Kolumne: Mandy Abou Shoak wurde in den Kantonsrat gewählt – was nun? - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Mandy Abou Shoak

Kolumnistin

4. März 2023 um 09:15

«Jetzt bin ich Kantonsrätin – welche Erwartungen habt ihr an mich?»

Unsere Kolumnistin Mandy Abou Shoak wurde in den Zürcher Kantonsrat gewählt – und macht sich dazu einige Gedanken. Vor allem über die 7440 Menschen, die ihr ihre Stimme geschenkt haben.

Illustration: Zana Selimi

Ab Mai bin ich offiziell Zürcher Kantonsrätin. Bei diesem Gedanken fragte ich mich neulich: Was macht eine Kantonsrätin eigentlich genau? Ich googelte erst mal. Viele Gedanken rauschen mir durch den Kopf. Unglaublich. 7440 Menschen haben mir ihre Stimme geschenkt. Geschenkt, geborgt oder gepachtet?, fragte ich mich sofort. Wer sind diese Menschen? Einige davon kenne ich: Daria, Islam, Lucia, Rhea, Lucrezia, Arbnora, Madlaina, Michi. Und dann noch Behide, Selina, Barbara, Alina. Aber wer sind die restlichen 7428 Personen? Wie viele davon identifizieren sich als FINTA, wie viele nicht? Hat die Mehrheit einen Migrationsvorsprung? Wie viele davon haben Alan David Sanginés und mich gewählt, nur weil wir einen migrantischen Namen haben?
Wenn ich mit euch sprechen könnte: Was würdet ihr mir sagen wollen? Welche alltäglichen Sorgen begleiten euch und welche Hoffnungen habt ihr? Und: Welche Erwartungen habt ihr an mich?

«Eine 35-Stunden-Woche für alle. Island hat doch gerade gezeigt, dass das sogar ökonomisch Sinn macht.»

Mandy Abou Shoak

Meine Google-Suche ergab Folgendes: «Der Kantonsrat ist das Parlament des Kantons Zürich. Die 180 Mitglieder zählende Volksvertretung ist nach schweizerischem Staatsverständnis die oberste Behörde im Kanton.» Als Kantonsrätin kann ich bei Verfassungs- und Gesetzesänderungen sowie bei neuen Gesetzesentwürfen mitwirken und mitbestimmen. Darüber hinaus verabschiedet der Kantonsrat das Budget und die Rechnung des ganzen Kantons, entscheidet über grössere Projektausgaben und wählt Mitglieder für die Gerichte und die Behörden im Kanton. 

Der naive, kindliche und furchtlose Teil in mir sagte dazu: «Okay, let's go! Eine 35-Stunden-Woche für alle. Island hat doch gerade gezeigt, dass das sogar ökonomisch Sinn macht. Oder weisst du was: Scheiss drauf, machen wir eine 30-Stunden-Woche draus und dann führen wir auch noch zwei Jahre Elternzeit ein, aufteilbar unter den Erziehungsberechtigten sowie einen 13. Monatslohn für Rentner:innen. Und ein gratis Gesundheitssystem für alle.» Die vernünftige Mandy sagte hingehen: «Du weisst doch, einige dieser Dinge werden nicht auf kantonaler Ebene geregelt und all das ist viel komplizierter, als du dir das jemals vorstellen könntest.»

Entscheide über das Leben von 1,5 Millionen Menschen

Die Mehrheitsverhältnisse im Kanton entscheiden über sehr viele Dinge: Wirtschaft und Abgaben, Gesundheitssystem, Energie/Verkehr/Umwelt, Soziale Sicherheit, Bildung und Kultur und so weiter. Also über das Schicksal des Kantons Zürich. Sprich über das Schicksal von dir, deiner Partnerin oder deines Partners, deinen Geschwistern und deinen Freund:innen. Kantonsräte (aktuell 57 Prozent) und Kantonsrätinnen (aktuell 43 Prozent) entscheiden unter anderem darüber, ob und wie viel Geld (nicht) ins Gesundheitssystem fliesst. Kantonsräte entscheiden darüber, ob und wie hoch Entlastungsmassnahmen für Menschen mit wenig finanziellen Mitteln ausfallen.

