Kitas am Limit: «Für das Pflegepersonal hat man geklatscht, für uns nicht» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
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Von Rahel Bains

Redaktionsleiterin

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16. Februar 2022 um 22:00

Kitas am Limit: «Für das Pflegepersonal hat man geklatscht, für uns nicht»

Kitas kämpfen derzeit mit Personalengpässen. Auch, aber nicht nur wegen Corona. Die Pandemie hat aufgezeigt, was in der Branche alles falsch läuft. Wir haben eine der ältesten Kitas im Kreis 6 besucht und mit ihrem Leiter über den Grund gesprochen, weshalb viele Betreuer:innen nach der Ausbildung verschwinden.

Markus Marti ist seit mehr als 35 Jahren Leiter der Kita Riedtli. (Bilder: Ladina Cavelti)

Sie thront am Fusse des Zürichbergs. Die Riedtli-Kita, eine der ältesten Kindertagesstätten im Kreis 6, deren Gründer:innen sich an den von der 68er-Bewegung inspirierten Freien Kindergärten der Stadt orientierten. Die vergangenen zwei Jahre Coronakrise gingen auch an ihr nicht spurlos vorbei. «Zu Beginn der Pandemie gingen Kitas im Kanton Zürich einfach vergessen, obwohl sie der Bundesrat für systemrelevant erklärt hatte. Nur schon herauszufinden, wer zuständig ist, war eine Herausforderung», erinnert sich der Leiter der Kita, Markus Marti.

Die Schulen seien seitens Stadt laufend informiert worden, sie nicht – bis Kibesuisse, der Verband Kinderbetreuung Schweiz, das Zepter in die Hand genommen und die nötigen Kontakte geknüpft habe, um als Branchenverband mit dem kantonsärztlichen Dienst und dem MMI (Marie Meierhofer Institut für das Kind) zu informieren, was denn nun im Krippenwesen für Corona-Richtlinien gelten.

«Im Grunde spielt es keine Rolle, aus welchem Grund die Betreuer:innen ausfallen. Es zeigt jedoch einmal mehr, wie nahe am Limit wir stets laufen.»

Markus Marti

Finanziell waren die Kitas zu Beginn des ersten Lockdowns in einer verzwickten Lage: Sie mussten offen bleiben, während den Eltern geraten wurde, ihre Kinder wenn möglich zu Hause zu behalten. «Die Stadt Zürich hat da sofort reagiert und den Kitas das Geld ganz unkompliziert vorgeschossen. So konnten wir den Eltern, die ihre Kinder während des Lockdowns nicht in die Kita gebracht haben, die Beiträge zurückzahlen.» 

Betreuungsschlüssel anpassen?

Markus sitzt im Ess- und Spielzimmer der Gruppe «Dachse». Die hellen Zimmer im Altbaustil bildeten einst zwei 3-Zimmerwohnungen der über hundertjährigen gleichnamigen städtischen Siedlung Riedtli. Wie so viele andere Kita-Leiter:innen hat auch er seit Beginn des neuen Jahres mit Personalengpässen zu kämpfen: Auch, aber nicht nur wegen Corona. «Im Grunde spielt es keine Rolle, weshalb die Betreuer:innen ausfallen. Es zeigt jedoch einmal mehr, wie nahe am Limit wir stets laufen. Dass wir nur für das wirklich notwendige Personal finanzielle Mittel haben. Und dass das Krippenwesen in den Köpfen vieler praktisch nicht existent ist.» 

Der Kern des Problems: Dass man Praktikant:innen sowie Lernende in den Betreuungsschlüssel mit einbeziehen muss. Markus findet, diese müssten nebenher laufen, wie zum Beispiel die Lernenden in den städtischen Horten auch: «Ziel wäre, dass das fixe Betreuungsteam ausschliesslich aus Fachpersonal besteht.» In den vergangenen Monaten musste Markus für Vertretungsstunden so viel ausgeben wie noch nie. Auch deshalb, weil ein Mitarbeiter sein Praktikum abgebrochen hat. Sein ehemaliger Chef zeigt Verständnis: «Jugendliche müssen in Kitas mehr Verantwortungen übernehmen, als ihnen zusteht.»

Die Sache mit den Masken

Um noch mehr Ausfälle zu vermeiden, tragen die Mitarbeitenden der Riedtli-Kita seit der allgemeinen Empfehlung des Bundesrats im Oktober 2020 Masken. Ein umstrittenes Thema: «Es gibt Stimmen, die behaupten, dass maskiertes Betreuungspersonal Langzeitfolgen bei Kindern auslöst. Diese Befürchtungen hatten wir auch. Die Diskussionen im Team und im Vorstand waren lange und intensiv, bis wir uns dafür entschieden haben, sozusagen ‹contre coeur› – weil wir um die Wichtigkeit der Mimik für Kleinkinder wissen – Masken zu tragen. Die Befürchtungen sind bislang nicht eingetroffen, ob das zu einem späteren Zeitpunkt der Fall sein wird, wissen wir leider noch nicht», erzählt Markus. 

Die Räumlichkeiten der Riedtli-Kita waren einst zwei 3-Zimmerwohnungen.

Fakt ist: Seine Schützlinge haben sich schnell an die Masken seiner Mitarbeitenden gewöhnt. «Zudem kennen kleine Kinder, die wir jetzt eingewöhnen, bereits nichts anderes mehr.» Und überhaupt seien die Hauptbezugspersonen der Kinder noch immer deren Eltern, «und die haben zu Hause keine Maske an.» Markus ist überzeugt, dass man trotz Mundschutz einfühlsam sein kann: «Und wenn ein Kind weint, dann nimmt man ihn halt schnell ab.»  

