Kolumne von Mandy Abou Shoak: Gedanken zum 33. Geburtstag - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Mandy Abou Shoak

Kolumnistin

15. Oktober 2022 um 06:00

Kein Fomo mehr und gelernt, Nein zu sagen: Unsere Kolumnistin wurde 33

Unsere Kolumnistin Mandy Abou Shoak ist kürzlich 33 geworden – und fühlt sich wohler denn je. Vor allem, weil sie gelernt hat, Nein zu sagen. Zum Beispiel zu Interviewanfragen, die sich um das Thema Rassismus drehen. Weil: «In solchen Interviews auch noch ständig die eigene Würde verteidigen zu müssen, ist ein unnötiger Kraftakt.»

(Foto: Zana Selimi)

Vor wenigen Wochen wurde ich 33. Ich muss zugeben, diese Zahl löst unterschiedliche Gefühle in mir aus. Einerseits fühle ich mich in meinem Körper und Umfeld wohler denn je. Ich bin unglaublich gerne zuhause. Manchmal schalte ich die Musikanlage – die mein Partner Michael liebevoll zusammengesucht und gebaut hat – ein bisschen zu laut ein und singe laut mit. Dabei tanze ich genüsslich durch die Wohnung. Zum Beispiel zu «On My Way» von Alina Amuri, «Scheine im Gesicht» von Fatima Moumouni und Laurin Buser» oder «We are many» von Anouchka Gwen und Naїma. Kürzlich dazu gekommen ist der Song «Mon amour» von Stromae, obwohl ich ehrlich gesagt etwas Angst davor habe, mir den Text genauer anzuschauen, weil ich befürchte, dass ich den Song danach nicht mehr hören darf, weil er vor Sexismus trieft. Wenn ich nicht tanze, dann sitze ich oft einfach in unserem Erker. Ich meditiere oder lese ein Buch. Michael sagt, dass ich ein etwas merkwürdiges Leseverhalten habe.

Während dem er Bücher immer von vorne bis hinten konsequent durchliest und sobald er zu lange nicht mehr darin gelesen hat, wieder von vorne beginnt, lese ich praktisch nie ein Buch von Beginn bis Ende durch. Meistens lese ich einzelne Kapitel und lege das Buch dann wieder bei Seite. Dafür sind die meisten Bücher, die ich lese, durchmarkiert (Orange steht für ein Zitat und die dazugehörige Autorenschaft. Grün für allgemein wichtige Informationen). Und wenn ich mal etwas mehr Zeit habe, dann zeichne oder schreibe ich in mein Journal. 

Weshalb ich Interviewanfragen absage


Mein Leben ist gesegnet mit vielen unglaublich grossartigen Menschen, die mir dabei helfen, in dieser Welt zu navigieren, die richtigen Entscheidungen zu treffen – und Nein zu sagen. Heute sage ich zum Beispiel Interviewanfragen nicht selten ab. Unter anderem, weil die Rahmenbedingungen solcher Gespräche Menschen wie mich in Gefahr bringen. Nach solchen Interviews haben wir oftmals beleidigende Nachrichten, manchmal sogar Morddrohungen in unseren E-Mail-Postfächern. Im Kontext von Interviews zu Rassismus sind die Gespräche oft so angelegt, dass eine Pro-Position und eine Kontra-Position in den Raum geführt werden. Bildlich vorgestellt werden Martin Suter und Lara Gut zusammen in eine Achterbahn gesteckt, um gemeinsam zu verhandeln, welches das wichtigste Schulfach ist.

«Was wäre, wenn ich in meinen 20ern bereits Bücher von Bell Hooks und Angela Davis und Texte von Serena Dankwa und Jovita dos Santos Pinto gelesen hätte?»

Mandy Abou Shoak

Sich unter solchen Bedingungen auf etwas zu einigen, mit so unterschiedlichen Perspektiven, scheint mir fast unmöglich. Was in öffentlichen Debatten zum Thema Rassismus oft passiert, ist, dass grundsätzlich in Frage gestellt wird, ob alle Menschen WIRKLICH das Recht haben, in ihrer Integrität oder in ihrer Würde geschützt zu werden. Auch hier: Unter diesen Bedingungen ein fruchtbares Gespräch zu führen ist fast unmöglich und in diesem Fall einfach auch dehumanisierend. Denn in solchen Interviews auch noch ständig die eigene Würde verteidigen zu müssen, ist ein unnötiger Kraftakt.  

