Aktivistin Marie-Claire Graf über die Klimakrise und das Kinderkriegen - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Sofie David

Praktikantin Civic Media

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27. Mai 2022 um 15:00

«Was uns noch bleibt, ist Weiterkämpfen für eine bessere Zukunft»

Marie-Claire Graf ist Klimagerechtigkeits-Aktivistin und schreibt – sofern unser Crowdfunding erfolgreich ist – bald eine monatliche Kolumne bei Tsüri.ch. Im Interview spricht sie über die Angst vor der Klimakrise, das Kinderkriegen und warum sie trotz allem die Hoffnung nicht verliert.

Marie-Claire Graf an der Pitch-Night zu Netto-Null

Marie-Claire Graf ist erst seit ein paar Stunden zurück in der Schweiz. Am Vorabend sei sie um 2 Uhr in der Nacht mit dem Zug aus London via Paris zurückgekommen. Doch statt sich zuerst einmal richtig zu erholen, ist sie bereits wieder auf dem Weg nach Basel zu einem Seminar. Ein volles Programm ist keine Seltenheit in ihrem Alltag. In einem Interview mit Blick.ch sprach sie sogar mal von 16 Arbeitsstunden am Tag.

«Es gibt solche Tage, an denen ich wirklich sehr viel arbeite. Gerade wenn Konferenzen stattfinden, zählt man keine Stunden, dann bin ich morgens um 6 Uhr bereits im Zug und komme abends um 1, 2 oder 3 Uhr nach Hause», erzählt sie. Doch ihr Leben sei nicht nur Arbeit: «Einmal in der Woche nehme ich mir eine Auszeit, dann arbeite ich wirklich nicht. Meistens gehe ich dann ohne Laptop und Handy in die Natur, zum Beispiel um zu wandern». Die letzten Wochen seien sehr voll gewesen, deshalb gehe es demnächst ganze drei Tage in die Berge. Doch zuerst nimmt sie sich Zeit für ein Gespräch.

Tsüri.ch: Marie-Claire, du ernährst dich vegan, verzichtest wann immer möglich auf Flüge, kaufst fast keine Kleider und versuchst auch sonst möglich nachhaltig zu leben. Doch was bringt schon Eigeninitiative beim Klimawandel, wenn Länder und Konzerne weitermachen wie bisher? 

Marie-Claire Graf: Auf einer weltweiten Skala bringt das nicht viel, das stimmt. Aber ich habe auch andere Gründe als das Klima, um nachhaltig zu leben. Ich lerne viel darüber, welche Pflanzen ich essen und auch anbauen kann. Ausserdem geht es mir gesundheitlich besser. Natürlich gibt es auch viele ethische und moralische Überlegungen, wie etwa das Tierleiden, aber vor allem schmeckt es mir.

Bezüglich Fliegen? 

Da ist es ähnlich. Ich geniesse die Entschleunigung, die mir etwa das Zugfahren bringt. Natürlich wäre es zum Beispiel viel einfacher gewesen, mit dem Flugzeug nach London zu fliegen. Aber diesen halben Tag, den es mit dem Zug brauchte, konnte ich für mich und die Vorbereitungen nutzen. Es muss nicht immer alles schneller und effizienter sein. Ganz selten trifft man mich im Flugzeug an, wenn ich etwas als sehr wichtig erachte und nach Übersee fliege.

Durch meine Arbeit spreche ich die politischen Rahmenbedingungen an und setze mich ein, dass sich diese nachhaltig verbessern. Beispielsweise dafür, dass ein nachhaltiger Lebensstil erschwingbar ist für alle. Momentan ist Biogemüse einfach teurer ist als Fleisch –  das ist eine solche systemischen Ungleichheit, die ich anzugehen versuche.


Crowdfunding: Klima Watchdog


Wir Zürcher:innen haben entschieden: Bis 2040 soll unsere Stadt Netto-Null schaffen. Das heisst, wir müssen pro Person jährlich 3,1 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Wie soll das gehen? Und willst du auch wissen, welche Massnahme uns dem Ziel wie viel näher bringt? Mit dem Klima Watchdog schaffen wir transparente und frei zugängliche Informationen zum Weg zu Netto-Null. Unterstütze jetzt das Crowdfunding auf WeMakeIt.

Das Thema fühlt sich sehr ausdiskutiert an: Es wird immer wieder das Gleiche gesagt, nur passiert dann trotzdem nichts.

Ja, für mich fühlt es sich manchmal so an. Man kann jedoch nicht generell sagen, es passiert nichts, denn es gibt viele Menschen, die Dinge ausprobieren und verändern. Es passiert immer hier und da etwas, aber natürlich nicht auf der Skala, auf der es passieren müsste, und nicht mit der notwendigen Dringlichkeit.

«Wir brauchen eine noch nie dagewesene Transformation, nur wissen wir noch nicht wie das geht.»

Marie-Claire Graf

Wieso geht es so langsam?

Was wir brauchen, ist eine nie dagewesene Transformation. Schwierig daran ist, dass wir noch nicht wissen, wie man eine solche Transformation realisiert. Wir haben bei der Nachhaltigkeit lediglich Problembeschriebe und wenig transformative Lösungen.