Kantonsrätinnen und Kantonsräte entscheiden über die Wichtigkeit und Dringlichkeit von diskriminierungssensiblen Bildungsinhalten. Und sie können zum Beispiel auch auf den Kurs des Verwaltungsrats des Schauspielhauses Zürich Einfluss nehmen. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Kantonsrätinnen und Kantonsräte verhandeln das Leben von 1,5 Millionen Menschen. Ganz schön krass.

In den letzten Jahren durfte ich unterschiedliche Rollen und Funktionen einnehmen, die meine Möglichkeiten und Handlungsspielräume verändert, teils erweitert, teils aber auch verengt haben. Als Aktivistin in der antirassistischen Bewegung war ich in den letzten Jahren damit beschäftigt, dafür zu sorgen, dass Anliegen und Themen überhaupt aufs Tapet gelangten. So zum Beispiel Rassismus in Schulbüchern oder die koloniale Geschichte der Stadt Zürich im Kontext der Völkerschauen. Später, als ich dann angefangen habe, als Verantwortliche Bildung und Beratung bei Brava zu arbeiten, musste ich mich zunächst orientieren. 

Ich verstand schnell, dass NGOs die gesellschaftliche Funktion haben, die Dringlichkeit aus den Bewegungen mit Nachdruck und Schlagkraft in die Institutionen und in staatliche Strukturen zu bringen. Das unter anderem, indem Missstände, die durch die Bewegung deutlich wurden, in konkrete politische Forderungen umgewandelt werden. Als Politiker:in geht es nun darum zu prüfen, welche Forderungen realpolitisch umgesetzt werden können, wie und ob sie mehrheitsfähig sind und sich strategisch Gedanken darüber zu machen, wie Mehrheiten geschaffen werden können. 

Um ehrlich zu sein, kann ich meine Wahl noch immer nicht wirklich fassen. Es berührt mich unglaublich, wie viele Menschen mich unterstützt haben. Wie viele Menschen irgendwo da draussen sind. Wie viele Menschen wir gemeinsam sind. Diese Energie und Kraft machen mich demütig und zeigen mir einmal mehr, was wir gemeinsam alles schaffen können. 

Mandy Abou Shoak

Menschen beschreiben sie als erfrischend unbequem. Unsere Kolumnistin Mandy Abou Shoak ist in Khartum im Sudan geboren, mit ihrer Familie in die Schweiz geflüchtet und im Zürcher Oberland aufgewachsen. Schon früh beschäftigte sie sich mit Ungerechtigkeiten. Einer der erweckensten Momente war jener, in dem sie realisierte, dass marginalisierte Menschen, wie sie selbst, im Kontext von Diskriminierungs- sowie Gewalterfahrungen meist verstummen. Sie verstand, dass das Heraustreten aus der Scham, das Teilen von Erfahrungen, fundamental ist, um in ein Verständnis darüber zu kommen, dass gewisse Erfahrungen kollektiv und damit strukturell sind. Diese Erkenntnis durchzog ihr Leben.

Mandy hat Soziokultur im Bachelor und Menschenrechte im Master studiert. Hauptberuflich arbeitet sie heute bei Brava als Expertin für Gewaltprävention und gibt Weiterbildungen im Bereich geschlechtsspezifischer Gewalt. Als Selbstständige berät sie Organisationen zu Themen rund um Diskriminierung und rassismussensiblen Strukturen. Auch in den zwei Podcasts «Wort.Macht.Widerstand» und «Reden wir! 20 Stimmen zu Rassismus» spricht sie über genau diese Thematiken. Sie ist zudem im Schwarz Feministischen Netzwerk Bla*sh, im Berufsverband der Sozialen Arbeit AvenirSocial und in der SP engagiert. Im Februar 2023 wurde sie in den Zürcher Kantonsrat gewählt.

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