Manchmal brauche ich Unterstützung von meinem Netzwerk, um eine Anfrage richtig einzuordnen. Vor allem wenn die Anfrage «besonders verlockend» erscheint. So zum Beispiel, wenn ich, wie kürzlich als Diversitätsexpertin in ein Juryboard gewählt, oder wie es so schön hiess, «einberufen» werde. I mean: It is a Caaalling! Aber ein Calling hinein in ein Feld, in dem es viele geeignetere Expert:innen gibt, die auch diskriminierungssensibel sind. Deshalb sage ich solche Aufträge in Absprache mit meinem Netzwerk ab.

Was wäre wenn? 

Mit 33 Jahren habe ich auch nicht mehr so krasse Fomo-Gefühle. Ich setze mich gewissen Stresssituationen nicht mehr aus. Einfach weil ich weiss, dass ich mich dagegen entscheiden kann. Zudem weiss ich heute besser und genauer, welche Momente, Gefühle und Begegnungen ich in mein Leben holen möchte und welche nicht. Im Grunde fällt es mir leichter, Ja zu mehr Lebensqualität zu sagen. Diese sowie Hirnnahrung und Seelenheil erfahre ich im Austausch mit meinen Liebsten. 

Qualität in mein Wirken zu bringen, bedeutet aktuell für mich, die Frage nach Situationen und deren Geschichte zu stellen. In den vergangenen Monaten habe ich gelernt, dass Einladungen, die ich erhalte, immer eine Geschichte haben. Oft eine Geschichte, die mit (Macht-)Strukturen zu tun haben, eine Geschichte von vielen Verletzungen, in denen viele Menschen gegangen (worden) sind. An diesen Stellen über Schuld und Scham hinaus zu wachsen und in ein Verständnis von Wiedergutmachung, strukturellen Veränderungen und Transformation zu kommen, ist die grosse Herausforderung. 

Hier verstehe ich meine Aufgabe darin, Arrangements zu gestalten, um Menschen in Wahrnehmungs-, Bewusstseins- und Veränderungsprozessen zu begleiten. Und genau das ist es, was ich liebe. Und: Weil ich hauptberuflich noch bei Brava arbeite, kann ich im Rahmen meiner selbständigen Tätigkeit Aufträge auch abweisen. 

33 bin ich geworden. Einerseits fühle ich mich wohler denn je. Andererseits überlege ich mir manchmal auch, was wäre, wenn ich schon in meinen 20ern so politisiert gewesen wäre? Was wäre, wenn ich in meinen 20ern bereits Bücher von Bell Hooks und Angela Davis und Texte von Serena Dankwa und Jovita dos Santos Pinto gelesen hätte? Wenn ich in meiner Jugend schon gelernt hätte, so gut in mich hinein zu hören und für mich selbst und andere einzustehen? Ich weiss es nicht.  Aber was ich weiss, ist: Ich kann mich jetzt dafür engagieren, dass andere diese Möglichkeit heute etwas früher haben. 

Mandy Abou Shoak

Menschen beschreiben sie als erfrischend unbequem. Unsere neue Kolumnistin Mandy Abou Shoak ist in Khartum im Sudan geboren, mit ihrer Familie in die Schweiz geflüchtet und im Zürcher Oberland aufgewachsen. Schon früh beschäftigte sie sich mit Ungerechtigkeiten. Einer der erweckensten Momente war jener, in dem sie realisierte, dass marginalisierte Menschen, wie sie selbst, im Kontext von Diskriminierungs- sowie Gewalterfahrungen meist verstummen. Sie verstand, dass das Heraustreten aus der Scham, das Teilen von Erfahrungen, fundamental ist, um in ein Verständnis darüber zu kommen, dass gewisse Erfahrungen kollektiv und damit strukturell sind. Diese Erkenntnis durchzog ihr Leben.

Mandy hat Soziokultur im Bachelor und Menschenrechte im Master studiert. Hauptberuflich arbeitet sie heute bei Brava als Expertin für Gewaltprävention und gibt Weiterbildungen im Bereich geschlechtsspezifischer Gewalt. Als Selbstständige berät sie Organisationen zu Themen rund um Diskriminierung und rassismussensiblen Strukturen. Auch in den zwei Podcasts «Wort.Macht.Widerstand» und «Reden wir! 20 Stimmen zu Rassismus» spricht sie über genau diese Thematiken. Sie ist zudem im Schwarz Feministischen Netzwerk Bla*sh, im Berufsverband der Sozialen Arbeit AvenirSocial und in der SP engagiert. 

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