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5. Mai 2020 um 05:04

Che Wagner: «Es braucht jetzt Lösungen, die für alle funktionieren»

Das Grundeinkommen hat in der Corona-Krise neuen Aufschwung erhalten. Warum ein Corona-Überbückungsfonds für alle Teil der Lösung sein könnte, erklärt der Co-Gründer und Geschäftsleiter von Public Beta und Kampagnenleiter der Volksinitiative zum Grundeinkommen 2016, Che Wagner im Gespräch mit Anatole Fleck.

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Text: P.S. Wochenzeitung

Anatole Fleck: Jeder achte Schweizer Erwerbstätige ist selbstständig, jeder zwölfte in einem befristeten Arbeitsverhältnis beschäftigt. Damit sind bis zu einer Million Menschen der Krise besonders schutzlos ausgeliefert. Macht ein Virus auf überfällige Änderungen in unserer Arbeitswelt aufmerksam?

Che Wagner: Selbstständig Erwerbende und Beschäftigte mit befristeten Arbeitsverhältnissen sind eine wichtige und wachsende Ergänzung im Schweizer Arbeitsmarkt. Da sich die Erwerbsstrukturen in den letzten Jahren zunehmend flexibilisiert haben, werden diese Arbeitsmodelle auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.

Die Coronakrise zeigt die Stärken und Schwächen des Schweizer Modells auf: Grundsätzlich sind wir in einer guten Ausgangslage, da wir über eine funktionierende Beziehung zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden verfügen. Der Bundesrat hat hier mit der Vergabe von Krediten und der Einführung von Kurzarbeit effiziente In­strumente zur Verfügung, um Arbeitgeber*innen zu stützen und damit die Löhne von Arbeitnehmenden im Grundsatz zu sichern. Um der Gefahr einer Massenarbeitslosigkeit oder Massen-Insolvenzen Gegensteuer zu geben, können wir dank gut ausgebauten Sozialsystemen flankierend ebenfalls entgegenwirken.

Schwach gestalten sich hingegen die bisherigen Handlungsabsichten des Bundesrats bei Selbstständigen, Freischaffenden, bei Menschen in befristeten Arbeitsverhältnissen oder weiteren, nicht-klassischen Arbeitsverhältnissen wie beispielsweise in der «Gig-Economy». Hier bestehen grosse Lücken.

Verschiedene Online-Petitionen, die ein Grundeinkommen fordern, haben immensen Zuspruch. Wird die versenkte Utopie wieder zur breit diskutierten Idee?

Die gegenwärtige Krise hat dazu geführt, dass sich verschiedene Länder mit der Kernidee des Grundeinkommens auseinandergesetzt haben. Die Vereinigten Staaten beispielsweise haben über den Kongress im Schnellverfahren direkte Zahlungen an alle Einwohner*innen des Landes verfügt, um individuellen Liquiditätsengpässen entgegen zu wirken. Als Grundlage dafür wurden Steuerdaten des Vorjahres verwendet. Alle, die unter einem bestimmten Jahreseinkommen liegen, haben eine temporäre Grundsicherung direkt über die Steuerverwaltung erhalten.

Bei der Frage warum das Thema Grundeinkommen jetzt wieder starken Zuspruch bekommt, ist meines Erachtens besonders die Einfachheit und Unkompliziertheit der Idee bestechend. Da die Folgen der Corona-Krise finanziell grundsätzlich alle betrifft, müssen jetzt Lösungen eingeführt werden, die für alle funktionieren. Der bedarfsgerechte Sozialstaat ist hier ein denkbar ineffizientes Mittel. Ich rechne mir in der Schweiz momentan keine kurzfristigen Chancen für einen tatsächlichen Systemwechsel hin zu einem bedingungslosen Grundeinkommen aus – eine solche Einführung braucht viel Zeit und Debatte. Aber früher oder später wird sich der Handlungsdruck hin zu einer Form von direkten Dividendenzahlungen an die Bewohner*innen, im Zuge der vierten industriellen Revolution, stark zuspitzen.

