die kleine Legende daneben vor und beide geben sich mit einem wohligen Schaudern der Vorstellung hin, wie die Welt wohl damals war, als sie noch von Männern in Anzügen regiert wurde. Dann nimmt mein Ugrosskind sein Grosskind bei der Hand und beim Verlassen des Museums kneifen beide die Augen zu, weil die Sonne draussen so hell scheint.  

(Foto: Elio Donauer)

Jessica Sigerist

Kolumnistin Jessica Sigerist ist Zürich geboren und aufgewachsen. Sie wusste schon früh, woher die Babys kommen. In ihrer Jugend sammelte sie schöne Notizbücher, alte Kinokarten und Zungenküsse. Sie studierte Ethnologie (halbmotiviert) und das Nachtleben Zürichs (intensiv). Nach vielen Jahren in der Sozialen Arbeit hatte sie die Nase voll, nicht vom Sozialen, aber von der Arbeit. Sie packte wenig Dinge und viel Liebe in einen alten Fiat Panda und reiste kreuz und quer durch die Welt. Sie ritt auf einem Yak über das Pamirgebirge, überquerte das kaspische Meer in einem Kargoschiff und blieb im Dschungel von Sierra Leone im Schlamm stecken.

Auf ihren Reisen von Zürich nach Vladivostock, von Tokio nach Isla de Mujeres, von Tanger nach Kapstadt lernte sie, dass alle Menschen eigentlich dasselbe wollen und dass die Welt den Mutigen gehört. Wieder zurück beschloss sie, selbst mutig zu sein und gründete den ersten queer-feministischen Sexshop der Schweiz. Seither beglückt sie Menschen mit Sex Toys und macht lustige Internetvideos zu Analsex, Gleitmittel und Masturbation. Jessica liebt genderneutrale Sex Toys, Sonne auf nackter Haut und die Verbindung von Politik und Sexualität. Sie ist queer und glaubt, dass Liebe grösser wird, wenn man sie teilt. Mit ihrem Partner und ihrem Kind lebt sie in Zürich.

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