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Von Marie-Joelle Eschmann

Journalistin

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17. Februar 2020 um 13:30

Aktualisiert 27.01.2022

Lesen kann bilden, muss aber nicht.

Wenn wir an Bildung denken, sehen wir vor unserem inneren Auge meistens jemanden, der hinter einem Bücherstapel sitzt und fleissig Werk für Werk verschlingt. Nur, wer liest, kann sich aus seiner «selbstverschuldeten Unmündigkeit» befreien. So dachte man zumindest während der Aufklärung. Doch welche Rolle spielt das Lesen heute noch für die Bildung und wie grenzt es sich von anderen Medienaktivitäten ab? Marie-Joëlle Eschmann hat sich mit dieser Frage auseinandergesetzt und herausgefunden, dass es vor allem auf die innere Haltung ankommt.

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Photo by Patrick Tomasso on Unsplash

«Fernsehen bildet. Immer, wenn der Fernseher an ist, gehe ich in ein anderes Zimmer und lese.»

Dieses Zitat stammt von Groucho Marx, der zu den erfolgreichsten englischsprachigen Komikern aller Zeiten zählt. In den 1960ern galt er in den USA sogar als der lustigste Mann der Welt. Dies lag vor allem an seiner wortwitzigen und schlagfertigen Moderation der beliebten Quiz-Show «You Bet Your Life», die von 1951 bis 1962 im US-amerikanischen Fernsehen lief. Seine obige Aussage muss also vor diesem Hintergrund interpretiert werden, denn da steckt möglicherweise eine gehörige Portion Ironie dahinter. Oder hat es der TV-Star ernst gemeint?

Darüber streitet man sich tatsächlich heute noch, denn der Komiker war bekannt dafür, seine privaten Ansichten in enigmatische Aussagen zu verpacken. Er gewährte der Öffentlichkeit nur ungern Einblicke in sein privates Leben. Bekannt ist jedenfalls, dass Groucho Marx abseits der Bühne sehr belesen war. Er stammte aus armen Verhältnissen und soll es stets bedauert haben, dass er nur eine mittlere Schulbildung geniessen konnte. Um dies zu kompensieren, las er angeblich alles, was ihm in die Hände fiel.

Doch was steckt wirklich hinter der Vorstellung, dass Lesen bildet und andere Medien wie Fernsehen zur Verdummung führen? Und wo stehen wir als Gesellschaft heute da, wo es nebst klassischem Fernsehen auch Netflix, YouTube und Instagram gibt? Lesen junge Menschen weniger als früher und als ältere Menschen?

Klischiertes Bild von verblödeten Jugendlichen

Das Bundesamt für Statistik (BFS) hält auf seiner Webseite fest, dass «das Lesen von Büchern in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen weit verbreitet» ist. Über 80 Prozent der befragten Personen gaben an, in den vergangenen zwölf Monaten mindestens ein Buch gelesen zu haben. Knapp 30 Prozent sind sogar Bücherwürmer und lesen monatlich mindestens ein Buch. Im Vergleich mit verschiedenen Medienaktivitäten steht das Lesen von Büchern nach dem Filme schauen am TV oder Musik hören am Radio somit an dritter Stelle und sogar vor dem Spielen von Computergames. Überraschend ist auch, dass unter den 15- bis 29-Jährigen mehr Leute Bücher lesen als in den anderen Altersgruppen.

Das klischierte Bild von verblödeten Jugendlichen, die nichts mehr von Literatur wissen und sich stattdessen den ganzen Tag nur YouTube-Videos reinziehen und Netflix-Serien anschauen, basiert demnach auf ziemlich haltlosen Vermutungen.

Auch die Verkaufszahlen in Deutschland zeichnen ein völlig anderes Bild. Diese lassen nämlich darauf schliessen, dass zumindest im Rahmen der Schuldbildung ausreichend klassische Literatur gelesen werde. Peter Csajkas, der die Abteilung Schulmedien beim Reclam-Verlag leitete, sagte 2016 gegenüber der Welt: «Wir können nicht feststellen, dass Schüler keine klassische Literatur mehr lesen.» Ähnliches berichtete auch der Suhrkamp-Verlag, in dem etwa die Werke Bertold Brechts und Max Frischs erscheinen. Von einer Krise der Klassiker in der Schule könne nicht die Rede sein, hiess es im selben Artikel.