Also kann das Grundeinkommen in der gegenwärtigen Krise wohl auch damit auftrumpfen, dass komplizierte Anspruchs- und Bedarfsabklärungen für Unterstützungsgelder hinfällig würden. Als wie wichtig sehen sie diesen Aspekt?

Das ist ein sehr wichtiger Aspekt. Wie schon gesagt: Betroffen von der momentanen Situation sind alle. Das traditionelle System mit Bedarfs- und Anspruchsabklärungen kommt hier zwangsläufig an seine Grenzen. Der bürokratische Aufwand, jetzt auf jede individuelle Situation einzugehen und zu entscheiden, ob Unterstützungsgelder ausbezahlt werden sollen oder nicht, ist unermesslich. Zentraler Bestandteil eines temporären Überbrückungseinkommens für alle wäre daher, die Entscheidung über den Bedarf der Corona-Unterstützung jedem*jeder Einzelnen zu übertragen. Das macht einen Grossteil der Bürokratie hinfällig. Anspruch auf die Zahlung haben im Grundsatz alle, ob der Betrag auch tatsächlich ausbezahlt werden soll, liegt dann im Ermessen der Empfänger*innen.

Wie könnte das in der Praxis funktionieren?

In der Krisensituation wird allen Personen der gleiche Betrag zur Verfügung gestellt. Am Ende des Steuerjahres 2020 wird ein Teil des Überbrückungseinkommens in Abhängigkeit des tatsächlichen Einkommens wieder abgezogen. Mit steigendem Einkommen nimmt das Überbrückungseinkommen also stetig ab, bis es zum Beispiel bei einem Jahreseinkommen von 100 000 Franken effektiv und rückwirkend null erreicht.

Die Finanzierungsmöglichkeit für einen solchen Überbrückungseinkommens-Fonds ist eine politische Frage. Denkbar sind aber mehrere Finanzierungsquellen. Als besonders geeignet erscheint mir eine Finanzierung über eine Gewinnausschüttung der Schweizerischen Nationalbank. Auch eine Sondersteuer auf Erbschaften oder ein solidarischer Beitrag aus der Einkommenssteuer könnten zielführend sein.

Die Corona-Krise könnte aber dafür sorgen, dass das generelle Verständnis für das Grundeinkommen gestärkt wird.

Was sind Ihre Hoffnungen für die Zukunft dieser Ideen? Was kann die Corona-Krise antreten – was nicht?

Die Bereitschaft der Bevölkerung für einen Corona-Überbrückungsfonds schätze ich generell als gegeben ein. Denn: Alle sind von der Krise betroffen und benötigen mehr Sicherheit. Und es geht beim Überbrückungseinkommen nicht um eine Befreiung von der Erwerbsarbeit, sondern um effiziente Solidarität. Zentral ist die prinzipiell bedingungslose Verfügbarkeit dieser Hilfeleistung, damit die bestehenden Lücken geschlossen und die überforderten Systeme entlastet werden können. Alle Gruppierungen der Gesellschaft bekommen diesen Anspruch. Darin liegt ein entscheidendes Kernmotiv des Grundeinkommens.

Ein Überbrückungseinkommen unterscheidet sich aber fundamental von diesem: Zum einen ist es temporär und zum anderen nimmt die finanzielle Unterstützung mit steigendem Einkommen ab. Die Corona-Krise könnte aber dafür sorgen, dass das generelle Verständnis für das Grundeinkommen gestärkt wird. Es ist das erste Mal, wo weite Teile der Bevölkerung nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt mit einem Erwerbseinkommen zu decken, weil sie nicht arbeiten dürfen. Diese neuartige Situation wird tiefgreifende Einwirkungen in das kollektive Gedächtnis unserer Gesellschaft haben.

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