Kolumne: «Die Hauptsache ist nicht, dass wir alle gesund sind» - Tsüri.ch #MirSindTsüri
account iconsearch
Von Jessica Sigerist

Gründerin untamed.love

emailwebsite

17. Dezember 2022 um 06:00

«Die meisten der ‹Hauptsache gesund›-Fraktion meinen ‹Hauptsache nicht behindert›»

Wenn ein Kind auf die Welt kommt, ist es das Wichtigste, dass es gesund ist. Das irritiert unsere Kolumnistin Jessica Sigerist. «Und was, wenn nicht?», fragt sie sich.

Illustration: Artemisia Astolfi

Als ich schwanger war, hat sich ein Dialog auf die genau gleiche Art mehrmals abgespielt. Eine Person – mal war es eine flüchtige Bekannte, mal ein Fremder im Bus – sprach mich an, mit den Worten: «Na, wird es ein Mädchen oder ein Junge?» Worauf ich jeweils antwortete, dass ich das nicht wisse. Und darauf war die Antwort jedes Mal: «Ist ja auch egal, Hauptsache gesund!» Hauptsache gesund. Irgendwie hat diese Aussage bei mir jedes Mal ein flaues Gefühl hinterlassen, das ich zuerst nicht einordnen konnte. Ich habe mich meistens dafür entschieden, höflich zu lächeln und zu nicken, «Hauptsache gesund, jaja.» Aber es hat sich nie gut angefühlt. Es hat sich jedes Mal ein bisschen mehr wie ein Verrat gegenüber dem wachsenden Baby in meinem Bauch angefühlt.

«Ich weiss auch das nicht», wäre die ehrliche Antwort gewesen. Denn ich habe weder Untersuchungen machen lassen, um etwas über die Genitalien meines Kindes zu erfahren, noch pränatale Diagnostik durchführen lassen. Ganz abgesehen davon, dass auch alle Tests der Welt keine hundertprozentige Gewissheit bieten: Ich wusste schlichtweg nicht, ob mein Kind gesund zur Welt kommen wird. Und genauso, wie es für mich keine Rolle spielt, ob mein Kind Mädchen, Junge oder nicht-binär wird, genauso möchte ich, dass es keine Rolle spielt, ob mein Kind gesund ist. «Und was, wenn nicht?», würde ich heute gerne fragen. «Was soll ich dann deiner Meinung nach tun? Die Schwangerschaft abbrechen? Das Kind weniger lieben? Sagen, tja, blöd gelaufen, jetzt hat es halt ein Kack-Leben?» Aber ich nickte und lächelte und sagte: «Jaja, Hauptsache gesund.»

«Die Hauptsache ist nicht, dass wir alle gesund sind. Die Hauptsache ist, dass wir uns umeinander kümmern.»

Jessica Sigerist, Kolumnistin und Gründerin des queerfeministischen Sexshops untamed.love

Mit der Zeit habe ich zwar immer noch genickt und gelächelt, aber auch angefangen, dem Baby ein paar Worte hinterher zu schicken. «Keine Sorge», flüsterte ich in den Bauch hinunter, «du musst nicht gesund sein. Du schuldest mir keine Gesundheit. Ich hab dich lieb.» Aber gesagt habe ich immer noch nichts. «Was meinst du denn mit gesund?», würde ich gerne fragen. Wenn mein Kind mit einer sichtbaren Behinderung zur Welt käme, würde es wohl als «nicht gesund» gelten. Aber was ist mit unsichtbaren Krankheiten und Behinderungen: Dinge, die sich erst später im Leben zeigen oder psychische Erkrankungen? Mein Baby kann quietschfidel zur Welt kommen und trotzdem später im Leben an einer Depression erkranken. «Gesund sein» ist allgemein eine ziemlich relative Sache. Und es ist definitiv kein Dauerzustand. 

Was also meinst du genau, wenn du mir wünschst, dass mein Kind gesund sein soll? Das Gegenteil von gesund ist nicht behindert, sondern krank. Und das Gegenteil von behindert ist nicht-behindert. Doch die meisten Menschen der «Hauptsache gesund»-Fraktion meinen damit eigentlich «Hauptsache nicht behindert». 

«Das ist ableistisch», würde ich gerne sagen. Aber ich habe Angst, dass ich übertreibe. Dass die Leute mich nicht verstehen und sich angegriffen fühlen. Dass sie denken, ich würde nicht das Beste für mein Kind wollen. Natürlich möchte ich, dass mein Kind immer gesund ist und immer glücklich, dass sein Leben immer leicht und schön ist. Das möchte ich eigentlich für alle Kinder. Bloss habe ich das Gefühl, dass das nicht wahnsinnig realistisch ist. Ich wünsche mir nicht, dass alle Babys gesund zur Welt kommen, weil das schlichtweg nie so sein wird.

Da gibt es doch viel Sinnvolleres, was man sich wünschen könnte. Zum Beispiel, dass alle Menschen ein lebenswertes Leben leben können. Egal, ob gesund oder krank,behindert oder nicht-behindert. Ich wünsche mir zum Beispiel Rampen und Untertitel und leichte Sprache. Ich wünsche mir eine gesicherte Invalidenversicherung und Unterstützung für pflegende Eltern. Ich wünsche mir mehr Repräsentation von behinderten Menschen in der Popkultur und ich wünsche mir Zugänglichkeits-Hinweise auf Webseiten von Veranstaltungsorten. Ich wünsche mir gleiche Rechte und dass wir Betroffenen zuhören. Die Hauptsache ist nicht, dass wir alle gesund sind. Die Hauptsache ist, dass wir uns umeinander kümmern. Vielleicht werde ich das das nächste Mal sagen. 

Jessica Sigerist

Kolumnistin Jessica Sigerist ist Zürich geboren und aufgewachsen. Sie wusste schon früh, woher die Babys kommen. In ihrer Jugend sammelte sie schöne Notizbücher, alte Kinokarten und Zungenküsse. Sie studierte Ethnologie (halbmotiviert) und das Nachtleben Zürichs (intensiv). Nach vielen Jahren in der Sozialen Arbeit hatte sie die Nase voll, nicht vom Sozialen, aber von der Arbeit. Sie packte wenig Dinge und viel Liebe in einen alten Fiat Panda und reiste kreuz und quer durch die Welt. Sie ritt auf einem Yak über das Pamirgebirge, überquerte das kaspische Meer in einem Kargoschiff und blieb im Dschungel von Sierra Leone im Schlamm stecken.

Auf ihren Reisen von Zürich nach Vladivostock, von Tokio nach Isla de Mujeres, von Tanger nach Kapstadt lernte sie, dass alle Menschen eigentlich dasselbe wollen und dass die Welt den Mutigen gehört. Wieder zurück beschloss sie, selbst mutig zu sein und gründete den ersten queer-feministischen Sexshop der Schweiz. Seither beglückt sie Menschen mit Sex Toys und macht lustige Internetvideos zu Analsex, Gleitmittel und Masturbation. Jessica liebt genderneutrale Sex Toys, Sonne auf nackter Haut und die Verbindung von Politik und Sexualität. Sie ist queer und glaubt, dass Liebe grösser wird, wenn man sie teilt. Mit ihrem Partner und ihrem Kind lebt sie in Zürich.

Das könnte dich auch interessieren