Nimmt man die Statistiken und Verkaufszahlen für bare Münze, so scheint nichts an der vielfach vermuteten Lesemüdigkeit zu sein. Doch spannend wird es erst, wenn man die Zahlen unter die Lupe nimmt. Denn sie offenbaren nicht, wie gelesen wird.

Es geht um Freiräume, Musse, Vertiefung und Konzentration

Der österreichische Philosoph und Universitätsprofessor Konrad Paul Liessmann ist wohl der meist gefürchtete Kritiker aller deutschsprachigen Bildungsreformer*innen. Mit seinem kontroversen Buch «Bildung als Provokation» hat er die neue Kompetenzfixiertheit in den Schulplänen gnadenlos seziert. Dass Bildung heute vornehmlich unter einer Nützlichkeits- und Verwertungslogik betrachtet werde, sei seiner Meinung nach irreführend, wenn nicht sogar gefährlich.

Dazu ein Beispiel: In einem Schulsystem, das auf die Vermittlung von Kompetenzen fixiert ist, wäre eine typische Aufgabe, beschreiben zu können, was ein Werk der Romantik auszeichnet. Eine solche Aufgabe lässt sich auch lösen, ohne den Inhalt vollständig gelesen und verstanden zu haben. Liessmann kämpft jedoch für einen Bildungsbegriff, der nicht auf Kompetenzen, sondern auf Selbsterkenntnis und Persönlichkeitsentwicklung abzielt. Er kritisierte in der NZZ, dass es angesichts des neuen Effizienzdrucks und des Vermessungswahns keinen Raum mehr für die Musse gebe, die für die vertiefte individuelle Auseinandersetzung mit der komplexen Welt, mit Literatur, Sprache oder auch mit Musik unabdingbar ist.

Um als Individuen nicht unterzugehen, optimieren wir uns in unserer Freizeit stetig selbst.

Marie-Joelle Eschmann

Spätestens jetzt dürfte den Lesern*innen die Stichworte Lehrplan 21 und Bologna durch den Kopf schiessen. Ich selbst werde an die Momente erinnert, als die Universitätsprofessoren*innen ihre gut gemeinten Listen für weiterführende Literatur der ECTS-jagenden Studenten*innen vorlegten. Dann lag immer ein Hauch Resignation in der Luft, ein stilles Bewusstsein darüber, dass niemand wirklich Zeit für etwas hat, das nicht prüfungsrelevant ist.

Der neue Leistungsdruck lässt sich jedoch nicht nur in den Schulen und Universitäten feststellen. Auch die Berufswelt 4.0 verlangt den ständigen Erwerb neuer Kompetenzen, um zukünftig in einem immer komplexer werdenden Arbeitsmarkt mithalten zu können. Und um als Individuen nicht unterzugehen, optimieren wir uns auch in unserer Freizeit stetig selbst.

Liessmann geht es jedoch vor allem um Begriffe wie Freiräume, Musse, Vertiefung und Konzentration – alles Dinge, die in starkem Kontrast zu einer leistungsorientierten Gesellschaft stehen. Es sind aber alles Dinge, die es für die Lektüre eines Buches braucht. Vor allem dann, wenn man mit der Lektüre eines Buches mehr Selbsterkenntnis erlangen und sich persönlich weiterentwickeln – kurzum: bilden – möchte.

Bereits Johann Wolfgang von Goethe sagte: «Es ist ein grosser Unterschied, ob ich lese zu Genuss und Belebung oder zu Erkenntnis und Belehrung.»

Wichtig ist also gar nicht, wie viel und was man liest, sondern wie man liest. Es geht im Grunde um die innere Haltung. Will man es «wagen, zu wissen», wie es uns Immanuel Kant nahegelegt hat, steht der Selbsterkenntnis eigentlich nichts im Weg. Da kann ein Buch auch «50 Shades of Grey» heissen. Blättert man jedoch die «Leiden des jungen Werthers» nur kurz durch, um eine Prüfung zu bestehen, ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich gering, dass man danach in den eigenen Grundfesten erschüttert sein wird.

Doch was genau ist anders an der Literatur? Kann ein Film oder eine Serie nicht genau dasselbe leisten, wenn man entsprechend an diese Medien herangeht?