So soll sich die Branche verändern

Die Kita-Kinder spielen an diesem sonnigen Februartag im Innenhof unter der Aufsicht der Betreuer:innen. Als sich ein Kind lautstark bemerkbar macht, steht Markus auf, sondiert durch das Fenster hindurch kurz die Lage auf der Wiese und setzt sich danach wieder an den Tisch. In fünf Jahren wird er pensioniert. Jahrelang war er als Mann in einem sogenannten «Frauenberuf» ein Exot. Das hat sich zum Glück geändert. Bei den «Dachsen» sind die männlichen Betreuer im Moment gar in der Überzahl. 

Alleine auf weiter Flur war früher auch die Riedtli-Kita: «Lange waren im Kreis 6 lediglich die Kita Murmel präsent, die kihz Tagesstätte neben der Uni und wir. Vor ein paar Jahren Jahren schossen dann weitere Kindertagesstätten wie Pilze aus dem Boden. Die Fugu kam, Globegarden, die Bärli und wie sie alle heissen.» Sorgen macht ihm die Konkurrenz nicht: «Viele dieser Kitas bieten ein Bilingual-Konzept an. Damit sind wir mit unserem Elternmitarbeit-Konzept zu einem beliebten Nischenprodukt geworden.»  

«Ich habe das Gefühl, dass es langsam vorwärts geht.»

Markus Marti

Auf die Frage, was er sich für seinen Berufsstand, den er so sehr mag, wünscht, sagt Markus: «Nicht nur der Betreuungsschlüssel muss angepasst werden. Es soll künftig selbstverständlich sein, dass Eltern ihre Kinder fremdbetreuen lassen. Sie sollen sich deswegen kein schlechtes Gewissen machen müssen.» 

Und er wünscht sich Anerkennung: «Für das Pflegepersonal hat man geklatscht, für uns nicht, obwohl wir während der Pandemie ebenfalls sehr viel geleistet haben.» Auch die Löhne sind ein Thema: Eine ausgebildete Fachperson ohne Zusatzausbildung verdient gerade mal etwas mehr als 4200 Franken im Monat. «Zu wenig für einen solch herausfordernden Beruf», ist sich die Branche einig. Markus ist optimistisch: «Ich habe das Gefühl, dass es langsam vorwärts geht auch dank jungen, engagierten Menschen wie zum Beispiel jenen aus der Gruppe «Trotzphase», die für unsere Anliegen auf die Strasse gehen.»  

Auch auf politischer Ebene tut sich was

Dass die Lage in den Zürcher Kindertagesstätten schwierig ist, findet auch die SP Kanton Zürich. Sie forderte den Regierungsrat vor knapp einem Jahr in einer Petition dazu auf, ein Massnahmenpaket zur Rettung der Zürcher Kitas aufzugleisen. Denn das Betreuungspersonal sei stark belastet, die Neu-Anmeldungen seien markant zurückgegangen. Finanziell würden sich viele Organisationen in einer schwierigen Situation befinden – nicht zuletzt aufgrund sinkender Einnahmen durch die geringere Auslastung während der Corona-Pandemie, hiess es damals vonseiten der Partei. 

Auch dort war man sich einig: Die Pandemie ist nicht Ursache des Problems, sondern verstärkt dieses nur zusätzlich. «Die Zürcher Kindertagesstätten sind grundsätzlich unterfinanziert. Den grössten Teil der Kosten tragen die Eltern via Kita-Taxen. Diese sind schon jetzt für viele Familien zu hoch und können deshalb nicht weiter erhöht werden. Reserven zu bilden ist in diesem System nicht möglich. So kommen Kindertagesstätten schnell an ihre finanziellen Grenzen», liess etwa SP-Kantonsrätin Monika Wicki verlauten.

Fachkräfte, die nach der Ausbildung verschwinden

An ihrem Parteitag lancierten die Sozialdemokraten vor wenigen Tagen zudem die Initiative «Für eine gute und bezahlbare familienergänzende Kinderbetreuung für alle». Diese will sicherstellen, dass die familienergänzende Kinderbetreuung für alle Familien in der Schweiz zugänglich und bezahlbar ist. Zusätzlich soll sie die Arbeitsbedingungen der Betreuungsfachpersonen verbessern.

Eine, die schon lange dafür kämpft, ist Camilla Carboni, welche die «Trotzphase» mit Berufskolleg:innen und der Unterstützung der Gewerkschaft Vpod gegründet hat. Sie freut sich, dass das Thema Kinderbetreuung durch die Pandemie mehr Sichtbarkeit erhalten hat. «Es zeigte sich, dass wir systemrelevant sind. Sehr sogar.» Wichtig sei auch, dass die Kinderbetreuer:innen selbst gemerkt haben, wie wertvoll ihre Arbeit ist.

Nach ihrem Lehrabschluss verdiente Camilla als Fachperson Betreuung ein bisschen mehr als 4000 Franken und das, obwohl sie eine Gruppe geleitet und eine Lernende ausgebildet hat. Deshalb, und aufgrund der grossen physischen und psychischen Belastung, die der Job mit sich gebracht hat, hat sie vor kurzem ein Psychologiestudium absolviert. 

Qualifiziertes Personal, das nach der Ausbildung verschwindet. Das kennt auch Markus: «Viele absolvieren in Kitas ihre Lehre, sind danach aber ganz schnell weg. Sie wechseln in Schulhorte, weil sie dort mehr verdienen oder in die Sozialarbeit, die bessere Aufstiegsmöglichkeiten bietet. Für ihn ist klar: «Mit besseren Arbeitsbedingungen könnten wir dieser Entwicklung Einhalt gebieten.»   

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