Marie-Claire Graf

Marie-Claire Graf ist in Baselland aufgewachsen. Die Matura machte sie in Liestal, anschliessend studierte sie Umweltnaturwissenschaften und Politikwissenschaften in Zürich. Ihr erstes politisches Engagement nahm sie als Präsidentin des Baselbieter Jugendrates wahr, wo sie im Alter von 14 hineingewählt wurde. Seither engagiert sie sich auf lokaler wie nationaler Ebene. 2018 organisierte sie den ersten Schweizer Klimastreik mit, 2019 war sie am Klimagipfel in New York und Madrid und vergangenes Jahr vertrat sie Kinder und Jugendliche in Sachen Klima als UNO Botschafterin an der Weltklimakonferenz in Glasgow.  Obwohl sie von den Medien oft so genannt wird, gefällt ihr die Bezeichnung ‹schweizerische Greta Thunberg› nicht – sie möge den Personenkult nicht, es solle in erster Linie um die politische Bewegung gehen. Marie-Claire sieht sich in ihrer Rolle als Brückenbauerin zwischen verschiedenen Generationen.

Siehst du einen Fortschritt?

Vor allem sehe ich einen Fortschritt bei den Köpfen. Heute nehmen viel mehr Menschen diese Dringlichkeit wahr. Was es meiner Meinung nach noch viel zu wenig gibt, sind ganz konkrete Aktionen, die sich in eine transformative Richtung bewegen.

Es ist ermutigend zu hören, dass in den Köpfen ein Umdenken stattfindet. Aber passiert das nicht alles viel zu langsam und viel zu spät? 

Absolut. Das hat mit dieser Dringlichkeit zu tun, die ich vorhin angesprochen habe. Es ist jetzt schon zu spät. Es gibt jetzt bereits Gebiete, die überflutet oder verdorrt sind, Arten, die jeden Tag aussterben und Menschen, die jeden Tag Opfer der Klimakrise werden. Was uns noch bleibt, ist Weiterkämpfen für eine bessere Zukunft, für eine lebenswerte Zukunft und für eine nachhaltige Zukunft.

Was ist denn noch möglich?

Es gibt laut der Wissenschaft noch Möglichkeiten, Tipping Points zu verhindern. Tipping Points sind Kipppunkte, die sich nicht rückgängig machen lassen und irreversible Schäden und Prozesse antreiben. Wenn ein Kipppunkt erreicht ist, verschlimmert sich die Situation unaufhaltsam, dann kann man nichts mehr tun, um das aufzuhalten. Ein Tipping Point ist zum Beispiel das Abschmelzen der Pole oder auch der Gletscher. Es gibt immer noch die Möglichkeit, das aufzuhalten, aber wir sind viel zu langsam.

Macht dir das Angst?

Ja!

Damit bist du nicht alleine.

Ja, es macht nicht nur mir Angst, sondern ganz vielen jungen Menschen. Viele haben Existenzängste, was die Zukunft betrifft. Auch Menschen, die sich klassischerweise nicht für diese Themen einsetzen, sollte alarmiert sein, wenn die Mehrheit einer Generation Angst vor der Zukunft hat.

Kannst du dir vorstellen, Kinder in diese Welt zu setzen, auch mit dem Wissen, dass es nicht unbedingt eine gute Zukunft gibt?

Das ist eine Frage, die meinen Partner und mich sehr belastet und beschäftigt. Wir kennen die Fakten und Daten. Aber wenn ich mich dafür entscheide, deswegen keine Kinder zu haben, ist es für mich wie aufgeben. Es ist als würde ich sagen, dass es keine Möglichkeit gibt, dass wir es schaffen. Wir arbeiten alle dafür, also ich und noch ganz viele weitere Menschen, dass es besser wird und dass auf dieser Welt auch noch gut gelebt werden kann. Aber es ist ein Thema, das ich noch nicht abschliessend beantworten kann.

Zürich nahm am Sonntag, 15. Mai das Klimaschutzziel Netto-Null bis 2040 an. Freust du dich über das ‹Ja› oder macht dich das ‹erst 2040› traurig?

Jeder Schritt in die richtige Richtung ist ein Schritt. Es ist schön zu wissen, dass Zürich ein Ziel hat, das ambitionierter ist als das nationale Ziel. Gleichzeitig muss man sehen, das es leider trotzdem nicht schnell genug ist. Ich will nicht über Jahre streiten. Wir wissen historisch gesehen, dass Transformationen enorm lange brauchen, um anzuspringen, aber wenn das geschieht, kann es dann auch sehr schnell gehen. Das heisst, wenn wir uns ein Ziel setzen und die Finanzen auch plötzlich an den richtigen Ort fliessen und Prozesse umgestellt werden, kann es eben plötzlich sehr schnell gehen.

Macht dir das Hoffnung?
Ja, diese sogenannte ‹Theory of Change› ist einer der grössten Hoffnungsträger. Zu wissen, das eine Entwicklung auch extrem lange dauert, aber dann plötzlich sehr schnell funktioniert. Das konnte man zum Beispiel auch auf dem Markt für vegetarisches und veganes Essen mitverfolgen. Lange ist nichts passiert und seit einiger Zeit kommt gefühlt jede Woche ein neues Produkt auf dem Markt.

Falls wir das Crowdfunding Ziel erreichen, wirst du bei Tsüri.ch eine Kolumne zu Klimathemen schreiben. Worauf dürfen die Leser:innen gespannt sein? 

Ich möchte sicher auch über die Angst schreiben. Über diese Angst vor dem Klimawandel und einer unsicheren Zukunft, die unsere ganze Generation antreibt. Aber gleichzeitig möchte ich auch Hoffnung zeigen, das noch nicht alles verloren ist.

Falls wir unser Crowfunding für den Klima-Watchdog und die Klimastelle schaffen, wird Marie-Claire monatlich eine Kolumne auf Tsüri.ch verfassen. Würdest du diese gerne lesen? Dann spende hier etwas für das Crowdfunding.

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