Die eigenen Vorstellungen und die eigene Fantasie spielen eine grosse Rolle

Bücher sind nicht per se gut. Das ist klar. Filme und Serien sind ja auch nicht per se schlecht. Ein Dokumentarfilm auf YouTube vermag wahrscheinlich mehr Wissen zu vermitteln als, sagen wir einmal, Harry Potter. Was soll uns ein Roman über einen Zauberlehrling genau beibringen können? Und sollte die Verfilmung davon dann nicht mindestens so lehrreich sein?

Der grosse Unterschied liege darin, dass das Medium Buch eine relativ hohe Konzentration verlange, erklärte Franz Lettner vom Institut für Jugendliteratur in Wien gegenüber ORF. Beim Lesen werde ein eigener Kommunikationsraum erzeugt, in dem es keinen oder nur wenig Platz für Ablenkungen gibt. Niemand lese ein Buch und spiele gleichzeitig auf dem Handy. Lesen sei also eine ausschliessliche und die Umwelt ausschliessende Tätigkeit, zumindest während man sie ausübe. Beim Fernsehen schaue das jedoch anders aus: Fernsehen sei ein lautes Medium, das in der Regel viel mehr vorgebe – beispielsweise die Geschwindigkeit, in der eine Erzählung abläuft. Ein*e Leser*in könne jedoch ihr je eigenes der Geschichte hinzufügen. Kurzum: Beim Lesen muss man eine viel aktivere Rolle einnehmen.

Kirsten Boie ist Kinderbuchautorin. Im Südkurier hob sie die Wichtigkeit dieser aktiven Rolle hervor, die man insbesondere bei der Lektüre von Prosa Literatur als Leser*in einnehme. Wenn man zum Beispiel «Vater» lese, sagte sie, kann das für jede Person etwas ganz anderes bedeuten. Während das Wort «Vater» bei jemandem das Bild eines gutmütigen, grauhaarigen Mannes evoziere, sehe jemand anderes vielleicht bloss eine grosse Lücke vor ihrem inneren Auge. Für diese Person sei ein «Vater» einfach jemand, der immer abwesend ist. Die eigenen Vorstellungen und die eigene Fantasie spielen beim Lesen also eine grosse Rolle. Im Lauf einer Geschichte verändern sich jedoch die Protagonist*innen und am Ende eines Buches kommt es bekanntlich zu einer Auflösung – ein Prozess, der dazu führt, dass sich Leser*innen selbst dabei ertappen, wie sie über gewisse Dinge denken. Sie sehen sich gezwungen, ihre eigenen Vorstellungen zu hinterfragen und müssen sie nach einer Lektüre vielleicht sogar ganz über den Haufen werfen.

Sapere aude!

Die Philosophen der Aufklärung waren der Überzeugung, dass lesen bilde und uns aus der «selbstverschuldeten Unmündigkeit» herausführen könne. Wenn dem wirklich so ist, dann müssten wir heute mindestens so aufgeklärt sein wie unsere Vorfahren. Wie wir sehen konnten, wird heutzutage nämlich immer noch viel gelesen. Sogar mehr als je zuvor, wenn man die ganzen Whatsapp-, Werbe- und Mailtexte bedenkt, die massenweise produziert werden. Ob wir jedoch tatsächlich aufgeklärter sind, darüber lassen sich wohl kaum objektive Aussagen treffen. Populismus, Antisemitismus und die Debatten rund um die Klimakrise lassen aber vermuten, dass wir wohl noch nicht am Zenit unserer kollektiven Erleuchtung angelangt sind.

Ganz so einfach ist es mit dem Lesen denn auch nicht. Lesen kann nämlich bilden, muss aber nicht. Es kommt eher auf die innere Haltung an als auf die Menge konsumierter Texte. Es kommt darauf an, ob man es wagt, Neues zu erkennen. Es ist ein Geschäft, für welches man sich Zeit nehmen und entsprechende Freiräume schaffen muss, welche die für eine vertiefte, konzentrierte Lektüre unabdingbare Musse gestatten. Lesen birgt also ein grosses Potenzial für die eigene Bildung und kann für das eigene Leben prägend sein. Man muss bloss gewillt sein, es auszuschöpfen.

Weil man als Leser*in aber nicht gerne immer allein im Zimmer sitzt, habe ich euch eine Liste mit den schönsten Orten in Zürich zusammengestellt, in denen es sich müssig lesen lässt.

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